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Die Petersburger Atmosphäre

Zu Beginn des XX. Jahrhunderts nahmen gewisse Kreise der Petersburger Gesellschaft ein ganz besonders reges Interesse an religiösen Fragen. Die russische »Intelligentsia« kommt auf dem Gebiete des Geisteslebens niemals ganz zur Ruhe. Immer ist sie auf der Suche nach neuen Dingen, und in den genannten Kreisen standen die religiösen Fragen auf der Tagesordnung. Ueberall sprach man von Religion, von Christentum, von den Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft. Ein Teil der bedeutendsten Schriftsteller marschierte an der Spitze dieser Bewegung. Zirkel und Gesellschaften bildeten sich, so die »Gesellschaft für Religion und Philosophie«, in der Laien mit Vertretern der Kirche diskutierten. Gewisse Salons der grossen Gesellschaft, in denen man sich früher schon mit religiösen Fragen beschäftigt hatte, erlebten einen neuen Aufschwung. Manche interessierten sich ganz besonders für die Vertreter des »Volksglaubens«, für die Wandersleute, die »heiligen Kinder«.

Ein Mann namens Mitia aus der Stadt Koselsk wurde deshalb damals sehr berühmt. Er war Stotterer, halb taub, halb stumm, sprach nur zusammenhanglose Worte, stiess nur eine Art Gebrüll aus. Doch kam es manchmal vor, dass er auch sprechen konnte. Man lud ihn in den Salons ein und behandelte ihn mit grösster Zärtlichkeit und Rücksicht. Die Schwärmerei ging so weit, dass eine Schülerin des Smolny-Instituts, in dem die jungen Mädchen der hohen Aristokratie erzogen wurden, Mitia in einem Anfall von religiöser Exaltiertheit heiratete. Sogar die Vertreter der hohen Geistlichkeit der Hauptstadt behandelten Mitia voller Achtung. Alle sahen in ihm einen »Gottesmann«, einen unschuldigen Heiligen, einen »Jurodiwy«.

Der Prinz Jewachow, der ehemalige Adjunkt des Hohen Prokurators der Heiligen Synode, sagt darüber in seinen Erinnerungen folgendes:

»Die Mitglieder der Petersburger Gesellschaft, und ihre Prälaten an der Spitze, hatten sogar zu dem Stotterer Mitia Zutrauen, nicht etwa blindlings, sondern im Gegenteil, weil sie ausserordentlich empfindsam gegenüber allen Manifestationen des religiösen Lebens waren. Sie wollten lieber einen Sünder für einen Heiligen halten, als möglicherweise irrtümlich einen Heiligen links liegenlassen und zurückstossen.«

Die theologische Akademie in der Alexander-Newski-Lawra war in der Hauptstadt das eigentliche Zentrum für religiöse Erziehung. Ihr Rektor war der Bischof Sergi, das spätere Oberhaupt der russischen orthodoxen Kirche, damals ein junger Mensch mit sympathischem Gesicht, ein grosser Mystiker und Bewunderer des »Volksglaubens«. Der Inspektor der Akademie, der in unmittelbarem Kontakt mit den Studenten stand, war der Bischof Theophan, der mit aussergewöhnlichen moralischen Qualitäten eine auffallende theologische Gelehrsamkeit verband. Auch er war bis aufs äusserste vom Mystizismus durchdrungen, war ein Asket im vollen Sinne des Wortes.

Diese geistige Haltung der Leiter der Akademie schuf in der Anstalt eine ganz besondere Atmosphäre. Mitia war dort beliebt und wurde empfangen. Ein junger Student, Sergei Trufanow, der später unter dem Namen Iliodor Mönch wurde, hatte Mitia in Kronstadt entdeckt und mit an die Akademie gebracht, wo man diesem aus dem Volke hervorgegangenen »Gottesmann« sofort mit grossem Respekt begegnete.

