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Pilgerfahrt gibt neues Ansehen

Die Pilgerfahrten waren ein besonderes Charakteristikum für das ehemalige Russland, sowohl hinsichtlich ihres Umfanges als auch wegen der Bedeutung, die das Volk ihnen beimass.

Auf allen grossen Wegen des Landes traf man lange Reihen von Pilgern und Wanderern, die, mit dem Bettelsack auf dem Rücken und dem Pilgerstab in der Hand, auf dem Wege zu den heiligen Stätten waren. Die einen wollten eine begangene Sünde auslöschen, die auf ihrem Gewissen lastete, andere wollten Gott für ein Glück danken, das ihnen auf dieser Erde widerfahren war, wieder andere wollten damit ein Gelübde erfüllen, das sie abgelegt hatten.

Die hauptsächlichsten Pilgerstätten waren das Kloster Solowetz am Weissen Meer, die Lawra der Dreieinigkeit und des Heiligen Sergius bei Moskau und die Lawra der Katakomben von Kiew. Aber es gab daneben noch viele andere heilige Stätten. Jede Gegend hatte ihren Heiligen. Wer kennt nicht die heilige Nina, die Schutzgöttin von Georgien? Wer kennt nicht die Jungfrau von Potschajew und die Jungfrau von Ostrobrama? Und weit hinter den Grenzen Russlands bildeten der Berg Athos und Palästina die ewige grosse Sehnsucht aller gläubigen Anhänger der russischen Kirche. Von morgens früh bis abends spät waren sie auf den Beinen, wochenlang, monatelang, jahrelang und verliessen sich hinsichtlich Nahrung und Obdach auf die gütige Vorsehung.

Jeder heilige Ort hatte bestimmte Zeiten im Jahr, an denen er besonders rege von Pilgern aufgesucht wurde und die bald mit der Jahreszeit und bald mit bestimmten örtlichen Festen zusammenhingen. Dann kamen die Pilger in Massen. Zu Tausenden füllten sie die Höfe der Klöster, lagerten um die Kirchen herum und warteten auf die gottesdienstlichen Handlungen, nach denen sie dann an Ort und Stelle gespeist und für die Nacht untergebracht wurden.

Die Klöster hatten besondere Herbergen für die Pilger eingerichtet, und auch in den grossen Städten unterhielten sie besondere Häuser eigens für die Unterbringung dieser Wanderer.

Rasputin begann seine Pilgerfahrt in Kiew, der Wiege des christlichen Glaubens in Russland. Die Lawra mit den Katakomben war seit Jahrhunderten berühmt. In ihren Grotten ruhten die Gebeine von hundertachtzig Heiligen und die Schädel von sechsundachtzig Asketen. Die meistverehrten Reliquien waren die des heiligen Antonius und des heiligen Theodosius, die das Kloster gegründet hatten.

In Grün eingetaucht, abseits von der Stadt stand das Kloster auf hohen Hügeln, von denen aus man über den Dnjepr hinwegsehen konnte. Die Schönheit seiner Lage entzückte die Pilger ebenso stark wie der Reichtum an Reliquien. Und die alten byzantinischen Liturgien der Mönche gaben den Gottesdiensten in dieser Lawra noch einen besonderen Reiz.

Es ist daher durchaus zu verstehen, dass es Rasputin, der schon einmal eine Pilgerfahrt nach Kiew gemacht hatte, wieder dorthin zog. Daneben aber trieb ihn vielleicht noch ein anderes Motiv. Man vermutete nämlich, dass die Zarenfamilie Kiew besuchen würde, und es ist durchaus möglich, dass Rasputin deshalb Wert darauf legte, hier ebenfalls seine Andacht zu verrichten.

Dann begab er sich zum Kloster Potschajew, wo er vor dem wundertätigen Ikon der Heiligen Jungfrau niederkniete, die von den Orthodoxen und den Katholiken in gleicher Weise verehrt wird. Und von da ging er nach Odessa und schiffte sich zusammen mit sechshundert anderen Pilgern ein. Der Dampfer berührte Konstantinopel, um den frommen Wanderern Gelegenheit zu geben, die Hagia Sophia zu besuchen. Dann überquerte er das Mittelmeer und hielt in Jaffa, von wo aus die Pilger zu Fuss nach Jerusalem wanderten.

