Heinrich Spiero
Detlev von Liliencron
Heinrich Spiero

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3.
Abschluß der Schulzeit.

Liliencron und Thomsen verließen gleichzeitig die Gelehrtenschule und die Stadt; noch kurz vorher hatte Liliencron einen Ball bei einer Familie Jensen in Dorfgaarden mitgemacht und tanztrunken in sein Taschenbuch angemerkt: »Nein, wie himmlisch habe ich mich da amüsiert.« Am 13. September 1861 fand in der Volkmarschen Gartenhütte bei dem Freunde Bernhard Volkmar eine Freundschaftsweihe mit dem Versprechen statt, sich alljährlich an diesem Tage zu schreiben.

Abgangszeugnis aus Kiel
1861

Die Abgangszeugnisse von Kiel, nach den Hundstagsferien von 1861 ausgestellt, bezeichneten die Leistungen als mittelmäßig; Betragen, Fleiß und Aufmerksamkeit wurden gelobt, die guten Anlagen anerkannt, gute Hoffnungen an das »rühmliche« Zeugnis geknüpft. Es war der Wunsch der Eltern wie der des Sohnes, daß er in das preußische Heer eintreten sollte, und die Vermittelung des Moltkischen Hauses für diese Absicht des dänischen Untertanen war erlangt worden, gewiß um so leichter, da ja auch Helmuth von Moltke selbst einst aus dänischen in preußische Dienste übergegangen war. August Thomsen hatte für die von ihm gewählte Laufbahn in der preußischen Flotte mit viel größeren Schwierigkeiten zu kämpfen; er erlangte trotz gräflich Rantzauscher Unterstützung nicht die Entlassung aus dem dänischen Staatsverband und ging schließlich auf eigne Faust nach Berlin, so daß er während der Entscheidung von 1864 strafwürdigerweise schon unter preußischen Fahnen, wenn auch nicht selbst im Kampf stand.

Unter diesen Umständen erschien es richtig, als letzte Vorbereitung für den von Liliencron erkorenen Beruf nicht die Kieler Gelehrtenschule, sondern eine preußische Anstalt zu wählen. So siedelte Friedrich im Herbst 1861 nach Erfurt über, mit ihm der Schulgenosse Henrichsen. Liliencron kam in das Haus des Regierungsrats von Lesser, der selbst einen etwa gleichaltrigen Sohn hatte. Das Lessersche Haus war Liliencron vom Kammerherrn von Vahrendorff empfohlen worden, dessen Neffe, der spätere Bildhauer Kamphövener, dort gleichfalls in Pflege war. In Kiel war Liliencron ja zuletzt auf der Sekunda gewesen, in Erfurt kam er zunächst probeweise, sehr zu seinem Kummer, in die Obertertia der Realschule (des jetzigen Realgymnasiums); wie der Vater es gleich ahnte, blieb es dabei. Die Trennung ist den Eltern, und zumal der Mutter, außerordentlich schwer geworden, und Fritz ward von heftigstem Heimweh geplagt. Ein lebhafter Briefwechsel sollte einigermaßen darüber hinweghelfen. Die Eltern überboten sich gegenseitig in ausführlichen und liebevollen 37 Nachrichten und berichteten treulich von dem Ergehen des Hauses und der Freunde, zu denen im besonderen Maße noch Henriette Hoffmeister, die Tochter eines Kieler Arztes, gehörte.