Es war gegen Ende des Jahres 1902, als der Name Rasputin zum erstenmal an der Akademie ausgesprochen wurde. Von Kasan herüber war das Gerücht gekommen, dass in Sibirien ein Prophet namens Grigori aufgetaucht sei, ein Mann voll göttlicher Klarheit, ein Asket, der Wunder tun könne. Man sprach über ihn in den Kreisen der Studenten, aber auch in den Kreisen der Akademieleiter. Der Bischof Theophan gab dann bekannt, dass ein Prior den Grigori nach Petersburg bringen solle, und die Studenten, darunter auch Iliodor, warteten voller Ungeduld auf diesen aussergewöhnlichen Mann, auf diesen »Staretz«.

Im Frühjahr lief plötzlich eines Tages die Neuigkeit durch die ganze Akademie, dass der »Staretz« eingetroffen sei. Der Prior Chrisanth, der Leiter der religiösen Mission von Korea, hatte ihn nach Petersburg gebracht und gleichzeitig mit ihm noch ein Empfehlungsschreiben des Bischofs Michail aus Kasan. Der Staretz wurde den Bischöfen Sergi und Theophan vorgestellt. Er erhielt Wohnung bei Theophan, unterhielt sich oft mit den Studenten und weissagte verschiedenen von ihnen die Zukunft.

Im Dezember liess ihn der Bischof Theophan im Korridor der Akademie die Bekanntschaft des Iliodor machen, der einen Monat vorher Mönch geworden war. Iliodor war im ersten Augenblick einigermassen erstaunt, als er diesen Bauern mit schmutzigen Händen vor sich sah, der einen alten grauen Rock und hohe Teerstiefel trug und dessen Kleider einen üblen Geruch ausstrahlten. Sie küssten sich. Rasputin bohrte dann seine Blicke in Iliodors Augen, klopfte ihm auf die Schulter und sagte zum Bischof Theophan: »Das ist ein Mann, der scharf betet! … Oh, wie betet er scharf!«

Iliodor verneigte sich und wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Der Bischof Theophan nahm Rasputin am Arm und führte ihn nach Hause. Von diesem Tage an wurde der junge Mönch ein glühender und fanatischer Bewunderer des Staretz.

Ein anderer Bewunderer war der Pater Weniamin, der bei der Akademie geblieben war, nachdem er seine Examina mit Erfolg bestanden hatte. Er war der Typus des aus dem Volke hervorgegangenen russischen Mönches: ein Mann von starkem Knochenbau, mit gesunder Gesichtsfarbe und einem ins Rötliche gehenden Bart. Sein Mystizismus grenzte an Neurose. Er glaubte von der ersten Sekunde an und unerschütterlich wie Eisen an die Heiligkeit Rasputins. Man kann sagen, dass es in der Geistlichkeit in diesem Augenblick keine glühenderen Anhänger des »Staretz« gab als die beiden gelehrten Mönche Weniamin und Iliodor.

Rasputin lebte damals in einer kleinen Siedelung. Dort machte er die Bekanntschaft von mehreren Priestern und befreundete sich mit dem Pater Jaroslaw Medwed, der eine Zeitlang der Beichtvater der Grossfürstin Militsa Nikolajewna war. Er ging nach Kronstadt und erhielt dort den Segen des Pater Jean.

Schon lange war der Name dieses Paters Jean aus Kronstadt allen orthodoxen Russen bekannt. Alle, vom schlichten Bauern bis zum Zaren selbst, hatten Vertrauen zur Macht seiner Gebete. Er verrichtete Wunder. Man betrachtete ihn als einen Heiligen. Zahllose Pilger aller Klassen und aller sozialen Schichten strömten nach Kronstadt, wo er als Erzpriester an der Kathedrale amtierte. Ohne abzureissen, fanden dort gemeinsame Gebete und gemeinsame Beichten statt. Seit vielen Jahren hatte das heilige Russland so etwas nicht erlebt.