Rasputin blieb einen oder zwei Monate in Palästina, während der ganzen Fasten- und Osterzeit. Im ganzen verbrachte er drei und einen halben Monat in der Welt der Pilger, in dieser Atmosphäre der Wunder, der Legenden und der ihm vertrauten religiösen Erhebung. Wir haben keinerlei detaillierte Kunde darüber, wie er sich während dieser Pilgerreise verhielt; wir wissen nicht, ob er weiterhin predigte, »Seelen rettete« und »Dämonen vertrieb«. Alles jedoch, was wir von seinem vergangenen und späteren Leben, von seinem Verhalten gegenüber Frauen, von seiner leidenschaftlichen Natur, »in der der Dämon einen erbitterten Kampf gegen Gott führte«, wissen, treibt uns zu der Annahme, dass er auch während dieser Pilgerzeit nicht aufhörte, er selbst zu sein. Und das erscheint uns auch deshalb um so wahrscheinlicher, weil er, wenngleich die Pilgerfahrt eine grosse begeisterte religiöse Erregung in ihm wachrief, sie doch nicht etwa aus inbrünstiger Aufwallung unternommen hat, sondern weil er es für unerlässlich hielt, eine Zeitlang aus Petersburg zu verschwinden.

Während seiner Pilgerfahrt hielt er seine Beziehungen zu »Annuschka« Wyrubowa aufrecht und durch sie auch seine Verbindung zum kaiserlichen Palais. Er sandte ihr häufig Telegramme und Briefe, in denen er schilderte, was er gesehen und was er empfunden hatte. Das waren richtige Predigten, die er aus der Ferne seinen Schülern hielt; Predigten voller Glauben und Liebe, die von einem mächtigen Hauch belebt waren. Von diesen, von aussergewöhnlicher Aufrichtigkeit durchtränkten Briefen ging ein besonderer religiöser Reiz aus. Eine Anzahl derselben sind später unter dem Titel »Meine Gedanken und Betrachtungen. Kurze Beschreibung meiner Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten und der Ueberlegungen, zu denen sie mich über verschiedene religiöse Fragen anregte« veröffentlicht worden. Um ein besseres Bild von der Vielseitigkeit und Kompliziertheit seines Wesens zu geben, sei hier einiges daraus zitiert:

 

»In der Lawra der Katakomben von Kiew.

Ich bin von Piter (Petersburg) nach der Heiligen Lawra gekommen, und ich werde Piter das Licht nennen, aber dieses Licht treibt die Gedanken in die Welt der eitlen Dinge, während in der Lawra das Licht der Wahrheit leuchtet.

Wenn das Bild der Mutter Gottes sich verneigt und wenn der Gesang »Wir vertrauen uns Deiner Gnade an« ertönt, so beginnt die Seele weich zu werden, und man erinnert sich, was für eine eitle Existenz man von Jugend an geführt hat. Man tritt in die Gewölbe, und dort sieht man die Schlichtheit. Da ist weder Gold noch Silber; da ist nichts als der Hauch des Schweigens. Die Heiligen ruhen dort in ihrer Einfachheit. Keine silbernen Totenschreine; nichts als einfache Eichensärge. Dann denkt man, wie das Ueberflüssige uns niederdrückt, uns belastet und uns zur Langeweile führt. Ohne es zu wollen, denkt man an die Eitelkeit seines Lebens.

Wehe denen, die ständig in Unruhe wandeln.

Oh, Herr, befreie mich von meinen Freunden, denn dann wird der Dämon keine Kraft mehr über mich haben. Der Dämon sitzt im Freund; und der Freund, das ist die Eitelkeit.

Ich habe herrliche Grotten gesehen, wahre Wunder der Wunder. Wie hat Gott sie gesegnet! Wie sollte man hier nicht glauben! Ohne es zu wollen, seufzt man auf. Die Grotten sind in den Stein gehauen. Die Hand des Herrn selbst hat sie geschaffen, und die Mönche haben sich hier bei feindlichen Einfällen verborgen.

Peinlich sind die Erinnerungen, die diese feindlichen Folterknechte zurückgelassen haben. Aber heute sind die Martern noch schlimmer: der Bruder kämpft gegen den Bruder, und der Nächste kennt nicht mehr seinen Nächsten. So sind die Martern viel peinvoller. Und daher bin ich der Auffassung, dass die Gloriolen von den Märtyrern der heutigen Folterknechte dem Antlitz Gottes noch viel näher sind.

Die Heiligen aus den Cavernen sind von den Barbaren gemartert worden; heute martern wir uns selbst. Und der erbittertste Kampf ist der des Priesters gegen den Priester, des Mönches gegen den Mönch. Das Wort Gottes erfüllt sich: »Der Bruder gegen den Bruder, der Sohn gegen den Vater.« Das Ende ist nahe.

Und ich habe Job in den Kellern der Lawra gesehen; seine Zelle ist eng, ach wie eng, und es weht dort eine wunderbare Atmosphäre.