Mein lieber geliebter Sohn, schreibt Frau von Liliencron am 26. Oktober 1861; Deinen ersehnten Brief erhielten wir gestern u. haben uns unendlich gefreut über alle Nachrichten. Vor allem, daß es Dir, mein Herzensfritz, gut geht, daß Du Dich heimisch bei den lieben Lessers fühlst u. wenn Dir die Schule u. die Tercia nicht behagt – was ich so gut begreife – daß Du doch zufrieden bist u. Dich so liebenswürdig und lieb darin findest aus Liebe zu Deinen Eltern. – Ich glaube u. vertraue, Du lieber Junge, es wird eine Zeit kommen, wo Du uns dafür dankst, vor allem Deinem treuen Vater, der so wahrhaft Dein Bestes will, u. Dich so herzlich lieb hat, Deine Mutter nicht weniger, das weißt Du, lieb Herzenskind. – Oft u. oft sehne ich mich nach Dir, u. hast Du Heimweh nach Eltern u. Elternhaus, wir auch nach dem fernen Sohn – aber wie Du strebst, es zu überwinden, dürfen wir auch nicht klagen, wo es Dein Bestes gilt. – Aber bete, mein Fritz, daß Gott Dich erweckt zu Eifer, Fleiß u. regem Streben nach Kenntnisse, sie sind ein Reichtum für das Leben, das Dir niemand rauben kann, u. gewiß hast Du recht, werden die Lehrer Dir anerkennender und freundlicher entgegenkommen, wenn sie sehen, daß Du strebst vorwärts zu kommen u. Deine Pflicht erfüllst. Daß die Schule mit Gebet u. Gesang anfängt, das ist nach meinem Herzen. So war es in meine Schule in England, u. der Eindruck ist nie verwischt – sollen wir nicht alle Tage mit Gott anfangen? der uns den neuen Tag giebt, sollen wir Ihm nicht dafür danken? – Du warst ein so frommes, liebes Kind, bleibe es Dein Lebenlang, bleibe bei und in Gott, und Dein Lebelang bist Du geborgen. – Wir hatten vor einigen Tagen einen so sehr lieben Brief von Herrn v. Lesser, der uns besonders lieb war, weil er so freundlich über unsern geliebten Sohn schrieb. – Deine u. Henrichsens Wege würden freilich nun auseinandergehen, aber später könntet Ihr euch vereinigen, dagegen freute er sich, daß Du nun denselben Weg mit seinem Sohne Carl machtest, u. fügt hinzu, er könne sich keinen besseren Gefährten aussuchen für ihn als gerade Dich, weil er keinen liebenswürdigeren u. gediegeneren jungen Menschen gesehen u. Du sowohl sein als seiner Frau Herz ganz gewonnen durch Dein gemüthliches u. zutrauliches Wesen. – Auch Henrichsen mögen sie seines so lieben u. biedern Charakters wegen sehr u. er schreibt auch an seinen Vater sehr eingenommen von Lessers. – Wie danke ich Gott, mein Fritz, der Dich in ein 38 so liebes Haus geführt. – Ich habe Dir Herrn v. Lessers Worte geschrieben, weil ich weiß, sein Lob macht Dich nicht übermüthig, aber muntert Dich auf, freundlich und liebenswürdig gegen jedermann zu sein, u. es freut mich besonders, daß Du im häuslichen Kreise solche Eigenschaften entfaltest. – Es freut mich auch, daß Du bei Professor Weisenborn gewesen. – In Deinem Erzählen mußt Du etwas ausführlicher sein, worin bestand der angenehme u. interessante Abend? Was machtest Du, wie war es dort, wie ist die Frau? wie der Mann? Und dann, lieb Friedel, mußt Du mir noch vieles erzählen – in welcher Klasse ist Carl Lesser, geht er nicht mit Dir zur selben Schule? Wie ist die Tochter? Brauchst Du viele neue Bücher? Du lernst doch alles in der Schule, was zu Deinem nachherigen Examen gehört? Wieviel kosten Math.-Stunden? Uebst Du noch jeden Tag Musik? Das hoffe ich sehr.


Ich hatte gestern einen Brief von August. Der arme Junge schreibt noch recht bedrückt, es hat sich noch nicht entschieden über seine Zukunft, u. diese Zeit der Spannung und Unthätigkeit wirkt lähmend auf einen solchen Geist als August seinen. – Er schreibt mit großer Liebe von Dir immer, u. es hat mich gefreut, daß Du anerkennend schriebst, Du habest einen so lieben Brief von ihm, es ist mir solch Herzensfreude, wenn meine Herzenssöhne sich lieb haben. Ach, wann sehe ich Euch wieder!!


