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Im Mai des Jahres 1886 machte Wilhelm Friedrich Liliencron den Vorschlag, es doch einmal mit einem Roman zu versuchen. Und der Gedanke daran schlug sofort Wurzel. Noch während der Dichter mit den »Merowingern« beschäftigt war, kam ihm die Überlegung, das gewünschte Prosawerk »Die Sünden der Väter« zu nennen, gewissermaßen ein Trauerspiel in Prosa, ein soziales Stück zu schreiben. Skizzen und Schnitzel wollte er schon besitzen, und ganz klar war ihm sofort, daß das Werk in seiner engern schleswig-holsteinischen Heimat spielen müsse. Am 4. Juni, also eben nach Beendung des letzten Trauerspiels, schrieb Liliencron das erste Kapitel des neuen Werks, das freilich, wie er meinte, den stolzen Namen Roman kaum würde führen können. Dazwischen kam das Zusammensein mit Friedrich und Heiberg in Hamburg, das Erscheinen der »Sommerschlacht«, allerlei neue Pläne, die Versendung von »Arbeit adelt« – aber der Roman schritt ruhig fort, und am 19. November ist dann auch der Titel festgestellt, er soll weder lauten: »Die Sünden der Väter«, noch: »Meine Nachbarn«, noch: »Auf meiner Scholle«, sondern: »Breide Hummelsbüttel«. Die Arbeit zog sich noch bis ins nächste Jahr hinein, und während schon die schwersten Ischiasschmerzen sich meldeten, schrieb Liliencron, am Dienstag, dem 10. Januar 1887, an Friedrich:
»Lieber Freund!
Mein Roman »Breide Hummelsbüttel« ist fertig.
Heidirumvidibumvallera!
Hurrah!
Hurrah!
Hurrah!
Nun freue ich mich selbst über ihn! Ich habe große Angst, wie er aufgenommen wird. Ich wünschte Ihnen und mir das Aufsehen wie Goethes Werke! Wahrscheinlich liest ihn wieder kein Mensch, wie es bei meinen andern Büchern geschieht. Ich bin ganz modern gewesen. Mein Roman ist kein Sammelsurium von Patschuli, Grafen und krummbeinigen Baronen, sondern er hat Menschen! Menschlich sein und denken in unserer Zeit! Das habe ich darin ausgedrückt. Er enthält für jeden Leser, wer er auch ist, etwas. Selbst Kammerjungfern werden zuweilen entzückt sein. 265 Endlich habe ich auch Bleibtreu meinen Dank darin ausgesprochen. Für literarische Feinschmecker dürfte der Roman etwas sein.«
Am 12. ward die Handschrift nach Leipzig versendet, und schon Ende Februar, also mit außerordentlicher Schnelligkeit, lag der immerhin vierzehn Bogen starke Roman gedruckt vor. Dagobert von Gerhardt-Amyntor schrieb über das Werk des Kameraden eine glänzende Besprechung, die aber von der Kölnischen Zeitung zurückgewiesen wurde, weil der betreffende Schriftleiter zwar das »bedeutende Talent« vollauf anerkannte, »daneben aber eine derartige künstlerische Verwilderung und Mangelhaftigkeit der Form fand, daß eine über das aufmunternde Wohlwollen hinausgehende Beurteilung noch sehr verfrüht erscheint.« Diese schulmeisterliche Ablehnung, die bei der heutigen stürmischen Begrüßung jedes Sechsdreiertalents doppelt komisch wirkt, entmutigte Amyntor nicht, und die Besprechung erschien dann in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung; auch Westermanns Monatshefte brachten eine sehr günstige Beurteilung.
Breide Hummelsbüttel ist ein holsteinischer Name, der Vorname tritt in der Provinz nicht selten auf, und die Hummelsbüttel waren ein in der Schlacht an der Hamme 1404 ausgestorbenes Adelsgeschlecht. (Den kleinen Hamburger Vorort Hummelsbüttel hat Liliencron damals schwerlich gekannt.)