Warum diese köstliche Atmosphäre? Das ist ganz einfach: weil er keinen Palast wollte, weil er sich in eine demütige Krippe gelegt hat und weil er sein Leid mit Geduld und mit Artigkeit ertragen hat. Und wir, ob wir nun in der Schlichtheit oder im Luxus wandeln, könnten wir doch uns im Geiste in seine enge Zelle versetzen und ihn bitten, dass er uns beisteht. Der Herr wird diese heiligen Gebete nicht unerhört lassen, und wir werden mit ihm zur rechten Hand Gottes sitzen. Alles zu sagen von seiner Geduld, ist unmöglich: alle Bücher der Welt würden dazu nicht ausreichen.«

 

Solcherart waren Rasputins Briefe, die man später zur Veröffentlichung auswählte. Auf die wirklich frommen Anbeterinnen machten sie grossen Eindruck: diese Frauen entnahmen noch gerade einen besonderen Reiz aus der Tatsache seiner Abwesenheit; denn die Trennung erzwang eine engere geistige Verbindung zwischen dem Meister und seinen Schülern.

Die glühenden Verehrerinnen fanden darin noch einen neuen Beweis für seine moralische Reinheit und für die Ungerechtigkeit, die darin lag, ihn einen Scharlatan, einen Wüstling und einen Abenteurer zu schelten. Hätte Grigori denn sonst solche Briefe schreiben, solche Gedanken haben, so voll glühenden Glaubens sein können?

Und der Meister wuchs ihnen noch mehr ans Herz. Sie schrieben die Briefe ab und bewahrten sie auf, wie man heilige Dinge aufbewahrt und behütet.

Abgesehen von diesen Briefen, in denen Rasputin aus der Ferne auf seine Schüler einwirkte, unterhielt er noch eine geschäftliche Korrespondenz, hauptsächlich auf telegraphischem Wege. Auf diese Weise unterstützte er weiterhin von Jerusalem aus seinen Freund Iliodor.

Während er noch in Palästina war, wurde Iliodor vom Zaren in Zarskoje-Selo eingeladen und aufgefordert, dort einen Gottesdienst abzuhalten. Iliodor predigte und gefiel dem Zaren. Alle Anwesenden erblickten in ihm einen Parteigänger Rasputins, seines Freundes und geistigen Bruders. Der Erfolg Iliodors in Zarskoje-Selo war also gleichzeitig ein Erfolg Rasputins.

So wirkte Rasputin auch aus der Ferne weiter auf das Zarenpaar ein. Sicher unterstützte die Wyrubowa ihn hierbei mit besten Kräften. Wir neigen aber zu der Auffassung, dass der ganze Plan, der eine so grosse psychologische Finesse zeigt, dem Kopf einer viel klügeren Persönlichkeit entsprang, als die Wyrubowa es war, und wir vermuten, dass es Tanejew, der Vater der Wyrubowa, gewesen ist. Im allgemeinen wird die Rolle, die Tanejew in Wirklichkeit in der Epopöe Rasputins spielte, gar nicht richtig eingeschätzt. Wenn man bedenkt, dass keine wichtige Ernennung in der Zivilverwaltung stattfinden konnte, ohne dass Tanejew sein Wort dazu sagte, dass er das Verhalten seiner Tochter dirigierte und dass er in ständigem Kontakt mit dem Zaren stand, so muss man von selbst auf diesen Gedanken kommen. Ausserdem zeigte Tanejew dem Staretz gegenüber eine grosse Verehrung, und er lud ihn bei sich im Hause ein.

Alles in allem kann man sagen, dass die Abwesenheit dem Staretz beim Zarenpaar nicht schadete; im Gegenteil, sie führte noch zu einer grösseren Annäherung. Seinen Briefen gelang es, sogar den Zaren zu rühren, der nach dem Bericht des Mandryka einen so grossen Zorn auf ihn empfunden hatte. Seine Pilgerfahrt wischte in den Augen des Zaren seine früheren Sünden aus. Er verzieh ihm.