Alter geliebter Junge, wie wirst Du mir zu Weihnachten fehlen! – Unsere alte Sophie ist immer ganz strahlend über Deine freundlichen Grüße u. bittet sie tausend mal zu erwidern. – »Er ist gut, er ist gut«, sagt sie immer mit Thränen in den Augen.


Nun, mein Fritz, schreibe bald wieder u. vergesse keine von meinen Fragen zu beantworten. – Daß Du nicht kommen willst ohne Uniform, finde ich sehr männlich und recht von Dir, u. bin daher auch nicht für das Abiturientenexamen. – Vergiß keine Frage zu beantworten, u. dann, Herzensjunge, schreibe besser u. deutlicher u. nicht flüchtig. Grüße Henrichsen u. die sehr lieben Lessers tausendmal herzlich von mir, ich möchte ihnen ihre Freundlichkeit u. Liebe gegen Dich so ganz von Herzen danken u. thue es durch Dich. Sage ihnen das. Doch nun muß ich aufhören, mein Fritz, Gott segne Dich und durch Dich Deine

treue Mutter A. L. 39

Ich bitte mir einen speciellen Brief aus.

Der Vater fügt hinzu:

Kiel, den 26. Octbr. 1861.

Wenngleich, mein theurer Sohn! Du heute durch Mama und manche gute alte Freunde, die wir ersucht uns eine Anlage für Dich mitzugeben, so ziemlich alles erfahren wirst, was Dich von hier zu wissen interessieren wird, so denke ich doch: der Papa darf nicht fehlen, und es wird Dir Freude machen, auch von ihm einige Zeilen zu erhalten. Und nehme deßhalb auch die Feder zur Hand, Dir zu schreiben. Auch ich muß Dir vor allen Dingen sagen, daß ich mich zu Deinem letzten Brief besonders gefreut, weil er mir ein Beweis, daß Du ein liebes, gehorsames und willig folgendes Kind bist, wie ungern Du, unter den obwaltenden Verhältnissen, es auch gethan haben magst. Es geht Dir jetzt ähnlich, wie es mir ging, wie ich, als Amtssekretär bereits eine ansehnliche Persönlichkeit darstellend, plötzlich zum Zollassistenten ernannt wurde, und nur der Gedanke, daß der liebe Gott, alles nur zu unserm Besten thut und zuläßt, tröstete mich und gab mir Muth, und Trost, ruhig meinen Wanderstab aufzunehmen und geduldig einer besseren Zukunft entgegenzuwandern, gleich Dir, mir vornehmen, mein Bestes zu thun und mein ferneres Schicksal vertrauensvoll in Gottes Hand zu legen. Er hat mir weiter geholfen und wird auch Dir weiterhelfen, wenn Du ihm nur recht vertraust! – Daß wir einen sehr freundlichen Brief von Herrn v. Lesser gehabt, worin er Deiner so lobend erwähnt, hat Mama Dir freilich schon geschrieben, allein ich kann doch nicht umhin, Dir auch meine so herzliche Freude darüber auszusprechen. Bitte, bringe den lieben Lessers meine herzlichsten Grüße, sage Herrn v. L., daß ich seinen Brief empfangen und ihm nächstens selbst meinen Dank dafür aussprechen werde. Er schreibt mir von einer Probezeit von acht Tagen in Tertia, allein ich befürchte, daß diese etwas länger dauren wird, wodurch Du Dich nicht muthlos machen lassen wirst, Du lernst doch immer mehr und vieles von dem, was Du jetzt neu lernst, wird Dir später im täglichen Leben von großem Nutzen sein und Dir Freude machen, wenn auch manches weder das Eine noch das andere thun wird, wie ich recht gut weiß. Es muß aber einmal mitgelernt werden. Der Lehrer, der neulich so unnütz gegen Dich war, hat es sicher später selbst bereut. Er hat in der Uebereilung gewiß nicht daran gedacht, daß Du unbekannt noch, mit den dortigen Sitten und Schulgebräuchen, die mir übrigens sehr gefallen, und namentlich für einen angehenden 40 Soldaten sehr gut und passend sind. – Lasse Dich übrigens, vorausgesetzt, daß Du Dich danach beträgst und namentlich fleißig lernst, was Dir aufgegeben und aufmerksam und folgsam bist, von keinem Lehrer insultieren, ohne dem Herrn Direktor es sofort anzuzeigen.