Die Handlung des Romans ist sehr einfach. Der Garderittmeister außer Diensten und Rittergutsbesitzer Breide Baron Hummelsbüttel ist nicht Eigentümer des alten Fideikommisses Bredenfleth und des Grafentitels, sondern besitzt nur das Nebengut Wittensee, weil sein Großvater einst eine Leibeigene geheiratet und dadurch nach dem Spruch der Ritterschaft sein Erstgeburtsrecht verloren hat. Breide hat leichtsinnig gewirtschaftet, eine ungeheure Schuldenlast aufgehäuft und muß Wittensee aufgeben. Sein Vetter, Graf Henning Hummelsbüttel, ersteht es, nachdem er den Gedanken eines erneuten Rechtsstreits um den alten Familienzwist aufgegeben hat. Nach Deckung aller Schulden bleibt aber Breide nichts, so daß er eine Stelle als Schaffner bei der preußischen Eisenbahn im Posenschen annehmen muß. Seine Frau Heilwig ist ihm mit wärmster Liebe und Treue in das neue Dasein gefolgt, obwohl er sie häufig hintergangen und sie noch kurz vor dem Scheiden von Wittensee vergeblich gebeten hat, ein während der Ehe erzeugtes, jetzt mutterloses Söhnchen als ihr Kind anzunehmen. Breide tut seinen Dienst mit vorbildlicher Pflichterfüllung, er wird in die angenehme Stellung eines Bahnmeisters mitten im Grenzwald versetzt und verliert sein Leben bei der Rettung 266 eines Bahnarbeiterkindes von den Schienen vor dem heranbrausenden Schnellzug. Henning ist inzwischen in Wahnsinn verfallen und gestorben. Sein Bruder Detlev geht an einer Blutvergiftung zugrunde, und Breides kleiner Sohn, den Heilwig als Witwe in aller Form angenommen hat, wird als Graf Hummelsbüttel der Erbe aller Besitzungen.
Warum hat Liliencron das Buch zuerst »Die Sünden der Väter« nennen wollen, und warum hat er diese Aufschrift – von ihrem ein wenig theatralischen Klange abgesehn – später fallen lassen?
Er hat in jener Zeit, in der alles sich mit der Lehre von der Vererbung beschäftigte und Ibsen und Zola in Deutschland bekannt wurden, viel über das Geschick der eignen Familie nachgedacht und besonders seiner Großmutter, Friederike Griis, denken müssen, seines Großvaters, des sinnlich wilden, ungestümen Mannes, der durch die zweite Heirat seinen Familienzweig von dem großen Liliencronschen Fideikommiß ausgeschlossen hatte. Dazu gesellte sich die Erinnerung an den Wahnsinn des Urgroßvaters, an Seltsamkeiten bei andern Gliedern seines Hauses. Er hat dies Motiv auch voll ausgenutzt und Breides rasch bereite Sinnlichkeit, wie Hennings Wahnsinn und Detlevs flammende, erst später überwundene Liebesgier mit aus der Erbschaft des Blutes erklärt. Aber es kam Liliencron, je länger je mehr, doch auf andere, rein dichterische Dinge an. Das Verhältnis zwischen Breide und Heilwig lockte ihn von Zeile zu Zeile stärker, erinnerte es doch auch an die Eheprobleme aus der »Sturmflut«, dem »Geheimnis«, »Greggert Meinstorff«; und er stellte nun dar, wie die Frau, tausendmal enttäuscht, von Haus aus als stolze, hochgeborene Schönheit verwöhnt, doch immer wieder durch Breides trotz alledem hervorbrechende Ritterlichkeit, seinen durch alle Liebesabenteuer nicht befleckten inneren Anstand, seine Großmut in andern Dingen sich mit immer neuen Fesseln an den Gatten geknüpft fühlt, wie sie die eigene maßlose Heftigkeit bezwingt, die Breide oft erschreckt hat, wie sie schließlich das Schwerste leistet, was eine Frau tun kann: den Sohn einer andern und ihres Mannes als den eignen vor tausend spähenden Augen ans Herz drücken. Beide, Breide und Heilwig, sind ganz anschaulich geworden, er mit den braunen, halb im Schlaf, halb im Leben stehenden Augen, die auch sein Söhnchen von ihm geerbt hat, mit seiner losen Auffassung dessen, was Liliencron hier die »natürliche Sünde« nennt, mit seiner großen und echten Liebenswürdigkeit gegen jeden, insbesondere jeden Menschen geringen Standes. Es steckt ein gut Teil Selbstbildnis in Breide, nicht nur in der 267 Abkunft, sondern in vielen einzelnen Zügen: in jener lockeren Auffassung rasch geknüpfter Liebesbande, in der Freude an einsamen Spaziergängen durch Feld und Wald, die Flinte am Riemen über der Schulter, wobei die Betrachtung der Natur wertvoller ist als das Erlegen schußgerechten Wildes, in der Liebe zur Leiermannsmusik, die ihm die Tränen in die Augen treibt, in der Freude an einem kalten Imbiß unterm Baume:
Kalter Ente, kalten Eiern
Rotspohn hinterhergeschickt.
