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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Primula saß in ihrem Studierzimmer an einem mit neuen Büchern, Journalen und Papieren bedeckten Tische. Nach dem Empfangszimmer, das gleichfalls erleuchtet war, stand die Tür offen. Sie hatte soeben ein längeres Gedicht beendigt, das noch heute Abend an die Redaktion eines belletristischen Journals geschickt werden mußte, in dessen Briefkasten schon dreimal, unter der Chiffre »P. V. in S.« die Notiz gestanden hatte: Hochverehrte Frau! Wir harren sehnlichst auf das versprochene Manuskript. – Da lag es nun, das versprochene Manuskript! Eben war das letzte Pünktchen über das letzte i gemacht, und schon sollte es hinaus in die weite, liebeleere Welt, bevor noch er, der sie zu all diesen glühenden Strophen begeisterte, eine Zeile davon gehört hatte. – Wenn er nur so früh käme, daß sie ihm wenigstens doch ein paar Verse vorlesen könnte, ehe die junge Frau von Cloten anlangte, in deren Beisein es natürlich nicht möglich war!

Da, horch! war das nicht die Klingel an der Haustür? Die Haustür wird geöffnet – eine weiche Männerstimme – er ist's! Er ist's! Dank, ihr gütigen Götter!

Primula warf einen schnellen Blick in den Spiegel, der über ihrem Arbeitstische hing, und strich sich die blonden Locken aus dem blassen Gesicht, ergriff eine Feder und fing an (ohne Tinte darin zu haben) mit nervöser Heftigkeit auf einem weißen Blatt Papier zu kritzeln.

»Störe ich, verehrte Frau?« fragte bald darauf die weiche Stimme neben ihr.

»Ah, mein Gott!« rief die Dichterin, die Feder aus der Hand werfend. »Sie sind's, Oswald! Hatte ich Sie doch gar nicht kommen hören!«

»Sie waren so freundlich, verehrte Frau, mich in dem reizendsten Briefchen, das ich je gelesen –«

»Sie Schmeichler! Wenn Sie die einfachen Verse von heute morgen so loben, was werden Sie dann zu diesen sagen, die ich heute abend, das Herz voll von Ihnen, mit glühender Stirn und pochendem Herzen geschrieben habe. Ich muß Ihnen wenigstens den Anfang vorlesen. Sie kommt vielleicht so bald noch nicht, vielleicht gar nicht. Bitte, bitte, nehmen Sie Platz. In einer halben Stunde muß es auf die Post. Hören Sie! Was sagen Sie zu diesen originellen Versen, die mich eines Freiligrath nicht unwürdig dünken. Die Überschrift lautet: Der Löwe am Kap. Muß ich Ihnen sagen, wer der Löwe ist?

Wenn die glühe Sonnenscheibe sank dem Hottentottenkrale,
Wenn die Nacht herniedertauet, die gespenstisch blasse, fahle,
Wenn am Horizontessaume sich erhebt des Mondes Schale,
Dann an der Lagune Rande brüllt es laut mit einem Male.

Der einmal entfesselte kastalische Quell war nicht mehr zu hemmen. Oswald mußte sich in sein Schicksal ergeben. Plötzlich ertönte die Hausglocke. Der Ton schien für die Dichterin nur ein Signal zu sein, mit doppelter und dreifacher Geschwindigkeit zu lesen, wobei sie ihrem Hörer, gleichsam um ihn am Entfliehen zu hindern, die Hand auf den Arm legte. Noch fehlten vielleicht nur noch dreißig Strophen, da rauschte in dem Nebenzimmer ein seidenes Gewand, und in der offenen Tür, die nach dem Empfangszimmer führte, stand plötzlich die graziöse Gestalt Emilie von Clotens.

»Ich störe doch nicht, liebe Frau?« fragte die junge Dame, mit einem halb scheuen, halb kecken Blick auf Oswald, »sonst gehe ich sogleich wieder.«

»O nein, nein«, erwiderte Primula in einem wehmütigen Ton, das Manuskript auf den Tisch legend und sich erhebend, »durchaus nicht! Ich las nur eben meinem jungen Freunde Stein ein paar Verse aus einem Gedicht – o Gott, es ist bereits halb acht, das Paket muß vor acht auf der Post sein. Liebe Frau von Cloten, bester Stein, entschuldigen Sie mich für den hundertsten Teil eines Augenblicks. Verweilen sie solange in dem Salon; sobald ich das Paket expediert habe, bin ich bei Ihnen.«

Damit schob die aufgeregte Dichterin ihre Gäste ohne viele Umstände in das Nebenzimmer, indem sie dabei Oswald zuflüsterte: »Jammer, nur von einer Dichterseele zu fassen! Die letzten Verse sind gerade die schönsten!«

