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Drei Jahre lang, von 1893 bis 1896, blieb Rasputin auf Wanderschaft. Er durchquerte im heiligen Russland Tausende und Abertausende von Werst, und nachdem er viele Länder und Menschen gesehen, nachdem er grosse Schwierigkeiten überwunden hatte, kam er schliesslich mit Petscherkin auf dem Berge Athos an.
Aber dieses ferne Kloster, das jedem wahren Orthodoxen ans Herz gewachsen ist, gefiel ihm ganz und gar nicht. Die Ordensregeln waren dort streng und hart. Gleich nach ihrer Ankunft mussten die beiden Freunde sich an die Arbeit begeben. Das war nicht nach Rasputins Geschmack. Er war von Natur aus faul. Ausserdem waren die Frauen aus den russischen Klöstern verbannt. Auf der ganzen Halbinsel von hundert Kilometer Länge und zwanzig Kilometer Breite, auf der sich die Klöster des Berges Athos erhoben, nicht eine einzige Frau! Rasputin litt mit seinem leidenschaftlichen und stürmischen Temperament unter dieser erzwungenen Enthaltsamkeit. Eines Tages ging er mit Petscherkin durch den Wald, der das Kloster umsäumte, und überraschte dort in einem Graben einen Mönch mit einem jungen, hübschen Novizen. Das war für den sibirischen Bauern, der in seinem Gefühlsleben sehr naturnahe geblieben war, ein ganz neuartiges Laster. Er spuckte voll Verachtung aus und erging sich in Schmähungen gegen das Leben, das man im Kloster führte. Kurze Zeit darauf verliess er den Berg Athos, um nach Russland zurückzukehren. Petscherkin dagegen blieb dort, wurde Mönch und starb auf dem Berge Athos.
Von dem Augenblick an, in dem Rasputin jetzt allein seinen Rückweg wieder antrat, kennt man sein Leben – oder vielmehr Fragmente seines Lebens – nur aus seinen eigenen Erzählungen. Und doch ist diese Periode seines Daseins von wesentlicher Bedeutung, denn gerade im Laufe dieser Jahre wird er zu jener tragischen Persönlichkeit – Staretz für die einen, heiliger Teufel für die anderen, Flagellant und Scharlatan für die dritten –, die eines schönen Tages in St. Petersburg auftauchte und vor der sich so viele schlichte Menschen und so viele Mächtige dieser Welt in tiefer Verehrung beugten.
Rasputin suchte die Lösung der Fragen, die ihn quälten, im Besuch der heiligen Stätten, in Unterhaltungen mit der offiziellen Geistlichkeit und mit Mönchen, in Gesprächen mit Wanderern und Pilgern. Wo lag der Weg zum Heil? Wie konnte man seine Seele retten? Das Kloster hatte ihn nicht befriedigt, denn Fleisch und Geist lagen in Rasputin in ununterbrochenem Kampf. Er diskutierte in gleicher Weise mit Vertretern religiöser Sekten, mit »Alt-Gläubigen«. Jeder von diesen Menschen suchte auf seine Weise den Weg des Heils. Alle glaubten, ihn entdeckt zu haben, und alle glaubten, den wahren Gott gefunden zu haben. Und ebenso traf er mit »Chlysty« zusammen, den Anhängern eines exaltierten, mysteriösen Flagellantismus, und es schien ihm, dass es in ihrer Lehre sehr viele merkwürdige und höchst interessante Punkte gäbe.
Allmählich gewöhnte er sich so sehr daran, in dieser Atmosphäre des Suchens nach der göttlichen Wahrheit zu leben, nach und nach wurde er so versiert in den religiösen Fragen, dass er mit grösserer Sicherheit zu sprechen und zu diskutieren lernte und auch anfing, andere zu belehren.
Mit seiner mittelgrossen, nervigen, knochigen Figur, seinem mageren, gelblich-blassen Gesicht, dem wildbuschigen Bart machte er einen ungeheuer starken Eindruck, um so mehr da er seinen Gesprächspartner mit seinen blitzenden Augen prüfend zu mustern, ja geradezu zu durchdringen pflegte. Er hatte eine abgehackte Sprechweise und redete in Rätseln. Er zitierte häufig die Evangelien und die Kirchenväter. Und während er sprach, hörte er nicht auf, an seinem Bart herumzuarbeiten, aufgeregte Gesten zu machen und dem anderen prüfende, misstrauische Blicke zuzuwerfen. Man hätte meinen können, dass er dem anderen bis auf den Grund der Seele sah, um festzustellen, was da unten vorging und was für eine Art Mensch er vor sich hatte.