Breide besitzt eine Schwester, die Fürstin Wulfhilde Trauttenberg, ein Menschenbild von jener gütigen Klarheit, wie sie Liliencron an Frauen über alles liebte und mit tiefster Achtung, ohne Begehr, anerkannte. Ihr gab er einen andern Zug des eignen Wesens mit: die inbrünstige Liebe zur engern Heimat und ihrer Geschichte, ihr legte er jene Erzählung »Land und Leute Schleswig-Holsteins« in die Hand und ließ sie, mitten unter dem Hereinbruch schwerer Ereignisse, in der Stille des Parks von Wittensee, wie eine Dogaresse auf der Rundbank sitzend, von der Vergangenheit des meerumschlungnen Landes, von den Kämpfen ihrer adeligen Vorfahren mit den Bauern Dithmarschens lesen.
Und einen andern Zug von Liliencrons eigenem Wesens trägt eine im Grunde überflüssige Nebengestalt des Romans, der Graf Heesten. Er ist unter den Standesgenossen der belächelte und bewunderte Kenner von Kunst und Dichtung, er gehört »zu den fünfhundert bis tausend Männern, die von den fünfzig Millionen Deutschen sich der Mühe unterziehen nur Kritiken einzusehn über solche Bücher, die von ihnen vorher selbst gelesen sind.« Er rühmt Bleibtreus »Revolution der Literatur«, obwohl er vollkommen einsieht, daß Bleibtreu gerade die größten Dichter der Zeit, Keller, C. F. Meyer, Jensen, nicht kennt und Männer wie Heyse und Storm verkennt. Aber er bewundert Bleibtreus Mut beim Kampf gegen den »jammerhaften Schund, den wir Deutsche schöngeistige Literatur nennen.«
Ihm und dem vorzüglich gezeichneten alten Kammerdiener Kramer (einem Diplomaten äußern Anstands) gelingt in Gemeinschaft mit dem »Suitier« Justizrat Möllwind die Befreiung Henning Hummelsbüttels aus den Klauen von zwei Betrügern, die unter der Maske religiöser Sendboten auftreten. Und auch in diesem Henning, der allzu einseitig herausgearbeitet ist, liegt noch ein wenig von des Dichters 268 eignem Wesen. Er hat jene Sternensehnsucht, die Liliencron nie verlassen hat und in seinen Dichtungen immer wieder emportaucht, er liest Tholuck, wie dieser Gottesgelehrte in Liliencrons Elternhause gern gelesen wurde; aber in ihm ist alles überreizt und seine Frommheit schlägt schließlich in vollen Wahnsinn über. Dazu kommt freilich, daß Henning, ebenso wie sein aus der Fremde zurückgekehrter Bruder Detlev, Heilwig, Breides Gattin, liebt, die sie beide dem ungetreuen Breide nicht gönnen – in ihr bricht gerade durch Detlevs ungestümes Werben die volle Liebe zu Breide siegreich durch.