Nach seiner Rückkehr aus Jerusalem begab sich Rasputin nach Petersburg. Er wurde vom Herrscherpaar, das damals in Peterhof wohnte, empfangen. Darauf setzte er sofort seine engen Freundschaftsbeziehungen mit N. G. Sasonow fort. Dieser Sasonow war der erste Politiker, der Rasputin in die Welt der Intrigen hineinschob. Der Zar, der es im allgemeinen nicht liebte, wenn man ihm mit Gewalt kam, war damals gerade unzufrieden, weil Stolypin im März einen Druck auf ihn ausgeübt hatte; er ging daher mit dem Gedanken um, sich Stolypin vom Halse zu schaffen. Man suchte also nach einem Kandidaten für den Posten des Premierministers und gleichzeitig einen neuen Innenminister. Es waren zwei Möglichkeiten gegeben: entweder Graf Witte zusammen mit A. N. Chwostow, dem Gouverneur von Nischni-Nowgorod, oder Kokowtsew mit Chwostow. Sasonow suchte Rasputin zugunsten von Chwostow, dem Kandidaten der Rechten, zu beeinflussen. Rasputin war dagegen Witte und V. N. Kokowtsew sehr wohl gesonnen; denn er kannte Witte seit langer Zeit und war dort im Hause mit grosser Achtung aufgenommen worden, und Kokowtsew war ihm von einer seiner Anbeterinnen und vom Senator Mamontow warm ans Herz gelegt worden. Sasonow trieb es so, dass Rasputin, hauptsächlich durch ihn, sich in diese Affäre der Ministerernennungen hineingezogen sah. Der Staretz erhielt von Zarskoje-Selo den Auftrag, sich nach Nischni-Nowgorod zu begeben und dort die Bekanntschaft des Chwostow zu machen. Wenn der Zar auch die beiden anderen Kandidaten genau kannte, so hatte er Chwostow dagegen nur dreimal flüchtig gesehen und dabei keinen günstigen Eindruck gehabt.

Wie Chwostow später selbst erzählt hat, erschien Rasputin eines Tages in Nischni-Nowgorod und sagte ihm, dass Stolypin entlassen werden sollte und dass er zum Innenminister ausersehen sei; er, Rasputin, habe nun den Auftrag bekommen, seine »Seele zu prüfen«. Die beiden Männer fanden Gefallen aneinander, und der Staretz sandte folgendes Telegramm nach Petersburg:

»Gott beschirmt ihn, aber es fehlt ihm etwas.«

Sasonow hatte seinerseits an Witte geschrieben, der damals im Ausland war, aber dieser hätte schon von sich die ins Auge gefasste Zusammenarbeit mit Chwostow abgelehnt. Für Chwostow blieb die Frage in der Schwebe, bis die Feierlichkeiten in Kiew vorbei waren, nach denen Stolypin den Titel eines Grafen erhalten und dann seiner Aemter enthoben werden sollte.

Im stillen feierte Rasputin schon seinen Triumph: Stolypin, sein grosser Feind, verschwand, und an seine Stelle trat ein Mann, der ihm genehm war!

Um diese Zeit brüstete Rasputin sich auch noch damit, dass er zur Ernennung von Sablère zum Hohen Prokurator der Heiligen Synode beigetragen habe, und man glaubte es ihm. Durch offene und versteckte Ratschläge hatte er dann noch die Kandidatur Damanskis für den Posten des Hilfsprokurators bei der Synode unterstützt. Auch Damanski wurde ernannt, und so schrieb man ihm, ganz zu Recht übrigens, auch diese Ernennung zu, ebenso wie die des Sablère.

Bald darauf verbreitete sich dann in Kirchenkreisen die sensationelle Neuigkeit, dass der Erzabt Warnawa des Klosters Golutwin zum Bischof ernannt sei. Dieser, ein sehr intelligenter, aber keineswegs wissenschaftlich ausgebildeter Mönch – er war Gärtner gewesen –, hatte lange Zeit freundschaftliche Beziehungen zu Rasputin unterhalten. Der Staretz hatte sich mehrere Male bereits schon für ihn bei den Majestäten und bei Sablère verwendet. Als die Heilige Synode dann unter Sablères Druck Warnawa zum Bischof ernannt hatte, schrieb jedermann diese Ernennung ausschliesslich dem Einfluss des Staretz zu.

Alle diese Gerüchte, die dem Staretz immer mehr wachsenden Einfluss in den Angelegenheiten der Kirche zuschrieben, schufen sehr viel Aufregung in den klerikalen Kreisen und riefen dort einen für Rasputin sehr ungünstigen Eindruck hervor.

Berauscht von all diesen Erfolgen nach seiner Rückkehr aus Jerusalem, begab sich Rasputin nach Tsaritsyn. Frau Lochtina war schon vorausgefahren und ebenso die Sibirierin Akulina Laptinskaja, die bald darauf den ersten Platz beim Staretz einnahm und durch ihn und die Vermittlung der Wyrubowa den Posten der Masseurin der Zarin bekam. Später tauchte das Gerücht auf, dass sie von einem der bekanntesten Politiker der Duma beauftragt worden sei, die Zarin und den Staretz auszuspionieren.