Es war etwas Merkwürdiges an diesem Rasputin: man merkte ihm an, dass ihn eine auffallende innere Kraft bewegte. Später hat man von einer Art Hypnose gesprochen. Wenn er die Augen auf seinen Partner gerichtet hielt, schien er auf seinem Gesicht lesen zu können; er sprach ihm von seiner Vergangenheit und sagte ihm Kommendes voraus, so dass man hätte glauben können, dass er die Gabe hätte, in die Zukunft zu blicken. Besonders die Frauen betrachteten ihn als Propheten und Heiligen.
Gut und Böse, Gott und Teufel lieferten sich in Rasputins Inneren erbitterte Kämpfe. Nach seiner Auffassung war das Kloster nicht der Weg zum Heil. Dazu war die fleischliche Glut viel zu stark in ihm. Trotz des religiösen Geistes sah sich Rasputin doch zur Sünde hingerissen. Er sündigte gerade mit den Frauen, mit denen er betete und mit denen er sich über das Seelenheil unterhielt. Rasputin kämpfte mit sich. Er wollte seine Seele stark machen. Manchmal gelang es ihm; meistens aber besiegte ihn sein Begehren, sein Temperament und die Willfährigkeit der Frauen.
Man musste eine Möglichkeit finden, Gut und Böse auszusöhnen! Er fand sie bei den Anhängern gewisser Sekten, mit denen er während seiner Wanderschaften sich zu unterhalten Gelegenheit hatte. Obgleich er im Grunde orthodox blieb, entlehnte er von diesen Sekten gewisse Punkte ihrer Lehre, die mit seiner Natur in Einklang standen. Er liebte es, sich irgend jemandem, irgend etwas zu unterwerfen, sogar der Autorität der Kirche. Und daher entlehnte er vieles nicht nur von den Sekten, sondern auch von der Kirche, aber überall nur das, was für ihn vorteilhaft war und was ihm passte. Unter anderem schöpfte er so reichhaltig aus der Lehre der »Chlysty«, der Flagellanten, dass es bei seiner Rückkehr nach Pokrowskoje nicht verborgen blieb.
Diese mystische Sekte der »Chlysty« oder »Gottesmänner«, wie sie sich selbst nannten, stammte aus dem ersten Drittel des XVII. Jahrhunderts. Sie wurde von einem abtrünnigen Bauern des Gouvernements Kostroma, Danila Philippow, ins Leben gerufen.
Die Lehre der Chlysty sagt darüber:
»Eines Tages stieg Danila auf das Gebirge Gorodino, und dort stieg mitten unter den Engeln, Erzengeln, Seraphinen und anderen himmlischen Heerscharen der Herr Zebaoth selbst vom Himmel hernieder. Die himmlischen Heerscharen stiegen wieder zum Himmel empor, doch der Herr Zebaoth inkarnierte sich in Danila Philippow und blieb in der Gestalt eines Menschen auf Erden.«
Danila Philippow wurde zum »lebendigen Gott« und seine Anhänger zu »Gottesmännern«. Er gab zwölf Gebote heraus. Im ersten proklamierte er sich als Gott und verlangte, dass man ihn anbetete. In den anderen verbot er: alkoholische Getränke zu trinken, sich zu verheiraten, Obszönitäten zu sagen, bei Hochzeiten und Taufen zugegen zu sein, zu stehlen. Die Anhänger mussten die Gebote geheimhalten und in gutem Einvernehmen miteinander leben. Im zwölften Gebot sagte er: »Glaubt an den Heiligen Geist!«
Die Predigten des Danila Philippow hatten grossen Erfolg. Trotz aller Verfolgungen machte die Sekte im Laufe der Zeit rasche Fortschritte.
Nach ihrer Lehre kann sich der Heilige Geist gleichzeitig in zahlreichen Anhängern ihrer Sekte niederlassen, ebenso kann Christus sich in mehreren Anhängern inkarnieren. Der Christus aller Christen ist kein Gott; er ist nur ein Lehrer und Gesetzgeber für seine Anhänger. Das Fundament ihres Glaubens und ihrer Morallehre ruht in den Lehren ihrer »Christusse«. Sie erkennen die Riten der orthodoxen Kirche nicht an, aber sie tun so, als ob sie sie beobachteten, um sich keinen Verfolgungen auszusetzen.