Das Buch macht ganz und gar den Eindruck, daß sich Liliencron außerordentlich viel hat vom Herzen schreiben wollen, darunter auch seine Abneigung gegen die kunstfremde Gesellschaft Schleswig-Holsteins, unter der er damals manchmal gelitten hat, und seinen Haß gegen kleinliche Verhältnisse der Kleinstadt, aus der die Gäste im Hause Breides zu Klatsch und Tratsch zusammenkommen. Das darzustellen, gelang dem Dichter freilich weniger als die Schilderung der Natur und die seines Helden in der Natur. Da ist Breides Abschiedsgang, bevor er Wittensee verlassen muß: »Um sich schauend, sah er mit stiller Freude auf die ihm bekannten und so vertrauten Gräser und Blumen. Er pflückte sich – noch war sein das Feld – ein Sträußlein von blauen Glockenblumen, gelbem Hartheu, Schafgarbe mit ihren weißen Doldenblümchen, hellschwefelgelbem Leinkraut, und weil er's noch erreichen konnte mit der Hand, ohne sich erheben zu müssen, riß er einige der tiefschwarzen Beeren der Ahlkirsche und ein Zweiglein einer Krüppeleiche an sich. Wie ein junges schwärmerisches Mädchen legte der große, hübsche Gardeulanenrittmeister a. D. alles auf seinen Schoß und fing zu ordnen an. ›Etwas geschmacklos in der Zusammenstellung‹, lachte er, ›aber die Natur in allen ihren Erzeugnissen ist schön. Nichts geht mir über einen Feldstrauß.‹« Dann trifft er den Orgeldreher, der das damals überall gesungene Lied spielt: »Unser Kaiser liebt die Blumen«. »Unbeschreiblich war der Zauber dieses einfachen zum Volkslied gewordnen Gedichtes und seiner ins Herz gehenden melancholischen Melodie immer auf Breide gewesen. Er konnte sich keine Rechenschaft davon geben. . . . Nun schaute er, ganz wie abwesend, während die Orgel immer weiter spielte und der Gesang immer weiter tönte, in die blaue Ferne. Wie wohl und weh ihm war. . . . Noch einige Felder waren mit Hafer und Weizen besetzt. Zwischendurch flimmerte die Lupine, die zuweilen ihren honigsüßen Geruch auf einer Luftwelle sandte. Weit entfernt war schon wieder ein Pflug beschäftigt. Über Breide weg 269 flogen die Saatkrähen; sie wollten zum Pfluge, um hinter ihm her zu äsen. Eine Goldammer tirilierte ihm zu Häupten in einer jungen Eller unaufhörlich ihr: ›Nimmer, nimmer, nimmer, nimmer – mehr‹.
Breide hatte sich gelegt, die Hände unter den Kopf verschränkt, und starrte in den Himmel. Ein unermeßlich hoch über ihm stehendes weißes, zerfasertes Schäferwölkchen wollte nicht von der Stelle. Wie angeklebt hing es am blauen Dach.
Und immer noch klang das Lied. Etwas Unbehilfliches, etwas Kindliches, Unschuldiges lagerte auf dem frischen Gesicht Breides.«
Dann besucht Breide ein Kätnerhaus und hilft der armen, kranken Frau sterben: »Die Frau erkannte Breide. Sie versuchte lächelnd sich emporzurichten. Es ging nicht. Nun versuchte sie's noch einmal, die abgemagerte Rechte um den Quast legend, der über ihrem Lager als Haltepunkt hing. Es ging nicht mehr. Da holte Breide alle Kinder herein und ließ sie ums Bett stehen. Das jüngste, auch schmierigste, nahm er auf den Schoß. Die Geschwister beobachteten ihn ernst, erstaunt, neugierig. Dann sprach er sanfte Worte der Sterbenden ins Ohr: sie solle ruhig sein, für ihren Mann und die Kinder würde er sorgen. Und als er das Gesangbuch auf dem Tische fand, las er ihr die herrlichen Verse:
Befiehl du deine Wege
Und alles, was dich kränkt,
Dem treuen Menschenhüter,
Dem, der die Himmel lenkt.
