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Die tiefgreifende Umgestaltung der deutschen Verhältnisse durch den glücklichen Feldzug war auch von weiter Wirkung auf die militärische Verfassung Norddeutschlands: Preußen hatte drei große Provinzen gewonnen, und alle norddeutschen Bundesstaaten waren unter seine Heereshoheit getreten. Das ehemalige Kurhessen, Nassau und der zum Norddeutschen Bund gehörige Teil des Großherzogtums Hessen bildeten mit Frankfurt am Main jetzt den Bezirk des elften Armeekorps, und eine Reihe neuer Regimenter ward aufgestellt, unter ihnen das Infanterieregiment Nr. 81, dem später (im Jahre 1899) Kaiser Wilhelm der Zweite die Überlieferungen des ersten kurhessischen Infanterieregiments (Kurfürst) verlieh, einer Truppe, die in den Kriegen des achtzehnten Jahrhunderts rühmlich gekämpft und einmal auch von ihrem Landesvater im englischen Sold nach Amerika verliehen worden war. Liliencron, dessen Großvater an der Seite Washingtons kämpfte, stand also in einer Truppe, deren Stamm aus einem Regiment kam, das gegen den großen Befreier Nordamerikas gefochten hatte.
Kommandeur des Regiments war der Oberstleutnant Freiherr von Sell, ein strenger, aber gerechter, hervorragend begabter Führer, ohne Menschenfurcht, voll echter Kameradschaftlichkeit und innerer Güte. Liliencron selbst kam als Adjutant zum dritten, dem Füsilierbataillon, das der Oberstleutnant du Plessis führte.
Als ein ganz anderer gelangte Liliencron zum zweitenmal ins goldene Mainz. »Unter den Kameraden, die das Offizierkorps des im November 1866 neugebildeten 81. Infanterieregiments (ersten hessischen) in Mainz aus Truppenteilen alter und neuer Provinzen zusammensetzte, fiel Leutnant von Liliencron auf. Das verhältnismäßig sehr jugendliche Äußere, die kleine, zierliche Figur, der feine Kopf, das lichtblonde Haar, das frische, offne Gesicht, die lebhaften Augen, der intelligente Ausdruck, die gewandten Bewegungen, die bewußt militärische Haltung, und schon den Kriegsorden auf der Brust, alles stempelte den einige Jahre älteren Kameraden zu einer sympathischen Erscheinung.«
Das war der Eindruck der jüngeren Leutnants des Regiments. Der ihn so wiedergab, war Liliencrons liebster Genosse und Freund, der Freiherr Ernst von Seckendorff. Die beiden – Seckendorff war einige Jahre jünger – ergänzten sich vortrefflich. Während Liliencron aus ziemlich jungem Briefadel war, stammte Seckendorff aus 67 dem fränkischen Uradel, und zwar aus der Rinhofer Hauptlinie des alten Geschlechts. Liliencron war im Norden, jener am Rhein zu Hause, wo sein Vater als ausgezeichneter Jurist in hoher Stellung gewirkt hatte; zu der Zeit war der alte Freiherr von Seckendorff Obertribunalsrat in Berlin, und der Sohn war aus dem zweiten Garderegiment zu Fuß nach Mainz gekommen (später ward der Vater Seckendorff Oberreichsanwalt, während Seckendorffs Bruder Rudolf noch heute Präsident unseres höchsten Gerichtshofes ist). Liliencron war streng protestantisch erzogen, Seckendorff fromm katholisch. Aber beide trafen sich in starkem Adelsgefühl, großem Pflichtbewußtsein, lebhaftesten militärischen Neigungen, unverrückbarer Vaterlandsliebe. Beide hatten auch künstlerische Anlagen, und Liliencron beneidete Seckendorff oft um die Gabe lyrischer Äußerung. Dafür erfreute er den Kameraden mit Fantasien auf dem Klavier, und sie lauschten gemeinsam der schönen Kirchenmusik der katholischen Gotteshäuser. Sie lasen viel zusammen, zumal nachdem sie gemeinsame Wohnung genommen hatten. Seckendorff lag zuerst zwanzig Minuten oberhalb der Stadt in der Kaserne seines Bataillons, zog aber 1866 zu Liliencron in das Haus des Wagenlackierers Imhof, Domstraße 6, dicht beim Dom, im sogenannten Kalten Loch; vor dem Eingang zur Wohnung stand eine schöne Akazie.
Oft genug ergingen sich die beiden jungen Offiziere in tiefernsten religiösen Gesprächen; Liliencron hatte die Anregung dazu in den letzten Jahren gefehlt, desto durstiger nahm er sie jetzt auf. Er hatte mehr als einmal dem Tod ins Auge gesehn, hatte große und schwere Eindrücke erlebt; um so stärker trieb es ihn, Glauben und Glaubensvorschrift innerlich neu durchzuleben. Er empfand sich gegenüber dem frommen Katholiken Seckendorff als festen Protestanten und setzte sich mit ihm wohl einmal darüber auseinander, daß man eigentlich im strengen Sinn bis zur Betstunde den Soldaten gegenüber nach Gottes Geboten handeln müsse.