Auch Rasputin betete in Kronstadt, beichtete und empfing die Kommunion aus den Händen des Paters Jean. Rasputin selbst und seine Tochter Matrona haben später erzählt, dass Grigori dem Pater unter den Gläubigen aufgefallen sei, und dass der Pater ihn aufgefordert habe, vorzutreten, um ihn vor den übrigen kommunizieren zu lassen. Bei Rasputins Abreise soll der Pater Jean ihn gesegnet und dabei gesagt haben: er sende ihn aus, um die grosse Mission zu erfüllen, die ihm von der Vorsehung vorgezeichnet sei. Die Petersburger Anbeterinnen haben später alle an diese heilige Mission des Staretz geglaubt, und Grigori selbst war davon überzeugt, dass Gott ihn auserwählt habe.

Nachdem er sich einige Zeit in Petersburg aufgehalten hatte, ging er wieder nach Pokrowskoje. Er schilderte seinem Vater, seiner Frau und allen Freunden, mit welcher Achtung man ihm in der Hauptstadt begegnet war, und wie der Pater Jean in Kronstadt ihn vor allen Uebrigen ausgezeichnet habe. Wenn er sich seiner Erfolge erinnerte, packte ihn die Lust, nach Petersburg zurückzukehren.

Einige Zeit nach Grigoris Fortgang, im Januar 1904, war jedoch in Petersburg der Bischof von Wolhynien, Antoni, ein eminenter, von religiöser Kultur durchdrungener Prälat, eingetroffen. Er wohnte in der Lawra und hatte dort Gelegenheit, von Rasputins vorübergehendem Aufenthalt und von dem Eindruck, den er in Petersburg gemacht hatte, sprechen zu hören. Bischof Antoni war selbst Rektor einer der theologischen Akademien gewesen; trotzdem er diesen Posten aufgegeben hatte, interessierte er sich immer noch für alles, was in diesen Lehranstalten vorging, und betrachtete sich als Freund der jungen Theologiestudenten. Nun traf es sich, dass er ziemlich detaillierte Auskünfte über die Theologie-Fakultät in Kasan und über das Leben, das Rasputin dort geführt hatte, besass. Und er war es, der als erster eine Warnung vor Grigori aussprach. In seiner ungeschminkten und bilderreichen Sprache setzte er die Bischöfe Theophan und Sergi und die Studenten ins Bild und empfahl ihnen Vorsicht: man dürfe zu Rasputin, der ein so ausschweifendes Leben in Kasan geführt habe, keinen Glauben haben; ein solcher Mann sei kein Gerechter und kein Staretz.

Doch der Krieg mit Japan lenkte alsbald die allgemeine Aufmerksamkeit nach dem Osten, und darüber schien man Rasputin vergessen zu haben.

 

Da kam das Jahr 1905, das für Russland so ereignisvolle Jahr. Der harte, unglückliche Krieg mit Japan dauerte an. Am 9. Januar fand unter Führung des Priesters Gapon in Petersburg eine Arbeiterkundgebung statt, die mit Flintenschüssen auseinandergetrieben wurde. Eine breite revolutionäre Bewegung löste sich in ganz Russland aus. Die Niederlagen der russischen Armee stachelten die allgemeine Unzufriedenheit auf. Ein Terrorist tötete den Grossfürsten Sergi Alexandrowitsch, den Onkel des Zaren. In der Petersburger Gesellschaft und in der Umgebung des Hofes herrschte grosse Unruhe.

siehe Bildunterschrift

Frau O. Lochtina, die glühendste Verehrerin Rasputins.

Da erschien Rasputin zum zweiten Male in Petersburg. Er stieg in der Siedlung, der »Podvorie«, des Berges Athos ab. Wieder wurde er von seinen Protektoren aus der theologischen Akademie mit offenen Armen empfangen. Wieder Unterhaltungen, Diskussionen, Predigten. Der Umgang mit diesen hervorragenden Lehrern erweiterte Rasputins theologische Ausbildung. Das ermöglichte es ihm, die zahlreichen Glaubensfragen besser zu beantworten, die seine Bewunderer ihm in seiner Eigenschaft als Staretz vorlegten. Zunächst handelte es sich bei diesen Bewunderern einzig und allein um Bauern, aber später erschienen auch Vertreter der gebildeten Stände.