Sie ließ die Portiere fallen, sei es, um ungestört zu sein, sei es, um nicht zu stören; und Oswald und Emilie standen einander gegenüber, Oswald sprachlos vor Erstaunen über die so seltsame und unerwartete Auflösung des Rätsels, und Emilie ebenfalls trotz ihrer Gewandtheit und Keckheit für einen Moment ratlos; aber schon im nächsten hob sie die gesenkten Wimpern, lachte Oswald schelmisch aus ihren großen grauen Augen an und sagte rasch und im Flüsterton:

»Sie glaubten doch nicht, daß es ein Zufall ist, der uns hier zusammenführt?«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, antwortete Oswald, unwillkürlich denselben raschen und heimlichen Ton anschlagend.

»So hat Ihnen Frau Jäger noch nichts mitgeteilt?«

»Was?«

»Ich habe ihr weisgemacht, ich hätte den Auftrag, Sie zu fragen, ob Sie in einer mir befreundeten Familie eine Stelle annehmen wollten. Natürlich ist kein Wort davon wahr. Mich führt nichts hierher, als –«

Ein Blick der glänzenden Augen und ein Zucken des reizenden Mundes füllten die Pause, die die junge Dame in ihrer Rede machte, aus. Oswald vermochte noch immer nicht, sich in die eigentümliche Situation zu finden. Er hatte Helene erwartet, er fand Emilie – Emilie, deren lieblich kokette Erscheinung ihn so wunderbar an einige der reizendsten und zugleich peinlichsten Szenen in dem wirren Drama seines Lebens mahnte, Emilie, der gegenüber er sich von vornherein zu einer entsagungsvollen Rolle verurteilt hatte, aus der der Übergang in die eines Liebhabers nicht eben leicht war. Von den verschiedensten Empfindungen auf einmal bestürmt, suchte er vergeblich nach Worten.

»Weshalb sind Sie nicht zu uns gekommen, wie Sie neulich versprochen?« fuhr Emilie, durch Oswalds Schweigen einigermaßen entmutigt, in dem Tone eines verzogenen Kindes fort, dem ein hübsches Spielzeug vorenthalten wird und das deshalb große Lust hat, in Tränen auszubrechen, »ist es recht, die Bitte – die unschuldige Bitte einer Dame nicht zu erfüllen, und sie dadurch zu einem Schritt zu zwingen, den sie kaum vor sich selbst, geschweige denn vor dem Urteil der Welt verantworten kann?«

Oswald trat unwillkürlich einen Schritt zurück und erwiderte in halb ernstem, halb spöttischem Ton: »Es scheint, gnädige Frau, daß es mein Schicksal ist, Ihnen stets durch meinen plebejischen Mangel an ritterlicher Galanterie beschwerlich zu fallen.«

Emiliens liebreizendes Gesicht, das bis dahin im rosigsten Lächeln gestrahlt hatte, wurde leichenblaß. Ihre großen Augen wurden noch größer und starr wie die Augen jemandes, der einen heftigen physischen oder psychischen Schmerz zu erdulden hat; um ihre bleichen Lippen zuckte es krampfhaft, als ob sie etwas sagen wolle und doch nicht die Kraft dazu finden könne. Ihre Glieder zitterten, sie griff nach der Lehne eines Stuhls, der in ihrer Nähe stand.

So tief hatte der Pfeil nicht verwunden sollen. Oswald schämte sich seiner Grausamkeit, um so mehr, als es ihm mit der katonischen Strenge, die er herausgekehrt hatte, so gar ernst nicht war. Er trat lebhaft auf Emilie zu; er ergriff ihre Hand, die er festhielt, obgleich sie schwache Anstrengungen machte, sie ihm wieder zu entziehen; er beschwor sie in leidenschaftlichen Worten, ihm zu verzeihen: er bereue, was er gesagt habe; – sein Herz sei krank, sein Kopf verwirrt, sein Mund spreche oft, wovon sein Kopf und sein Herz nichts wüßten. – Sie solle ihm Gelegenheit geben, zu sich selbst zu kommen, sich vor sich selbst und vor ihr zu rechtfertigen.