Ihre Morallehre beruht auf dem Dualismus von Geist und Körper: der Geist ist das Prinzip des Guten, der Körper ist das Prinzip des Bösen. Man muss die Bedürfnisse des Körpers ersticken. Mit seiner legitimen Frau Beziehungen zu unterhalten, ist verboten. Doch mit der Frau im Geiste, den der »Christus« verleiht, sind fleischliche Beziehungen erlaubt, denn dann handelt es sich um eine Manifestation der Liebe als Geist.
In den Dörfern versammelten sich die Chlysty gewöhnlich in Kellern oder in Scheunen im Hintergrunde der Höfe. Der Gottesdienst begann mit Hymnen, die bald melancholischen Charakter hatten, bald voller Jubel waren, je nach den Umständen und dem Charakter des Gottesdienstes. Dann folgte die »Radenje«, die Inbrunst, die bis zur Ekstase getrieben wurde. Die erotische Erregung spielte bei den Inbrunsten der Chlysty eine besondere, sogar eine überragende Rolle.
Zur Zeit, als Rasputin sich auf Pilgerschaft befand, war die Sekte der Chlysty in mehr als dreissig Gouvernements und Territorien Russlands verbreitet. In den einzelnen Gegenden nahm sie die verschiedensten äusseren Formen an, bediente sich vielfach sogar ganz verschiedener Bezeichnungen.
Drei Jahre lang blieb Rasputins Frau ohne jede Nachricht von ihrem Mann. Sie wusste nicht einmal, ob er überhaupt noch am Leben war. Während dieser Zeit starb seine Mutter. Praskowia war eine schöne junge Frau von blühender Gesundheit und ertrug die Abwesenheit ihres Mannes nicht leicht.
Eines Abends klopfte es an die Tür der Isba. Praskowia fragte, wer da sei. »Ein Händler, der gerne Seide vorlegen möchte!« antwortete man. Sie öffnete die Tür: es war Grigori. Einen Augenblick dauerte es, bis sie ihn erkannte; so sehr hatte er sich verändert. Sein wilder Bart und die langen Haare, die ihm von der Stirn herunterfielen, verdeckten sein Gesicht. Praskowia erkannte ihn aber an den brennenden, lachenden Augen, die sie zu durchbohren schienen. Sein Vater stieg von dem Hängeboden herunter, man umarmte und küsste sich, und es war des Fragens kein Ende.
Am nächsten Tage gab es in der Isba ein ständiges Kommen und Gehen von Nachbarn. Jeder wollte den Heimkehrer sehen und seine Geschichten hören. Grigori hatte anfangs nur seine Abenteuer erzählt, dann aber ging er allmählich dazu über, seine Zuhörer zu belehren, wie er es sich während der Jahre seiner Wanderschaft angewöhnt hatte. Die bäuerlichen Beschäftigungen waren für ihn fortab ohne jedes Interesse. Er, der nie sehr arbeitsam gewesen war, hatte jeglichen Geschmack an der Arbeit verloren.
Aus dem Keller unter dem Pferdestall machte Rasputin ein Betzimmer. Er hing heilige Bilder an die Wände. Eine kleine Oellampe unter einem Ikon tauchte die Zelle in ein weiches Licht, Kerzen verbreiteten ihren flackernden Schein. Hierhin zog er sich zum Beten zurück.
In der Isba, dem Wohnzimmer, fanden endlose Unterhaltungen statt. Diese Diskussionen wurden besonders leidenschaftlich, wenn ein durchziehender Pilger daran teilnahm. Man interpretierte die Evangelien und die Kirchenväter. Heftige Kontroversen tauchten auf. Rasputin hatte dabei eine ganz besondere Art, zu sprechen und sich vom Thema durchdrungen zu zeigen. Man hörte ihm mit Bewunderung zu. Bald hatte er Schüler. Um ihn herum bildete sich eine Art von religiösem Zirkel, deren Mitglieder sich »Brüder« und »Schwestern« nannten. Sie kamen zum Beten und zum Singen frommer Psalmen zusammen, und dabei sang man auch gewisse Lieder der Chlysty.
Im Dorf begann man aber bald zu tuscheln: seltsame Dinge hatten sich bei den Rasputins abgespielt; Rasputin und seine Schüler nahmen gemeinsame Bäder, Männer und Frauen zusammen, und was sich dabei ereignete, war weit davon entfernt, harmlos zu sein; sie organisierten »Inbrunsten«!