Ad vocem: »schreibe« muß ich hier lieber gleich meinen lieben Sohn bitten, immer, wenn Du irgend einen Brief beantworten willst, stets diesen zuvor nochmals zur Hand zu nehmen, und Dir daraus diejenigen Punkte hervorzusuchen, die zu beantworten sind. Dieß wirst Du später erfahren, ist im Geschäftsleben absolut nothwendig, und daher gut, sich schon früh daran zu gewöhnen. Ueber Deinen Styl habe ich mich sehr gefreut, weniger über Deine Hand, die oft das Gepräge der Flüchtigkeit an sich trägt und zuweilen sehr schwer zu entziffern ist, man nehme sich das gefälligst ad nota! Mit dem gewünschten Abiturientenexamen, mein Fritz! kann es wohl leider, wie Du auch Selbst meinst, wohl nichts werden und hoffen wir denn, daß Du zu Ostern 1863 mit Lesser zugleich ins Militär eintreten kannst. Leg Dich nun nur tüchtig auf Mathematik und Sprachen. Was sonst für die Schule nöthig, wirst Du mit Deinem guten Kopfe und Gedächtnis schon capiren, darum bin ich garnicht bange. Auch, lieber Fritz! versäume nicht, so balde es angeht, tüchtig zu turnen, um Deine Kräfte zu üben. Bläue so nebenher alle Deine Mitschüler, die Dir etwa unverschuldet ans Rad laufen sollten, wie man zu sagen pflegt, mit Deinen holsteinischen Fäusten tüchtig ab; das übt auch die Kräfte und setzt Dich bei den Jungen in Respekt. – Ich wollte Dir auch gerne eine Kleinigkeit senden, wußte aber nicht recht was? Und so lege ich Dir denn ein musikalisches Curiosum an, das bei Musikkennern sehr beliebt sein soll, ich aber nicht verstehe, Du wirst es wohl zu gebrauchen wissen.

So viele und so lange Briefe hast Du sicher nie noch erhalten, und heute gewiß auch nicht erwartet; wir hoffen recht, daß diese Sendung Dir Freude machen wird. Unser Freund August, wird Dir über die Schule alles mitgeteilt haben. Er ist sehr nett jetzt und betrachtet sich gewissermaßen wie unsere Stütze, eben läuft er hin und holt die Briefe von Dose und Lembke. Um die neulichen Krönungsfeierlichkeiten, die Herr v. Lesser ziemlich ausführlich uns mitteilte, beneide ich Dich ordentlich, es muß sehr interessant gewesen sein, das alles dort zu erleben. Solltest Du Dir noch keine Joppe haben machen lassen und sie auch im Hause tragen dürfen, so kaufe Dir mit Lessers Hilfe so billig wie möglich eine, denn Dein alter Rock wird wohl nicht länger halten wollen. Daß die Trauben schön geschmeckt, freut mich, 41 wenn sie auch für uns sauer sind. Und nun mein geliebter Sohn! leb wohl für heute, nächstens mehr von uns und namentlich von

Deinem treuen Vater
Liliencron.       