Emiliens Schmerz schien durch diese Worte und vielleicht mehr noch durch den innigen Ton, in dem sie gesprochen wurden, einigermaßen gelindert zu werden. Sie hatte sich auf den Stuhl gesetzt, auf dessen Lehne ihre kleine Hand vorher gezittert hatte; ihre Tränen begannen reichlich zu fließen, sie duldete es, daß Oswald, der sich über sie beugte, die Hand mit Küssen bedeckte, während er nur noch in leisen Worten, die mit jedem Augenblick leidenschaftlicher und zärtlicher wurden, ihre Verzeihung für seinen Wahnsinn – wie er es nannte – erflehte. Ihr Weinen wurde sanfter, wie eines kleinen Kindes Weinen, dem die Puppe, die ihm verweigert wurde, nun endlich doch unter Küssen und Liebkosungen in die Arme gelegt wird. Beide, Oswald sowohl wie Emilie, schienen ganz vergessen zu haben, daß sie sich in einem fremden Hause befanden, wo jeder nächste Augenblick ihnen eine beschämende Verlegenheit bereiten konnte, und sie durften von Glück sagen, daß ein ebenso unerwarteter wie lächerlicher Zufall ihnen die Besinnung wiedergab, die sie in der berauschenden Süßigkeit des ersten Neigens von Herzen zu Herzen verloren hatten.

Plötzlich ertönte nämlich aus dem inneren Gemach ein so gellender Schrei, daß die beiden entsetzt in die Höhe fuhren und von dem einen Gedanken getrieben, die Dichterin stehe von oben bis unten in hellen Flammen, in ihr Zimmer stürzten. Der erste Blick, als sie die Portiere auseinanderschlugen, belehrte sie nun freilich, daß Primula nicht in Lebensgefahr sei, und als sie nähereilten, sahen sie denn auch, was geschehen war. Primula hatte, verloren in Bewunderung einer ganz besonders gelungenen Strophe, der sie noch im letzten Augenblick durch eine glückliche Verbesserung einen unbeschreiblich pathetischen Charakter gegeben, statt der Sandbüchse das Tintenfaß ergriffen und seinen reichlichen Inhalt bis auf den letzten Tropfen über ihr Manuskript und von dort in einem schwarzen Sturzbach auf den Schoß ihres gelbseidenen Kleides geschüttet. Und da stand sie nun, die vom grausamsten Zufall verhöhnte Dulderin – stumm, nachdem der erste wilde Schrecken ihr den gellenden Schrei ausgepreßt hatte, die mit Tinte arg besudelten Hände und die wasserblauen tränenden Augen zur Zimmerdecke erhoben, als wollte sie den Vater Apollo selbst zum Zeugen anrufen des grauenhaften Schicksals, das eines seiner begabtesten Kinder getroffen. Oswald und Emilie hatten Mühe, ihr Lachen über diesen Anblick zurückzuhalten; aber alle Anstrengung, ernst zu bleiben, war vergeblich, als jetzt die Dichterin in tragischem Schmerz ihr Antlitz in beide Hände druckte und einen Augenblick nachher, wie der wildesten Zone wildeste Krieger, mit schauerlichen Flecken betupft, vor ihnen stand.

»Lacht nicht, meine Freunde«, sagte die beleidigte Dame mit sanfter Stimme, »es ziemt den Freunden des verfolgten Genius nicht, zu jener argen Welt zu gehören, die es liebt, das Strahlende zu schwärzen –«

Die zum Weinen wie zur ausgelassensten Lustigkeit allezeit gleich bereite Emilie konnte hier nicht länger widerstehen. Sie warf sich in einen Lehnstuhl und lachte, daß ihr die Tränen in die Augen kamen.

»Frau von Cloten«, sagte Primula mit Würde, »ich muß Ihnen sagen, daß Ihr Benehmen für ein zartbesaitetes Gemüt wie das meinige etwas tief Verletzendes hat«; dann sich zu Oswald wendend, mit dem Tone des sterbenden Cäsar: »Oswald, das habe ich nicht um Sie verdient!« und sie wandte sich zu gehen.

»Liebste, beste Frau!« rief Emilie aufspringend und ihr in den Weg tretend. »Ich bitte tausend-, tausendmal um Verzeihung, aber sehen Sie selbst, ob es menschenmöglich ist, dabei ernst zu bleiben.«

Und sie drängte Primula mit sanfter Gewalt an den Trumeau, vor dem sich sonst die Dichterin an ihrem eigenen musenhaften Anblick zu begeistern pflegte. Jetzt aber war Hineinschauen, einen Schrei ausstoßen, wie wenn sie das Haupt der Gorgo erblickt hätte, und dann ohne weitere Vorbereitung Oswald, der glücklicherweise dicht hinter ihr stand, ohnmächtig in die Arme fallen, das Werk eines Augenblicks.

»Bitte, klingeln Sie nach dem Mädchen«, sagte Oswald, indem er die Ohnmächtige nach dem Sofa trug.