Diese Gerüchte kamen auch zu Ohren des Priesters, des Paters Piotr, der sich schliesslich darüber beunruhigte. Schon bald nach Grigoris Rückkehr hatte er sich über die seltsamen Erzählungen, die Rasputin über den Berg Athos in Umlauf setzte, geärgert. Er erkundigte sich ausführlicher bei seinen Pfarrkindern, bekam auch Auskünfte und sandte nun an seinen Vorgesetzten, den Bischof von Tobolsk, eine Anzeige gegen Rasputin, in der er ihn beschuldigte, illegale Zusammenkünfte und Chlysty-Gottesdienste zu organisieren. Insbesondere gäbe es bei Rasputin, so schrieb er, einen Bottich, um den herum Tänze und »Inbrunsten« stattfänden.
Der Bischof von Tobolsk gab Anweisung, eine Untersuchung wegen Sektiererei zu eröffnen. Ein Missionar, der Pater Berioskin, wurde mit der Untersuchung beauftragt. Wenn die Beschuldigung begründet war, musste die Sache an den Untersuchungsrichter weitergeleitet werden. Die kirchlichen Behörden wandten sich an die Polizei, und eines schönen Tages fand eine Haussuchung statt. Rasputin war gerade abwesend. Man durchsuchte mit aller Gründlichkeit die Isba, den Hof, den Pferdestall, aber man fand nichts Verdächtiges, abgesehen von der kleinen Zelle, in der Grigori seine Gebete verrichtete. Vergebens suchten die Beamten, selbst unten im Keller, die inkriminierte Badewanne. Man vernahm die Leute aus dem Hause: es gäbe bei ihnen nur diesen einen Bottich, antworteten sie, der offen auf dem Hofe stehe und mit Wasser gefüllt sei, sonst nichts dergleichen.
Der Brigadier verschwieg der Frau Rasputins nicht, dass man ihren Mann im Verdacht habe, der Sekte der Chlysty anzugehören, und dass eine Anzeige seitens des Paters Piotr gegen ihn vorliege. Praskowia geriet in grosse Wut und erging sich in Schmähungen gegen den Reverend. Die Polizei ging wieder, aber schon kurze Zeit darauf fand eine neue Haussuchung statt. Wieder durchsuchte man den Kellerraum, man schaffte die Kartoffeln zur Seite, schob die Mehlsäcke fort. Als die Beamten wieder zum Vorschein kamen, waren sie vom Kopfe bis zu den Füssen weiss, aber sie hatten nichts Verdächtiges gefunden.
Praskowia sah ihnen voller Wut nach, als sie gingen, und murmelte vor sich hin: »Wenn ich das vorher gewusst hätte, dann hätte ich alles mit Russ eingerieben! Dann wäret ihr nicht weiss, sondern schwarz fortgegangen!«
Dieses Mal allerdings verlangte die Polizei, dass die Betstube aufgelöst würde, und als Grigori nach Hause kam, musste er seine Heiligenbilder in die Goritsa, ins Fremdenzimmer, bringen.
Aus Mangel an ausreichenden Beweisen gab man die Sache nicht an den Untersuchungsrichter weiter. Rasputin wurde also nicht weiter behelligt. Das betreffende Aktenstück ist in den Archiven des Konsistoriums von Tobolsk und der Heiligen Synode aufbewahrt worden.
In der Zeit zwischen Rasputins Rückkehr und dem Jahre 1900 schenkte Praskowia ihrem Manne drei Kinder: eine Tochter Matrona im Jahre 1897, dann einen Sohn Dimitri und im Jahre 1900 eine Tochter Warwara. Diese Geburten, die mit der Lehre der Chlysty im Widerspruch stehen, fallen gerade in jene Zeit, als Rasputin gewisse Praktiken dieser Sekte durchführte.
Ob ihn die behördlichen Verfolgungen, denen er ausgesetzt war, in Unruhe versetzten, oder ob er wirklich von religiösem Gefühl getrieben war – jedenfalls machte Rasputin sich bald nach den Haussuchungen wieder auf den Weg, und zwar pilgerte er nach Kiew.
»Kiew, die Mutter der russischen Städte«, sagt das russische Volk. Dort ist eines der berühmtesten und ältesten russischen Klöster: die Lawra mit den Katakomben. Die Keller, in denen die Gebeine der Heiligen ruhen, zogen jedes Jahr Hunderttausende von Pilgern an. Es war also nichts Besonderes, dass auch Rasputin den Wunsch verspürte, dorthin zu pilgern.