Rasputin wurde von einigen bürgerlichen Familien, dann aber auch in einigen Salons empfangen. So wie manche vorher dem Pater Petrow, dem Georgi Gapon und anderen einen triumphalen Empfang bereitet hatten, so war man jetzt ebenfalls voller Begeisterung für den neuen Meister, den neuen Propheten. Um diese Zeit herum heilte Rasputin gerade die Frau O. V. Lochtina, die lange Zeit krank gewesen war und bei ihren Aerzten keine Heilung gefunden hatte. Frau Lochtina war die Frau eines Ingenieur-Staatsrates, eine schöne und reiche Grundbesitzerin. Nachdem Rasputin sie von ihrer Krankheit geheilt hatte, wurde sie für immer seine leidenschaftlichste und aufrichtigste Anhängerin, die bereit war, ihm jedes Opfer zu bringen. Sie sah in ihm nicht nur einen Mann, der vom Allerhöchsten die Gabe des göttlichen Klarblicks erhalten hatte, sondern sie ging sogar so weit, ihn »Christus« zu nennen. Ihre Anbetung grenzte an mystischen Wahnsinn, wenn man darin vielleicht nicht gar einen Beweis dafür erblicken muss, dass sie eine Anhängerin der modernisierten Lehre der Chlysty war, die davon ausging, dass Christus sich auch heute noch in Anhängern ihrer Sekte zeigen könne. Frau Lochtina folgte Rasputin, wie die Jünger ihrem Meister folgen; sie sagte der Welt Lebewohl, wurde eine seiner Vertrauten, seine Privatsekretärin. Rasputin begreift sofort, dass diese Frau ihm in der Hauptstadt nützliche, ja sogar unerlässliche Dienste leisten kann, und tut alles, um sie an sich zu fesseln.

Theophan, der Beichtvater der Grossfürstin Militsa Nikolajewna, der Frau des Grossfürsten Piotr Nikolajewitsch, stellte zu Ostern Rasputin der Grossfürstin vor. Das entschied über das Schicksal Rasputins … und damit gleichzeitig, auf Jahre hinaus, über das Schicksal Russlands!

Die Grossfürstin Militsa Nikolajewna und ihre Schwester Anastasia Nikolajewna (Stana), die Frau des Prinzen Maximilianowitsch Romanowski, Herzogs von Leuchtenberg, waren damals mit der Zarin Alexandra Feodorowna sehr eng befreundet. Die Grossfürstin Militsa Nikolajewna, eine intelligente, energische Person mit vielen Kenntnissen, hatte auf die Zarin grossen Einfluss. Nach dem eigenen Ausspruch der Zarin war diese geradezu betroffen von der Intelligenz und dem Wissen der Grossfürstin, die in den Augen ihrer Intimen fast für eine Prophetin gehalten wurde.

Ein paar Jahre vorher hatten diese beiden Schwestern – montenegrinische Prinzessinnen, die am Smolny-Institut erzogen worden waren – der Zarenfamilie einen gewissen Herrn Philippe aus Lyon vorgestellt. Dieser geheimnisvolle Mann tat so, als ob er ein heiliger, tief religiöser Mann sei. In Wirklichkeit war er ganz einfach ein Quacksalber, ein äusserst geschickter Hypnotiseur. Er erzielte gewisse Erfolge vermittels Suggestion, nachdem er sein Opfer vorher einer speziellen psychologischen Vorbereitung, die er geschickterweise in Form von Gebeten vornahm, unterzogen hatte; aber man war davon überzeugt, dass Gott selbst es war, der, von Philippes Eingreifen gerührt, dessen Gebete erfüllt hatte. Der Zar und die Zarin glaubten an diesen Philippe, hielten ihn fast für einen Heiligen und machten ihn zu ihrem »Freund«.