Auf Emiliens Sturmläuten erschien denn auch alsbald Primulas Zofe; aber schon hatte die Dichterin sich soweit erholt, daß sie die Augen halb aufgeschlagen und mit matter Stimme zu Oswald und Emilie sagen konnte: »Ich danke euch, meine Freunde! Ihr hattet ein Recht zu lachen: du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas. Aber jetzt verlaßt mich, verlaßt eine, Unglückliche, die das Leid, was sie betroffen, still in sich verwinden muß! Kein Wort, o kein Wort! Verlaßt mich!«

Einem so bestimmt ausgesprochenen Wunsch mußte Folge geleistet werden. Fünf Minuten später standen Emilie und Oswald, denen der schläfrige Lebrecht die Treppe hinuntergeleuchtet hatte, auf der Straße.

»Mais, mon Dieu!« sagte Emilie. »Ich habe gar nicht daran gedacht, daß ich meinen Wagen erst eine halbe Stunde später bestellt habe.«

»So wird Ihnen wohl nichts übrigbleiben, als meine Begleitung anzunehmen und zu Fuß zurückzukehren.«

Emilie legte ihren Arm in den Oswalds; und so gingen sie ein paar Augenblicke schweigend nebeneinander.

Es war ein sehr dunkler, stiller Abend. Die Herbststürme hatten die Bäume kahlgefegt und ruhten jetzt von ihrer wochenlangen Arbeit. Der Winter stand vor der Tür, aber zögerte noch ein Weilchen, ehe er mit seiner starren Faust daran klopfte. Auf den Straßen war es äußerst finster. Emilie schmiegte sich eng an ihren Begleiter, der des Weges durchaus kundig schien.

»Wissen Sie unsere Wohnung?« fragte sie.

»In der Süder-Vorstadt, meine ich?« – Es war dies dieselbe, in welcher auch die Pensionsanstalt des Fräulein Bär lag.

»Ja. Es ist ein weiter Weg.«

»Desto besser.« Ein sanfter Druck des runden Armes belohnte Oswald für diese Galanterie.

Sie waren, ohne weiterzusprechen, in ziemlich raschem Gange bis ans Tor gekommen. Sobald sie außerhalb der Stadt waren, fingen sie wie auf Verabredung an, langsamer zu gehen. Oswald fühlte, daß das junge Weib hier an seinem Arme in seiner Gewalt sei, daß es in seiner Macht stehe, sie – nach ihrem Sinne wenigstens – glücklich zu machen. Die tugendhafte Wallung von vorhin, bei der der Stolz, der sich nicht wegwerfen will, bedeutend mitgespielt hatte, war längst verflogen. Die koketten Reize Emiliens, deren Macht er in der Fensternische von Barnewitz schon hinreichend empfunden, hatten ihre unausbleibliche Wirkung nicht verfehlt; und wenn er in diesem Augenblicke auch an die glänzendere Schönheit Helenens und an das dachte, was er seine wahre Liebe nannte, so diente dies nur dazu, ihm die Süßigkeit einer verstohlenen und gewissermaßen verbotenen Leidenschaft desto berauschender zu machen.

»Zürnen Sie – zürnst du mir noch, Emilie?« sagte er mit dem einschmeichelndsten Ton seiner weichen tiefen Stimme.

»Ich dir zürnen!« erwiderte Emilie, und sie schmiegte sich noch enger und inniger an ihren Begleiter. »Kann man da zürnen, wo man nichts möchte, als nur immer lieben, unsäglich lieben und –«

»Und was, du Holde –«

»Vielleicht auch ein wenig wiedergeliebt werden.«

Das klang so kindlich, treu und gut, daß Oswald nicht begreifen konnte, wie er jemals die Liebe dieses liebenswürdigen Geschöpfes habe von sich weisen können.

»Und doch«, sagte er, »hast du mir einst gezürnt und hattest, weiß es der Himmel, der mit seinen goldenen Sternen auf uns herniederblickte, auch Ursache dazu. Wie soll ich dir vergelten, du Großmütige, was ich – oh, ich darf gar nicht an jenen Abend auf dem Balle in Grenwitz denken.«

»Wirklich?« erwiderte Emilie heiter. »Oh, dann ist alles wieder gut, dann will ich nichts beklagen von allem, was seitdem geschehen ist.«

»Von allem, was geschehen ist? Was ist geschehen?«

»Wie du fragst! Bin ich nicht Frau von Cloten? Und weshalb bin ich es? Doch nur, weil du meine Liebe verschmähtest. Oh, Oswald, ich kann dir nicht sagen, wie es in mir tobte, als ich dich an jenem Abend verlassen hatte. Mein Herz wollte brechen; ich hätte laut aufschreien können, ich hätte mich an die Erde werfen und mich totweinen können. Und doch schickte ich Cloten zu meiner Tante; um bei ihr um mich anzuhalten. Wie ich das konnte? Du kennst uns Frauen nicht, wenn du danach fragst. Cloten oder ein anderer, es war mir alles gleich in diesem Augenblick. Ich hatte nur den einzigen Gedanken, mich an dir zu rächen, indem ich mich so tief unglücklich machte als nur möglich; damit du mein Unglück auf dem Gewissen hättest, damit ich einst zu dir sagen könnte: Du hast es ja nicht anders gewollt.«