Ein andermal, nahe dem Christfest, am 8. Dezember 1861, schreibt Louis Ernst:

Dank, mein lieber Fritz! herzlichen Dank für Deinen Brief, Du glaubst es nicht, welche Freude wir immer haben, wenn einer von Dir anlangt. Wie gerne hätten wir unser liebes geliebtes Söhnlein zum schönen Weihnachtsfeste bei uns, allein das geht ja nun einmal nicht an, und so wollen wir uns christlich und männlich darein finden, wissen wir doch, daß Du dort bei und mit lieben Menschen das schöne Fest begehen wirst, die Dir auch schon theuer geworden durch all ihre Freundlichkeit und Liebe, die sie, wie Du selbst sagst, Dir zu theil werden lassen. Wahrscheinlich, d. h. wenn ich Urlaub bekomme, wie ich hoffe, daß es der Fall sein wird, feiern Mama und ich das Weihnachtsfest wieder in Glückstadt.

Daß Du Schach en quatre spielst, habe ich mit dem größten Interesse vernommen, nur immer vergessen, Dir dies zu sagen. Zu der Ansicht von Erfurt freuen wir uns sehr; bezeichne durch einen kleinen Punkt, etwa, doch das Haus, worin Du wohnst.


Was Du uns über Deine Mitschüler schreibst, hat uns natürlich sehr interessiert, und daß Du vorsichtig in der Wahl eines Freundes, ist sehr vernünftig. Der dicke Junge sollte sich für Geld sehen lassen, der muß ja ein wahres Ungetüm sein.

Treibst Du nebenher auch noch oft Musik? Und mein Herrchen, wenn man wieder irgendwo in Gesellschaft ist, wo getanzt wird, zähle man sich gefälligst mit zu den erwachsenen Herren und nicht zu den Jungen. Verstandevous? Man thut gut daran, wenn man sich auch ein wenig vordrängt und sagt: »Ich bin auch hier«; sonst geht es in dieser Welt nicht. Du bist ja nun 18 Jahre alt.


Von Deinen vielen Freunden hier, von denen ich täglich einige spreche, soll ich Dir natürlich viele, viele Grüße sagen. Neues für Dich wußte mir niemand von ihnen mitzuteilen. – Mit einem kl. Päckchen, das wir für Dich an Lessers senden werden, sollst Du auch etwas Geld wieder haben, mein Söhnchen! Bis dahin mußt Du Dir durchhelfen. 42 – So mein lieber Fritz, nun lebe wohl für dießmal, es grüßt und küßt Dich wieder

Dein Dich so herzlich liebender
treuer Vater.           

Die vaterländisch-deutsche Stimmung, die alle jungen Leute dieses Geschlechts in Schleswig-Holstein beherrschte, hat zu Erfurt in Liliencron nicht nachgelassen, obwohl ihn die dortigen Mitschüler anscheinend nicht recht als voll anerkannten; er hat offenbar als »Ausländer« zunächst unter der rauhen Behandlung durch die preußischen Mitschüler gelitten, ähnlich wie sein Kai von Vorbrüggen in »Leben und Lüge« bei seinem Eintritt ins Kieler Gymnasium – wenigstens liest man das ziemlich deutlich zwischen den Zeilen der elterlichen Briefe.

Die besondere militärische Begabung des Jünglings war seinen Mitschülern vielfach aufgefallen, mehr noch sein, auch von den Eltern betontes musikalisches Gefühl. »Wie steht's mit der Musik?« fragt ihn, nach Erfurt hin, der Freund Fontenay, »kein Wunder, wenn sie bei Deinem jetzigen angestrengten Arbeiten etwas nachsteht. Ich denke, Du sitzst spät Abends am Clavier zu phantasiren, das ist doch Deine liebste Beschäftigung?« »Hast Du,« fragt er weiter, »nicht einmal etwas komponirt?«

Den Pflegeeltern und den Lehrern haben Liliencrons Wesen und Auftreten in Erfurt wohl gefallen. Frau von Lesser ist noch als Greisin im Hause des Dichters eingekehrt und hat, als sie hörte, daß er dichte, den schon berühmten Mann zu seiner großen Erheiterung gefragt: »Lassen Sie Ihre Verse eigentlich auch drucken?«

Ob Liliencron bei so angestrengter Arbeit Zeit gefunden, bei der Großtante Liliencron und dem älteren Vetter Rochus in Meiningen, dem Wunsch der Eltern gemäß, wandernd einzusprechen, wissen wir nicht; aber nach Weimar ist er hinübergefahren und hat die Fürstengruft besucht.