Polotsew, ein Mitglied des Reichsrats, schreibt darüber in seinem Tagebuch unter dem 30. August 1902: »Den Intrigen der beiden Montenegrinerinnen (Militsa und Stana) ist es gelungen, den Zaren in die Hände eines verdächtigen Abenteurers, des Franzosen Philippe, fallen zu lassen; ihm verdanken wir das beschämende Abenteuer von der vermeintlichen Schwangerschaft der Zarin, ohne von all seinen anderen bösen Streichen zu reden. Durch hypnotische Manipulationen war es ihm gelungen, die Zarin glauben zu machen, dass sie schwanger sei. Unter dem Einfluss seiner Suggestion weigerte sie sich, Aerzte zu Rate zu ziehen. Mitte August indessen liess sie den Hofarzt Otto kommen, der ihr sofort sagte, dass sie nicht schwanger sei …«

Die von Philippe dank den mystischen Neigungen des Zarenpaares geschaffene Situation verstärkte noch die Freundschaft der Zarin für die beiden Schwestern und insbesondere auch den Einfluss Militsas auf die Zarin. Die Grossfürstin Militsa stand gerade in voller Macht, als Rasputin ihr vorgestellt wurde, und man sieht daraus klar, welchen Riesenschritt Grigori an dem Tage machte, als er den Salon der Grossfürstin betrat. Militsa wurde seine Anbeterin. Und ebenso ihre Schwester, die, damals ein wenig in Verwirrung wegen der Scheidung von ihrem ersten Mann, gerade bereit war, Rasputins Macht zu erliegen. Man stellte den Staretz auch den Grossfürsten Piotr Nikolajewitsch und Nikolai Nikolajewitsch vor.

Rasputins primitive Miene, sein naiver Glaube, die Tatsache, dass er von seinem Abertausende von Kilometern entfernt liegenden Geburtsort abgeschnitten war – all das sprach zu seinen Gunsten. Seine wenig flüssige, aber bilderreiche und charaktervolle Redeweise, die oft im ersten Augenblick etwas dunkel war, liess ihn als Propheten erscheinen. Seine tief eindringenden und originellen Auslegungen der Evangelien und vor allem der Apokalypse machten einen ungewöhnlichen Eindruck. Bei ihrer mystischen Gemütseinstellung erschien Militsa der Staretz bald als ein Mann, der von einer geheimnisvollen, religiös schwärmerischen Atmosphäre umgeben war.

In diesem Milieu wahrte der Staretz die Bescheidenheit einer reinen Jungfrau, aber er war klug wie eine Schlange. Sein praktischer Sinn, seine Intelligenz und seine Bauernschlauheit soufflierten ihm, dass bei diesen Anbeterinnen die Erotik keine Rolle spielen dürfe.

Das Schicksal kam Rasputin obendrein zustatten: Am 20. Juli kam aus Frankreich die Nachricht, dass Herr Philippe gestorben sei. Da dieser treue »Freund« nun nicht mehr unter den Lebenden weilte – wer sollte ihn ersetzen? Und die, die seinerzeit den Hypnotiseur vorgeschoben und geschickt für ihre Zwecke ausgenützt hatten, brauchten jetzt nur den sibirischen »Staretz« an die Stelle des toten »Freundes« zu schieben. Hatte doch der »Freund« selbst einmal zum Zarenpaar gesagt, dass sie nach seinem Tode einen anderen »Freund« finden würden, mit dem sie über Gott sprechen könnten. Man hatte einen Kandidaten zur Hand! Man brauchte ihn nur vorzuschieben, ihn dem Zaren und der Zarin in günstigem Licht vorzuführen und ihn im gewünschten Sinne handeln zu lassen. Und mit diesem neuen »Heiligen« begann dann eine zweite politische Intrige, deren Akteure genau dieselben Personen waren wie im Falle Philippe: die beiden Montenegrinerinnen und der Grossfürst Nikolai Nikolajewitsch.