Nachdem er die Lawra in Kiew besucht hatte, machte er sich wieder auf den Rückweg und wanderte über Kasan. Kasan, eine grosse, schöne Stadt an der Wolga, ist das viertgrösste russische Zentrum für religiöses Unterrichtswesen. Es gab dort neben Petersburg, Moskau und Kiew eine theologische Fakultät, ausserdem Lehrkurse für Missionare und ein Kloster. Kasan galt als Zentrum für die »Alt-Gläubigen«. Ausserdem lebten dort, wegen der grossen tatarischen Kolonie, viele Anhänger der muselmanischen Religion. Alles das machte diese Stadt in religiöser Hinsicht recht interessant. Rasputin gefiel sie, und er blieb dort. Das war zu Anfang des Jahrhunderts. Und in Kasan erlangte er alsbald einen gewissen Ruf, bevor sein Name sich über die Welt verbreitete.
Hier machte er auch die Bekanntschaft des Reverend Pater Michail vom Grossen Seminar. Das war ein magerer, kleiner Mann, kahlköpfig, das Gesicht bedeckt von einem dichten schwarzen Bart, ein Mönch, der vom Judentum zum Christentum übergetreten war, ein sehr exaltierter Mensch. Er galt für klug und für gelehrt. Ein paar Jahre später wurde er »Alt-Gläubiger«, wurde Bischof und donnerte gegen die orthodoxe Kirche.
Rasputin machte damals auch die Bekanntschaft des Volksvikars Chrisanth und des Bischofs Andrei (Prinz Uchtomski). Der erste wurde ein grosser Bewunderer Rasputins, während Andrei sich schon im Jahre 1903 in sehr abfälliger Weise über ihn ausliess.
Rasputin wurde auch in mehrere Familien in Kasan eingeführt, wo er dann seine ersten weiblichen Bewunderer fand. Hier, in diesen intellektuellen Milieus, betrachtete man Rasputin zum erstenmal als einen Mann Gottes, als einen »Staretz«. Die Damen waren von ihm tatsächlich wie verhext, schreibt zu jener Zeit ein sehr ehrbarer Bürger von Kasan. Es gab Häuser, in denen höchst tugendsame Familienmütter Rasputin erlaubten, ihre Töchter zu küssen, weil sie davon überzeugt waren, dass dies für den heiligen Mann gut sei. Man legte sich mit dem Staretz ins Bett und liess sich von ihm küssen und umarmen, um damit eine von ihm auferlegte Busse zu vollziehen. Man muss dabei daran denken, dass der Beginn des XX. Jahrhunderts eine Zeit war, wo man in gewissen intellektuellen Schichten auf jedem Gebiet auf der Suche nach neuen Wegen war.
Was war es eigentlich, was die Damen von Kasan so hinriss und faszinierte? Ein origineller Gesichtspunkt, eine einfache, kurze und bilderreiche Sprache; ausdrucksvolle Augen, die einen zu durchbohren schienen; ein gut ausgeprägter Typ ohne Disharmonie, und schliesslich die Tatsache, dass der Staretz bis zu einem gewissen Grade die Gabe hatte, diejenigen, die mit ihm zusammenkamen, zu hypnotisieren.
Als der Staretz dann Kasan wieder verlassen hatte, hörten, mit wenigen Ausnahmen, seine weiblichen Bewunderer auf, ihn anzubeten. Sie erröteten fortan über ihre Eingenommenheit und bemühten sich, den Gegenstand ihrer Bewunderung aus ihrer Erinnerung zu verbannen.
Aus diesen intellektuellen Kreisen Kasans, in denen sich all diese Dinge abspielten, drangen die ersten Gerüchte über den Staretz nach St. Petersburg in Kreise, die dem Hof nahestanden. Die Akademie von Kasan war es, die die ersten günstigen Auskünfte über Rasputin gab und ihn sogar, worauf wir später noch zurückkommen werden, der Theologie-Akademie in Petersburg empfahl, wobei sie ihn als einen Mann hinstellte, der ein heiliges Leben führte, als einen Propheten, als einen Staretz.
Wenn sich nun auch Rasputin in den intellektuellen Kreisen Kasans in diskreter Weise betrug und keinen Anstoss erregte, so machte er es aber ganz anders, wenn er mit Frauen aus dem Volke zusammen war. Bei ihnen war er viel freier und weniger vorsichtig bei der Anwendung seines Systems zur Erlangung des Seelenheils. Und daher wurde gleichzeitig gerade von Einwohnern der Stadt Kasan zum erstenmal die Beschuldigung der Unzucht gegen ihn erhoben.