Neben der Pflichtarbeit hat Liliencron in Erfurt ausgebreitete Lektüre getrieben und in einer früh merkwürdig reifen Handschrift darüber berichtet. Der Freund Henrichsen hatte ein »Raritätenbuch« mitgebracht, in dem Friedrich gerne stöberte, und aus dem er einmal, zwei Tage vor seinem achtzehnten Geburtstag, Goethes Verse abschrieb, eine Herzstärkung in der Fremde: 43

Feiger Gedanken
Bängliches Schwanken,
Weibisches Zagen,
Ängstliches Klagen
Wendet kein Elend,
Macht dich nicht frei.

Allen Gewalten
Zum Trotz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei.

Die Mutter hatte Philipp Spittas »Psalter und Harfe« mit eingepackt, und das Gedicht »Kehre wieder« muß dem jungen Sohn einen tiefen Eindruck gemacht haben, weil er es gleichfalls sorgfältig (am 28. September 1862) abschreibt:

Kehre wieder, kehre wieder,
Der du dich verloren hast,
Sinke reuig betend nieder,
Vor dem Herrn mit deiner Last!
Wie du bist, so darfst du kommen,
Und wirst gnädig aufgenommen.
Sieh, der Herr kommt dir entgegen,
Und sein heiliges Wort verspricht
Dir Vergebung, Heil und Segen;
Kehre wieder, zaudre nicht.

Vaterländische Gedichte auf das bedrängte Schleswig-Holstein schreibt der Jüngling ab und nachdenkliche Aussprüche, unter denen, bei Liliencrons großer Jugend und der von den Freunden oft hervorgehobenen Abgeschlossenheit, besonders Goethes Wort auffällt: »Laß dich nie erraten. Kennt man dich ganz, so verlierst du alle Bedeutung.« In dem Bekenntnis zu diesem Ausspruch liegt ein gut Stück auch von späterem Wesen Liliencrons. Mit wachsender Reife aber fesselt immer stärker die lyrische Dichtung. Wieder erscheint Goethe: »Der Erlkönig« und zwar in der Übersetzung Walter Scotts. Auf solche Schreibübungen bezog es sich, wenn die Mutter dem Sohn schrieb: 44 »Es freut mich, daß Dir das rechte Verständnis für meine liebe Muttersprache aufgegangen, und es freut mich doppelt, weil Dir nachher so mancher Genuß bevorsteht in der tiefen, reichen englischen Literatur, die gerade Dir zusagen wird. Englisches Blut und englisches Gemüth steckt auch in Dir.« Dann vermerkt Liliencron hintereinander, offenbar als Frucht rasch fortgesetzter Lesung, den »Fischer«, Heines Gedicht von dem Fichtenbaum und der Palme, sein Lied von den Diamanten und Perlen, Uhlands »Schloß am Meer«, Karl Mayers kleine Klagen:

Knarre nur und sause,
Wind im Eichenforst!

Lenaus »Bitte« und seine Verse an die Melancholie haben den so oft in sich versenkten jungen Friedrich besonders bewegt, und ihnen gesellte sich Eichendorffs unvergänglich musikalische »Mondnacht« (»Es war, als hätte der Himmel die Erde still geküßt«). Auch Strachwitz hat Liliencron damals gelesen und seinen »Meeresabend« besonders geliebt:

Sie hat den ganzen Tag getobt
Als wie in Zorn und Pein,
Nun bettet sich und glättet sich
Die See und schlummert ein.