Aber nicht nur bei Seckendorff fand Liliencron Freundschaft und echte Kameradschaft; er war im ganzen Regiment beliebt wegen seiner anmutigen und formvollen Zurückhaltung, den jüngeren Offizieren durch Tüchtigkeit und Liebenswürdigkeit ein Vorbild, den jungen Fähnrichen und Fahnenjunkern ans Herz gewachsen durch besonderes Entgegenkommen und vornehme Rücksicht, wie denn der Eindruck der ersten frisch-herzlichen Begrüßung auf den neu von der Schule her eingerückten Eduard Rudowsky diesen nie wieder losließ. Allzu weit ging oft genug Liliencrons Opferwilligkeit, und fast mit Gewalt mußte 68 man manchmal Geschenke zurückweisen, die weit über seine Verhältnisse hinausgingen. Auch sonst schlug er leicht einmal über die Stränge, insbesondere in Stunden, wo er mit leichter gesinnten Regimentsgenossen beim Wein saß, oder während des Karnevals. Auch seine rasche Entzündbarkeit für weibliche Schönheit, bei der jedoch, nach dem Urteil aller Genossen, jeder kleinste gemeine Zug fehlte, spielte ihm manchen Streich. Ein hübsches Gesicht verlockte ihn zu raschester Werbung, und auf dem Karneval des Jahres 1869 verlobte er sich, schlank und zart im Gewande eines französischen Pagen, mit der eben auf dem Zivilkasinoballe kennen gelernten schönen Tochter des jüdischen Verlegers einer demokratischen Zeitung. Er hielt auch wirklich am andern Tage an, wurde aber von dem Vater ohne weiteres abgewiesen. Der Beichtvater solcher rasch aufflackernden Leidenschaften war der zweite Herzensfreund dieser Mainzer Jahre, der Sekondeleutnant Hermann Heinrich Otto Busse (aus Owinsk im Posenschen), Adjutant des ersten Bataillons (geboren 1843), eine lebenslustige, frische, echt soldatische Natur, in vielem der Gegensatz zu dem ernsteren Seckendorff. Auch mit Lothar von Trotha, dem späteren tapfern Kämpfer von Südwestafrika, mit dem Hauptmann Julius von Loewenfeld und mit dem 1868 jugendlich ins Regiment eingetretenen Karl Ernst Adolph hielt Liliencron gute Kameradschaft. Nicht immer gleich sicher wußte er sich mit den Untergebenen zu stellen, er griff auch da, wo es Not getan hätte, nicht fest genug zu und schadete dadurch seiner Stellung, so daß etwa der dicke Feldwebel Reuschel gelegentlich in Versuchung kam, beim Befehlsempfang die Grenzen des militärischen Respekts dem Adjutanten gegenüber zu durchbrechen. Groß waren Liliencrons Diensteifer und seine schneidige Tatlust; es kam wohl vor, daß er auf das erste Wort des Kommandeurs davonpreschte, ohne den Inhalt des Auftrags abzuwarten, und dann mit rotem Kopf zurückkam: »Was hatten Herr Major mir eigentlich befohlen?«
Liliencrons Tätigkeit als Adjutant des dritten Bataillons ging im Februar 1868 zu Ende, und er ward nun wieder Kompagnieoffizier. Aber seine ausgezeichneten militärischen Leistungen verschafften ihm ein halbjähriges Kommando zum Lehrinfanteriebataillon in Potsdam, wo er am 1. April 1869 antrat. Freilich drückte ihn hier die Geringfügigkeit seiner Zulage, die er selbst in Mainz alljährlich überschritt, so daß in jedem Jahr der Vater zugereist kam, um die für seine Verhältnisse schon wesentlichen Schulden des Sohnes zu bezahlen.
Auch anderes gestaltete den Aufenthalt in Potsdam unerquicklich. 69 Liliencron hatte in Mainz die Tochter des dortigen Buchdruckereibesitzers Gottsleben, Anna Gottsleben, lieb gewonnen und um die junge Dame, die er kaum je gesprochen hatte, angehalten. Der Vater wies den Bewerber schroff ab, da er seine Tochter niemals einem Offizier und Protestanten geben würde. Liliencron forderte daraufhin den Vater, der gar keine Antwort gab, und offenbarte sich von Potsdam aus seiner Mutter. Die Eltern waren über seine Absichten keineswegs erfreut, schon weil die junge Dame katholisch und nicht von Adel war, hielten aber doch nun ihrerseits für den geliebten Sohn um die Hand von Anna Gottsleben an. Die Antwort lautete wieder abschlägig und traf Liliencron so tief, daß er vor Kummer körperlich krank wurde, zumal da außerdem die Eltern durch einen verlorenen Rechtsstreit gleichzeitig um den Rest ihres Vermögens gekommen waren. Und neben dem allen ging ein schlechtes Verhältnis zu seinem Kompagniechef, mit dem Liliencron sich gar nicht stellen konnte; der Hauptmann machte ihn vor den Leuten in einer den kriegsbewährten, älteren Leutnant tief verletzenden Weise herunter. Liliencron besaß nach dem Zeugnis seiner Kameraden in hervorragendem Maße die Gabe, den Mund zu halten und im Dienst alles herunterzuschlucken, wenn auch eine rasch aufsteigende Röte die innere Erregung anzeigte. Das bewahrte ihn vor einem schweren Zusammenstoß, aber schließlich beantragte er ein Ehrengericht gegen sich und wurde daraufhin zu seiner großen Freude zu einer andern Kompagnie versetzt.