»Dies Einst ist früher gekommen, als du wohl selbst gedacht hast; ich wollte freudig Jahre meines Lebens geben, ja auf der Stelle wollte ich sterben, könnte ich dich dadurch wieder so frei machen, wie du warst, als wir uns zum erstenmal in Barnewitz sahen.«

»Was hätte ich von meiner Freiheit, wenn ich dich verlieren müßte?« erwiderte Emilie zärtlich und neckisch. »Nein, nein, Oswald, zehntausendmal lieber so, wie es jetzt ist. Wenn du mich ein wenig liebhaben willst –«

»Kannst du daran zweifeln?«

»Vielleicht; aber gleichviel, ein wenig nur, und ich bin zufrieden: mag ich dann immerhin Frau von Cloten heißen; magst du dann immerhin eine andere lieben –«

»Eine andere?«

»Ja, mein Herr, eine andere, die allerdings sehr schön, aber auch ebenso stolz wie schön ist, und die, das können Sie versichert sein, ihrem Stolz unbedenklich ihre Liebe opfern würde, wenn sie, woran ich übrigens zweifle, wirklich lieben kann. Oh, Oswald, ich wollte, du hättest sie gestern abend gesehen! Ich weiß, die Leute schelten mich kokett, und ich mag's auch wohl sein, wenn's darauf ankommt, einen Narren am Seil zu führen; aber dann tu' ich's lustig und nicht mit keuschem Augenniederschlagen wie Helene. Ich kann dir sagen, daß ich mich gestern für dich geschämt habe. Ich dachte, der arme Mensch verschmachtet vor Liebe, während die Dame seines Herzens sich hier nach Herzenslust die Kur machen läßt, und von wem? Von dem Ausbund aller dünkelhaften Aufgeblasenheit, die je in einem bunten Rock steckte; von dem König aller Ballhelden in Lackstiefeln und tadellosen Glacés; von dem Musterbild unsrer jungen Laffen, die ihm vergebens seine Kopfhaltung nachzuäffen und sein Non, Ma'am, oui, Ma'moiselle! nachzuschnarren suchen.«

»Und wer ist dieser Held?« fragte Oswald mit einem Lachen, das nicht ganz natürlich klang.

»Ein russisch-preußischer Fürst Waldernberg – Waldernberg-Malikowsky-Letbus –«

»Ist es nicht ein schwarzer Mann, so lang, wie sein Name, mit einem Gesicht, wie ein melancholischer Bulldog?«

»Ganz derselbe. Schön ist er nicht; witzig ebensowenig, wahrscheinlich auch nicht einmal gut – aber, was tut's? Bei der Aussicht, Fürstin von Waldernberg-Malikowsky-Letbus zu werden, und über einige hunderttausend Seelen zu kommandieren, kann man über die Seelenlosigkeit seines Gemahls schon gnädiglichst den Schleier der dunklen seidenweichen Wimpern fallen lassen.«

Während Emilie so den Dämon der Eifersucht zu ihrer Hilfe rief, waren sie in die unmittelbare Nähe von Fräulein Bärs Haus, an dem ihr Weg vorüberführte, gekommen. Emilie schwieg und zuckte zusammen, denn aus dem Schatten der Pappeln vor der Gartenpforte löste sich plötzlich eine riesige, in einen langen Mantel gehüllte Gestalt ab, die dort gestanden haben mußte, und kam langsam an ihnen vorüber.

»Quand on parle du loup« – flüsterte Emilie, als sie einige Schritte weitergegangen waren, »wenn es weniger dunkel wäre, so würde das ein interessantes Renkontre gewesen sein.«

Die Begegnung des Fürsten zu dieser Stunde, an diesem Orte war eine Bestätigung von Emiliens Worten, die nicht stärker sein konnte. Der Tropfen Eifersucht, der eben in sein Herz getröpfelt war, setzte sein Blut in Flammen und brachte ihn mit jäher Schnelligkeit in jene verzweifelte Stimmung, in der Emilie an jenem Abend in Grenwitz war, als sie, von Oswald zurückgewiesen, Zorn gegen ihn und Eifersucht gegen Helene im Herzen, hinging und Clotens Braut wurde. Nur war der Unterschied, daß Emilie den Mann, in dessen Arme sie sich stürzte, nie geliebt, und auf Oswalds Herz die reizende Frau, die jetzt so verführerisch fest an seinem Arme hing, vom ersten Augenblick an einen tiefen Eindruck gemacht hatte.