Und mit einem letzten dankbaren Blick auf ihre Kinder neigte die erlöste Frau das Haupt zur Seite und ging zu Gott.«
Die Innigkeit und Feinheit der Beobachtung von Natur und Menschen trifft hier mit der innern Beseelung durch ein reines, freies, starkes, keusches Gefühl zusammen und gibt so einen vollen, nachhallenden Klang. Nicht überall sonst wird dieser erreicht. Der Stil ist allzu ungleichmäßig. Wohl gibt es öfters überraschend schlagkräftige Bilder, so, wenn es vor der Entscheidung über sechsmalhunderttausend Mark im Glücksspiel heißt: »Stille des unentdeckten Goldklumpens«. Dann aber stehn in dem Werk wieder Wendungen, die unbesorgt um Feile und Sprachreinheit niedergeschrieben sind: »Über den Verbleib der Kinder uns zu besprechen, wollen Sie deshalb morgen um elf Uhr zu mir kommen«, oder: »Und alles das wurde in Kürze gegenseitig erzählt, was an den Gästen, an kleinen Ereignissen während des Abends aufgefallen war und sich ereignet hatte«. 270
Liliencron hatte im Beginn seiner Arbeit an Turgenjews »Tagebuch eines Jägers« erinnert, und es ist bezeichnend, wie alle die um 1880 zu ihrem Stil kommenden deutschen Erzähler irgendwie von dem großen Russen beeinflußt werden: Ferdinand von Saar, Marie von Ebner-Eschenbach, Rudolf Lindau, nun auch Detlev von Liliencron. Bei allen, und auch bei Liliencron entspricht freilich die Beeinflussung einer inneren Verwandtschaft. Bei jenen dreien lag sie mehr in der schmerzlichen Stimmung, in dem Gefühl, das der Russe so stark verkörperte, an die Wende zweier Zeiten gestellt zu sein. Und gerade der zweite Offizier in der Reihe, Ferdinand von Saar, erweist sich hierin, in der Kunst, flatternde Stimmungen einzufangen, als Turgenjews nächster Verwandter unter allen. Liliencron lockte anderes: die Feinheit der Naturbeobachtung, die Knappheit, mit der Iwan Turgenjew Freilufterlebnisse kleinster und scheinbar gleichgültiger Art festzuhalten wußte. Aber bei ihm ward das alles doch ganz deutsch, ganz norddeutsch, ja, besonders schleswig-holsteinisch eingegrenzt. An Wilhelm Jensens, des Landsmanns, feinste Arbeiten, seine zarten Novellen aus heimatlichem Umkreis, kann man denken, während freilich die unbeholfen nebeneinandergesetzte Schilderung der Gasterei auf Wittensee an ein von Liliencron hier mit höchstem Lob bedachtes Werk Jensens erinnert, das in Wahrheit zu den allerschwächsten dieses allzu fruchtbaren Dichters gehört, den Roman »In der Fremde« (1886). Der rasche, fast auf den ersten Blick erfolgte Zusammenschluß zweier Liebenden hatte Liliencron wohl an dem kleinen Roman angezogen, dann, wie er selbst sagt, die Schilderung der kleinen Stadt und vielleicht auch die maßlos übertriebene Bekämpfung völlig verzeichneter kirchlicher Rechtgläubigkeit. Mit der lag Liliencron innerlich immer wieder im Kampfe, und wenn er auch ausdrücklich Henning Hummelsbüttel seine Ehrlichkeit bescheinigt, so erkennt man deutlich die innerliche Abkehr von positivem Kirchentum, von jener Lebensluft, in der Liliencron einst erzogen worden war.
Gewiß erinnerte manches in der raschen Abwandlung der Ereignisse auch in diesem Buch an die allzu starke Abkürzung einzelner Dramen; es führen Linien von Breide Hummelsbüttel zurück zu Knut, dem immer Vertrauenden, Unbesorgten, dessen Augen wir uns auch »halb im Schlaf, halb im Wachen stehend« denken können. Und Henning Hummelsbüttel erinnert in seiner mystisch frommen Verzückung an den Wulff Wohnsfleth der »Rantzow und der Pogwisch«. Aber unverkennbar stand Liliencron hier auf viel festerem Boden als im dramatischen Gefüge; er weiß zu erzählen, manchmal so, daß nie 271 gestörte innere Spannung und Einstimmung entstehn. Die Lust und Begeisterung, mit der er in schwersten Tagen an dem Buch geschrieben hatte, durfte vorhalten; und wenn er »Breide Hummelsbüttel« einmal burschikos mit einem Hühnerkorb verglichen hatte, in dem viele edle Küchlein stecken, so bleibt an dem Vergleich jedenfalls so viel richtig, daß ihm hier ein lebendiges und lebendig gebliebenes Werk von unverkennbar eignem Ton gelungen war. Dankbar durfte Theodor Storm die »große Unmittelbarkeit« rühmen, die ihn daraus »wie mit heimatlichen Augen« ansah. 272