Im November aber schließt der künftige Soldat das eine seiner Merkhefte mit dem groß hingeschriebenen Ausruf:

Mag es auch schmerzen,
Männlich steh!
Zwing dich zu Scherzen,
Kopf in die Höh!

Zu Ostern 1862 verließ Liliencron die Erfurter Realschule mit dem Zeugnis der Reife für Sekunda. Das Abgangszeugnis des Direktors Koch hebt hervor: »Liliencron hat sich nicht nur durchaus der Schulordnung gemäß betragen, sondern auch bescheiden in seinem Wesen und freundlich in seinen Formen gezeigt. Er hatte bei seinem Eintritt in die Realschule, namentlich in den exakten Wissenschaften, viele Lücken in seinem Wissen und hat die Anstalt zu kurze Zeit besucht, um diese Lücken ganz ausfüllen zu können.« Das Zeugnis rühmt Liliencrons durchweg verständige und angestrengte Arbeit zu Hause und in der Schule und bezeichnet seine Anlagen als »im ganzen gut«. 45

Zum Eintritt in das preußische Heer und insbesondre zur Ablegung der Fähnrichsprüfung genügte diese Vorbildung noch nicht. Liliencron nahm daher von Anfang April an Privatunterricht und zwar in Erdkunde bei dem Realschullehrer Günzel, im Planzeichnen bei dem Hauptmann außer Diensten von Zittwitz, in der Mathematik bei einem andern früheren Offizier, dem Hauptmann Rode. Der Divisionsprediger Kleckl unterwies ihn in der Geschichte und vom Juli ab, nach dem Aufhören der Günzelschen Stunden, auch in der mathematisch-physikalischen Geographie, und seine lateinischen und deutschen Kenntnisse vervollständigte Liliencron bis zum November hin bei dem Gymnasialprofessor Kritz. Alle Lehrer waren mit der regen Teilnahme und dem liebenswürdigen Verhalten des »durchaus feingesitteten jungen Mannes« sehr zufrieden und sagten ihm ein günstiges Ergebnis der Prüfung voraus. Professor Kritz war besonders erfreut über das gute und leichte Verständnis, womit er den Cäsar übersetzte, und über des Schülers sichere Kenntnisse der Hauptzeiten der deutschen Literaturgeschichte, über seine Vertrautheit mit den wesentlichsten Erscheinungen der deutschen Dichtung.

Am 12. Januar 1863 sah Liliencron endlich den Vater wieder; sie trafen in Berlin zusammen und schritten gemeinsam nach dem alten Gebäude der militärischen Prüfungsausschüsse in der Lindenstraße. Ein Leidensgenosse jener bangen Stunden hat später erzählt, wie plötzlich einer der Wartenden rief: »Bei Gott, da bringt ein Alter sein Nestküken!« Der kleine, rosige, fast mädchenhaft aussehende Ankömmling, der sich alsbald als »Baron Liliencron« vorstellte, wirkte so winzig, bis er zu sprechen begann und seine verhältnismäßige Reife zur Schau trat. In der mündlichen Prüfung dieses und der folgenden Tage unterlag Friedrich in der Mathematik völlig, zeigte sich in der Geschichte glänzend beschlagen und geriet im Deutschen in eine lebhafte Unterhaltung über seinen Landsmann Klaus Groth mit Professor Ludwig Herrig, dem Oheim und Erzieher des Dichters Hans Herrig. Das Zeugnis nannte die Leistungen in der Geschichte gut, im Deutschen ziemlich gut, im Lateinischen, Französischen und Englischen, das kein Pflichtfach war, befriedigend, in der Erdkunde mittelmäßig, in der Mathematik und im Zeichnen nicht hinreichend.

Des Sohnes Wunsch, Reiteroffizier zu werden, konnten die Eltern bei ihren knappen Mitteln nicht erfüllen; so trat Friedrich Freiherr von Liliencron am 5. Februar 1863 als Avantageur beim Westfälischen Füsilierregiment Nr. 37 in den Königlich Preußischen Dienst. 46

 


 


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