»Wir sind an Ort und Stelle«, sagte Emilie, als sie bald darauf an einer auf derselben Seite der Straße gelegenen Villa anlangten. Zwischen der Villa und dem Nachbarhause führte ein Weg, den Oswald kannte, direkt in den Park. Er lenkte in diesen Weg ein; Emilie zauderte für einen Moment.

»Fürchtest du dich?« flüsterte er.

»Mit dir!« erwiderte sie noch leiser.

Aber ihr Mut konnte doch so groß nicht sein, denn während sie die Strecke zwischen den beiden Häusern und dann den abschüssigen Pfad, der zuletzt über eine kurze gewölbte Holzbrücke in den Park führte, hinabgingen, schlug ihr das Herz zum Zerspringen, und als sie nun unter die hohen Bäume traten, durch deren entblätterte Zweige der Nachtwind in dumpfen Tönen rauschte, blieb sie stehen und sagte:

»Es ist recht dunkel hier.«

»So fürchtest du dich doch, du Liebe?« erwiderte Oswald, sein Gesicht so tief herabbeugend, daß sie seinen Atem auf ihrer Wange fühlte.

»An deiner Seite nicht, und ginge es in den Tod.«

Sie hing an seinem Hals; die Lippen, die sich heute nicht zum ersten Male berührten, vermählten sich in einem langen, glühenden Kuß.

Sie wandelten in der Allee auf und ab. Was galt es ihnen, daß sie kaum die Stämme der Bäume wenige Fuß von ihnen erkennen konnten, daß der kalte Hauch des Meeres sie anwehte – je dunkler es war, desto weiter war ihnen die Welt entrückt, die von ihrer Liebe nichts wissen durfte; je kälter es war, desto öfter konnte er ihr den seidenen Schal dichter um den schlanken Leib hüllen, desto inniger konnte sie sich an seine Brust, in seine Arme schmiegen. Die ganze Glut der Leidenschaft, die in ihrem heißen Herzen brannte, loderte auf in wilden Feuergarben. Sie küßte des Geliebten Hände, sie küßte seinen Mund, sie lachte, sie weinte, sie war außer sich: »Oh, nimm mich mit dir, Oswald! Wohin du willst, ans Ende der Welt, wo uns niemand kennt, uns niemand unsere Liebe neidet. Ich frage nicht nach Rang und Reichtum. Ich habe nicht zu arbeiten gelernt; aber für dich wird mir nichts zu schwer sein. – Du lachst, du glaubst mir nicht. Oh, stelle mich auf die Probe! Nimm mich zu deinem Weib, mach mich zu deiner Sklavin, mir gilt es gleich, wenn ich nur bei dir sein kann! – Und, Oswald, wenn du mich nicht mehr liebst, dann sag es mir gerade heraus; oder nein, sag es mir lieber nicht! Nimm, ohne ein Wort zu sprechen, einen Dolch und stoße ihn mir ins Herz, und dann, wenn's ja doch vorbei ist, laß mir aus Barmherzigkeit die Wollust, meine Seele in einem Kuß auf deinen Lippen auszuhauchen.«

So sprach unter Küssen und Kosen das leidenschaftliche Weib, bald klagend, bald jubelnd, bald in abgebrochenen, stammelnden Lauten, bald in stürmischen fliegenden Worten – einem jungen Vögelchen gleich, das alles, was seine klopfende Brust erfüllt, auf einmal herausschmettern und flöten möchte und es doch nur bis zum Zwitschern und hier und da zu einem hellen Ton bringt.

Sie konnte es nicht begreifen, daß Oswald sich weigerte, ihr morgen vor aller Welt einen Besuch zu machen und fortan die Gesellschaften, die sich in ihrem Hause versammelten, zu besuchen. Sie malte sich ein solches Verhältnis mit den reizendsten Farben aus. »Cloten ist oft halbe Tage lang außer dem Hause. Wenn du erst einmal bei uns eingeführt bist, so können wir die herrlichsten Stunden ungestört miteinander verleben.«

»Nimmermehr.«

»Wie, nimmermehr? Möchtest du das nicht?«

»Wohl möchte ich es; aber die Frage ist, ob ich es kann? Wie kann ich aber in deine Gesellschaft zurückkehren, aus der ich so, wie ich es getan, geschieden bin? Es ist von je mein Grundsatz gewesen, nie wieder den Fuß über die Schwelle eines Hauses zu setzen, in dem man mich einmal, gleichviel, ob wissentlich oder unwissentlich, beleidigte. Denn was einmal geschah, kann und wird öfter geschehen, und wenn es nicht geschieht – das Vertrauen und die Harmlosigkeit des Verkehrs sind doch fort, und die kommen, wie die Unschuld, nimmer wieder.«

»Aber was gehen dich denn die andern Menschen an? Wen ich nicht sehen und beachten will, den sehe und beachte ich eben nicht.«