Potsdam machte ihm keinen sehr starken Eindruck, und er hat hier offenbar ähnlich empfunden, wie zwanzig Jahre früher sein Landsmann Theodor Storm; fehlten diesem zu Fontanes Spott die ehrlichen Kartoffelfelder, so vermißte Liliencron die großen Bäume. Nicht um eine Welt mochte er in Potsdam wohnen bleiben. Auch die Manöver in der sandigen Mark machten ihm weniger Freude als die im Hunsrück und Taunus, an denen er von Mainz aus teilgenommen hatte. Nur Sanssouci blieb ihm in unzerstörbarer farbiger Erinnerung.
Am 1. Oktober 1869 war das Kommando abgelaufen, und im November und Dezember nahm Liliencron einen längeren Urlaub in die Heimat. Hier frönte er unter den trüben häuslichen Verhältnissen seiner großen Leselust. Er war an die geschichtlichen Bücher von Wilhelm Baur geraten und erfreute sich an dessen Lebensgeschichte des Freiherrn vom Stein und kleineren Werken dieses Theologen, der der Mutter durch seine Arbeit für die innere Mission gewiß besonders lieb war. Sehr fleißig setzte er auch die mit Seckendorff eifrig getriebene Lesung der Kölnischen Zeitung fort. Und hatte er in der Zeit 70 seiner unglücklichen Liebe in Mainz sehr viel von Heine gelesen, so vertiefte er sich hier von neuem in Turgenjew, den auch Seckendorff liebte, während ihm Frau von Liliencron keinerlei Geschmack abgewinnen konnte. Immerhin konnte sich auch der Sohn, wohl mit unter dem Einfluß der Mutter, für die neuen Erzählungen des Russen nicht mehr so begeistern wie für die früheren; hatte er damals die Naturszenen meisterhaft gefunden, so stieß ihn jetzt ab, daß in den neusten Novellen »weder ein Funke von Moral noch von Moralität« vorhanden wäre. Dagegen entzückte ihn Theodor Storm. Er las »Auf dem Staatshof« wieder und lernte eine ganze Reihe anderer Werke seines Landsmanns kennen; »Abschied«, »Angelica«, »Posthuma«, »Im Sonnenschein«, »Ein grünes Blatt«, »Wenn die Äpfel reif sind«. Die kleine Erzählung »Auf der Universität«, die er einst mit Seckendorff gemeinsam gelesen hatte, war ihm ein »klein klein wenig« langweilig erschienen – die jetzt aufgenommenen Dichtungen aber fand er von einem Hauch der zartesten Poesie umweht. »Immensee« gewann er lieb. Auch Ästhetisches und Kulturhistorisches las Liliencron und unterbrach den Aufenthalt in Kiel durch Besuche bei den lieben alten Klosterdamen in Itzehoe und Preetz.
Hatten die Ausflüge der Kameraden von Mainz aus vornehmlich nach Norden, nach St. Goar, Caub, Koblenz geführt, so unternahm Liliencron nach der Rückkehr in seinen Standort im Juni 1870 eine kleine Pfingstreise nach Baden. Die Aussicht vom alten Schloß bis hinüber nach den Vogesen und Straßburg entzückte ihn. Er wanderte nach Schloß Eberstein, wo er die kleine führende Schwarzwälderin am Ausgangstor mit einem Kuß belohnte: »Sie hatte die merkwürdigsten Augen, die ich je gesehn habe: blaue, und der schwarze Stern darin hatte einen grünen Ring.« Auch Gernsbach wurde besucht, und Liliencron bewunderte den Blick auf die entfernten Berge, die ihm erschienen, als wenn sie grünschattierte Sammetjacken anhätten. Am Nachmittag frischte Liliencron die Erinnerung an jene verlorene Liebe wieder auf und lugte in das Elisabethstift hinein, in dem Anna Gottsleben erzogen worden war. Dann aber fuhr er zu Iwan Turgenjew, den er jedoch nicht zu Hause antraf. Dafür sah er die schöne Gestalt des russischen Dichters später auf dem Kurspaziergang.
Das war im Juni des Jahres 1870 gewesen. Wenige Wochen später spielte sich Mainz ganz nahe die Verhandlung zwischen König Wilhelm und Benedetti ab, die zum Bruch mit Frankreich und zum Krieg führte. 71