Die Zarenfamilie wohnte damals in Peterhof, in ihrem Sommerpalais »Alexandrie«. Das Palais Snamenka, in dem die Grossfürstin Militsa wohnte, lag nur zehn Minuten davon. Die Villa Sergejewka der Grossfürstin Anastasia lag auf der andern Seite von Peterhof und war zu Fuss in einer halben Stunde zu erreichen. Der Zar und die Zarin sahen die beiden Schwestern fast alle Tage. Ungefähr jeden zweiten Tag begab sich das Zarenpaar nach dem Abendessen nach Snamenka, wo der Grossfürst Nikolai Nikolajewitsch ebenfalls erschien. Man veranstaltete spiritistische Sitzungen. Die Palais der beiden Schwestern und des Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch waren eine Zeitlang die Zentren der spiritistischen Bewegung.

Der Monat Oktober 1905 kam. Die revolutionäre Welle überspülte ganz Russland. Der Generalstreik brach aus, legte das Leben auf dem Lande lahm und drohte, dem Regime den Gnadenstoss zu versetzen. Die Zarenresidenz in Peterhof war von der Hauptstadt abgeschnitten. Unter dem Druck der Ereignisse und unter dem Einfluss Wittes und des Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch, der drohte, sich andernfalls eine Kugel in den Kopf jagen zu wollen, unterzeichnete Nikolaus II. am 17. Oktober sein Manifest: Russland hatte nun eine Verfassung, die Autokratie hatte ausgelebt …

Gerade um diese Zeit wurden die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Schwestern und dem Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch besonders eng. Es bildete sich da eine neue Gruppierung unter den Mitgliedern der Familiendynastie. Man begann von einer Heirat zwischen dem Grossfürsten und Anastasia zu reden. Der Staretz erklärte eines Tages: »Die Heirat der Schwester mit dem Bruder wird Russland retten.« Diesen dunklen Satz interpretierte man in der Weise, dass man sagte: damit Russland gerettet werde, müsse der Grossfürst die Anastasia heiraten. Man fing also an, die »Rettung« Russlands vorzubereiten. Das war das erstemal, dass Rasputin von Mitgliedern der Dynastie in die politischen Intrigen hineingezogen wurde.

Am 1. November stellte die Grossfürstin Militsa den Staretz Grigori dem Zarenpaar vor. Wieder trieb man das klug und fein eingefädelte Spiel, das man dem Zaren und der Zarin gegenüber bereits mit dem Hypnotiseur Philippe angewendet hatte, nur mit dem einen Unterschied, dass dieses Mal der Grossfürst Nikolai Nikolajewitsch eine wichtigere Rolle haben sollte.

Dieser wurde, ebenso wie seine zukünftige Frau, von den mysteriösen Seiten der menschlichen Natur, von den Problemen des Jenseits und den mystischen Fragen angezogen und fasste ein grosses Interesse für Rasputin, dessen originelle Interpretationen der Evangelien und der Apokalypse auch ihn besonders fesselten.

Rasputin selbst hatte niemals eine solche Ehre erträumt, er war zu jener Zeit noch viel zu naiv, um sich in dem politischen Intrigenspiel von Petersburg zurechtfinden zu können. Aber seine Schlauheit liess ihn erkennen, dass er das Projekt der Heirat billigen und das Loblied des Grossfürsten Nikolai singen musste. Und das tat er denn auch. Man weiss, wie sehr die Damen darauf erpicht sind, Hochzeiten zustande zu bringen. Die Zarin, eine ideale Gattin und Mutter, war entzückt von dem Projekt. Natürlich sprach man ihr gegenüber nicht von der »Rettung Russlands«. Die Zarin betrachtete diese Heirat nur als ein Mittel, den Grossfürsten seinem stürmischen Junggesellenleben zu entziehen. Sie tat deshalb ihr Möglichstes, um die Eheschliessung zu beschleunigen.


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