»Das kannst du, aber siehst du denn nicht, daß das in meinem Falle ganz unmöglich ist? Oder glaubst du, daß Herr von Barnewitz, der junge Grieben, und wer noch zu der Sippe gehört, mich unbeachtet lassen würden?«

»Sie sollen nicht zu uns kommen, kein einziger soll zu uns kommen. Ich will niemand empfangen, und wen ich empfange, so empfangen, daß ihm die Lust wiederzukommen vergeht.«

»Aber Emilie, Kind, das alles sind ja bunte Seifenblasen, die vor dem ersten Hauch der Wirklichkeit zerplatzen. Und wenn du dich wirklich mir zuliebe mit deiner Gesellschaft in einen Kampf einlassen wolltest, in dem du nebenbei immer den kürzeren ziehen müßtest, wird dein Mann mir, den er gewiß nicht liebt, zu lieben auch gar keine Ursache hat, dasselbe Opfer bringen?«

»Arthur tut, was ich will; ich kann von Arthur alles verlangen.«

»Und wäre er ein solcher Tor«, sagte Oswald heftig, »ich will in diesem Blindekuhspiel nicht mitspielen. Wenn dein Mann dich wirklich liebt, um so schlimmer für dich und mich und für ihn. Ich weiß, daß ihr Frauen in solchen Fällen die beneidenswerte Kunst besitzt, eure rechte Hand nicht wissen zu lassen, was die linke tut; aber wir Männer sind anders organisiert; ich zum wenigsten. Ich rede hier nicht von moralischen Bedenken, über die man sich zur Not noch wegsetzen kann, wenn man den, dessen Vertrauen man täuscht, aus dem Grunde verachtet; aber ich würde Höllenqualen, die alle Wonne unsrer Liebe nicht beschwichtigen könnte, erdulden, wenn ich mit meinen leiblichen Augen den Mann, den ich verachte, seinen Arm in plumper Vertraulichkeit um deinen Leib schlingen sähe; wenn ich des Abends von euch ginge und wüßte, daß du – oh, ich mag es nicht aussprechen, was ich nicht einmal auszudenken wage.«

Emilie warf sich schluchzend in Oswalds Arme: »Oh, laß mich immer bei dir bleiben! Laß mich nicht wieder in mein Haus zurückkehren! Ich will ihn nicht wiedersehen! Er soll nie wieder meine Hand berühren! Ich habe ihn ja nie geliebt! Oh, Oswald, hab Erbarmen mit mir! Laß mich nicht so schwer büßen für etwas, das ich ja doch nur aus rasender Liebe zu dir getan habe.«

»Armes, unglückliches Kind«, murmelte Oswald, sie zärtlich an sich drückend, »armes unglückliches Kind; und unglücklich durch mich! Das ist das bitterste Leid! Emilie, Holde, Süße, weine nicht so! Dein Schluchzen zerreißt mein Herz! Laß ab von dem Manne, der dich schon so unglücklich gemacht hat, und nichts weiter kann, als dich nur noch unglücklicher machen! Vergiß, daß du mich je gesehen hast! Kehre zurück zu deinem Gatten. Du wirst mit ihm nicht glücklich werden, aber wer ist denn glücklich auf dieser Welt! Du wirst dich an ihn gewöhnen, wie sich der Mensch zuletzt an alles gewöhnt. Und so wird dir der Strom des Lebens verfließen, im Anfang vielleicht noch unwillige Wellen schlagend, dann allmählich ruhiger und träger, bis er zuletzt in das tote Meer dumpfer Resignation gleichgültig mündet. Oh, mein Gott, mein Gott! – Komm, Emilie! Es hilft uns nichts, daß wir einander unser Leid klagen. Die Nacht ist kalt, deine Haare, deine Kleider sind naß von dem Nebelgeriesel wie deine Augen von Tränen. Du mußt nach Haus.«

Er schlang seinen Arm um ihren Leib und führte sie den Weg, den sie gekommen waren, zurück. Emilie ließ es geschehen. Ihr leises Schluchzen hörte allmählich auf; sie schien die Hilflosigkeit ihrer Lage zu begreifen. Plötzlich aber, als sie auf der Brücke waren, die aus dem Park herausleitet, blieb sie stehen, faßte Oswalds beide Hände und sagte mit leiser, festes Stimme:

»Ich hab es mir überlegt, und anders ist es nicht. Ich will ohne dich nicht mehr leben, seitdem ich weiß, wie köstlich das Leben mit dir ist. Wenn du mich nicht lieben kannst, so beschwöre ich dich bei allem, was dir heilig ist, sage es mir. Ich will kein Wort erwidern, kein Wort. Ich will nicht weinen, nicht klagen. Du sollst von mir nicht belästigt werden. Was ich dann tue, das weiß ich.«

»Emilie –«

»Nein, laß mich ausreden. Ich sage dir, ich will nicht ohne dich leben. Wenn du mich nicht liebst, kann es dir ja gleichgültig sein, was aus mir wird. Wenn du mich aber liebst, so wirst, so mußt du fühlen, daß wir uns auch, so oder so angehören müssen. Wie das geschehen kann – ich weiß es jetzt noch nicht; aber ich werde darüber nachdenken, und du wirst darüber nachdenken, und wir werden einen Ausweg finden. Jetzt, sage mir: Liebst du mich oder nicht?«

»Ich liebe dich!« sagte Oswald, und er glaubte in diesem Augenblick, was er sagte.

Emilie warf sich in seine Arme. »Und ich liebe dich, Oswald, wie dich ein Weib nie geliebt hat, wie dich nie ein Weib auf Erden lieben wird. Und nun«, fuhr sie in ruhigem Tone fort, während sie langsam weiterschritten, »laß uns unsere Lage überdenken. Vorläufig, das sehe ich wohl, muß es so bleiben, wie es ist; aber auch so muß ich dich von Zeit zu Zeit sehen, wenn ich nicht wahnsinnig werden soll. Hier in der Stadt, wo tausend Augen uns bewachen, ist es schwer; aber ich habe einen andern Plan. Drüben in Fährdorf wohnt meine alte Amme, die mir unbedingt ergeben ist. Sie ist Witwe und hat einen einzigen Sohn in meinem Alter, der für mich durch Wasser und Feuer geht. Sie ist kränklich; ich schicke ihr alle Tage etwas, habe sie auch schon besucht, und es wird nicht auffallen, wenn ich sie wieder besuche. Ihr Sohn ist Steuermann auf einem Fährboote, das ihr gehört, und er wird uns sicher und verstohlen hinüber und herüber bringen. Wenn in einigen Wochen, vielleicht schon Tagen, das Eis hält, ist die Sache noch viel einfacher – willst du, Oswald?«

»Der Plan ist gut«, sagte Oswald, »besonders deshalb, weil ich keinen besseren wüßte. Wann wollen wir ihn in Ausführung bringen?«

»Morgen, wenn du willst.«

»Wann?«

»Um fünf Uhr nachmittags. Das heißt, wir dürfen nicht zusammen hingehen. Ich will schon früher fahren. Du kommst nach, wenn es dunkel ist. Die Rückfahrt findet sich. Die Wohnung der Witwe Lemberg – vergiß den Namen nicht – ist das letzte Haus links am Strand. Oh, Oswald, Oswald, denke die Seligkeit mit dir stundenlang ungestört beisammen zu sein! Doch jetzt, mein Oswald, geh! Man darf dich nicht sehen; ich muß allein nach Hause gekommen sein. Leb wohl – leb wohl – auf Wiedersehen.«

Die schlanke Gestalt Emiliens war heimlich durch das Dunkel bis an die Tür der Villa geschlüpft. Oswald hörte die Glocke ziehen. Die Tür wurde geöffnet und schloß sich wieder. Oswald war allein.

Er war allein; allein mit einem Herzen, in dem es finster war wie die finstre Nacht, die wie ein schwarzes Leichentuch über der kalten, starren Erde lag. Kein Hoffnungsschimmer am Himmel und in seiner Seele; dunkel, alles dunkel vom Aufgang bis zum Niedergang.

Er konnte es zu keinem bestimmten Gedanken bringen, nur zu dem einen, daß er sterben möchte, daß es ein Glück für ihn sein würde, wenn er seinem Leben ein Ende machte. Für ihn und für andere! Heftet sich nicht das Unglück an seine Fersen? War es nicht sein Schicksal, Verwirrung und Leid zu bringen, wohin er kam? Und dieser neueste Bund, den er geschlossen, unwiderruflich, wenn er nicht treulos sein wollte, wie – wie er es noch stets gewesen! Melitta – Helene – Emilie! Was hatte Emilie vor den andern voraus, als daß sie zufällig die letzte war?

So irrte er, von den Furien des eigenen Gewissens gejagt, in dem Park umher bis an den Strand und wieder zurück und wieder an den Strand und wieder zurück. Die feuchtkalte Luft durchnäßte seine Kleider, er achtete es nicht; er stieß sich an den triefenden Stämmen, er ritzte seine Hände an dem Hagedorn – er fühlte es nicht. Verwünschungen gegen die Vorsehung, gegen die Menschen, gegen sich selbst murmelnd, trank er in vollen Zügen aus dem Kelch der Leiden, die sich der Mensch in seines Sinnes Torheit gegen der Götter Willen und des Schicksals Schluß bereitet.


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