In Tsaritsyn schien sich die Begeisterung für den Staretz verringert zu haben; man bezeugte ihm nicht mehr die gleiche Verehrung. Immerhin fanden sich aber noch an die fünfzig Frauen, die mit ihm und Iliodor zusammen an dem Fest des Klosters Dubrowa teilnahmen. Frau Lochtina und die Laptinskaja wichen dabei Rasputin nicht von den Fersen, so dass er sich nicht allzu unternehmungslustig den Frauen gegenüber zeigen konnte. Sicher hatten sie Auftrag erhalten, ihn gut zu bewachen.

Die Oberin des Klosters empfing Rasputin mit aussergewöhnlichen Ehrungen. Bei der Messe brachte man dem Staretz vom Altar herüber eine mit Blumen geschmückte Kerze, die er zum Beten in der Hand hielt.

Als die beiden Freunde wieder in Tsaritsyn eintrafen, führten sie lange Unterhaltungen, in deren Verlauf Rasputin sich zu Vertraulichkeiten hinreissen liess und mit seiner Macht prahlte: die Ernennungen von Sablère und Damanski waren sein Werk, er war es, der Stolypin davonjagte und Kokowtsew an seine Stelle setzte, und schliesslich war er es auch, der die Sache Iliodors gewonnen hatte, indem er beim Zaren intervenierte.

Grigori merkte indessen, dass in dem Verhalten Iliodors ihm gegenüber etwas nicht ganz stimmte. Andererseits teilten Frau Lochtina und die Laptinskaja ihm mit, dass die Bevölkerung auch weniger als früher von ihm eingenommen sei. Man hatte einen Photographen, der den Staretz, Hermogen und Iliodor in seinem Schaukasten zusammen als Gruppe ausgestellt hatte, gebeten, das Bild Rasputins daraus zu entfernen.

Rasputin setzte Frau Wyrubowa telegraphisch von diesem Umschwung in Kenntnis und versprach im Kloster, den Gläubigen dreitausend Rubel für die Pilgerfahrt nach Sarow zu geben, die gerade eben vorbereitet wurde. Diese Nachricht wurde mit Freudenausbrüchen entgegengenommen. Rasputin sandte ein Telegramm an die Zarin, in dem er um das Geld bat; vier Tage später hatte er die dreitausend Rubel. Als er im Begriff stand, abzureisen, veranstaltete Iliodor in der Kirche eine Sammlung, um ihm ein Andenken mitzugeben. Die Summe, die herauskam, war recht minimal, und Frau Lochtina und die Laptinskaja legten noch dreihundert Rubel aus eigener Tasche dazu. Die Abreise des Staretz gab aber Anlass zu neuen Triumphen.

Pater Iliodor hielt im Kloster eine Ansprache. Am Schluss segnete er Rasputin und das Ikon, das er ihm im Namen seiner Verehrer von Tsaritsyn übergab. Ein kleines Mädchen überreichte dem Staretz ein Bukett mit den Worten: »Solange diese Blumen noch schön sind, so lange ist Ihre Seele schön!«

Eine Gruppe von Frauen schenkte ihm ein silbernes Teeservice. Die Masse jubelte. Rasputin war zufrieden. Er hielt dann eine Rede, die grossen Eindruck machte.

»Das war das erstemal, solange ich ihn kannte«, schrieb Iliodor später, als er schon sein Feind geworden war, »dass er mir wirklich verführerisch vorkam. Seine hohe, schmale Silhouette wirkte in der gut auf Taille sitzenden reichen russischen Poddiowka besonders imponierend, wenn er sich im Feuer seiner Rede vorbeugte und sich auf den kleinen Füssen, die in luxuriösen Lackstiefeln steckten, aufrichtete. Seine Haare und sein Bart, sorgfältig gewaschen, bewegten sich leise im Winde, umflossen elegant seinen Kopf und schienen miteinander zu spielen.

Er sprach mit abgehackter, fester, klingender Stimme. Seine Rede war kurz, aber voller Ernst und Kraft. Ich habe den folgenden Satz in Erinnerung behalten:

›Ja, meine Feinde haben Anklagen gegen mich losgelassen. Sie dachten, mein Ende wäre gekommen. Ihr werdet lachen! Sie selbst sind es, deren Ende gekommen ist. Nicht mein Ende! Was sind sie? Gewürm, das über die innere Oberfläche eines Deckels eines Sauerkrauttopfes kriecht. Elendes Gewürm und nicht mehr. Sie wollten mich stürzen. Aber der Mensch denkt und Gott lenkt!‹ …«

Eine Menge von mehreren tausend Personen begleitete ihn vom Kloster zur Landungsstelle. Vom Deck des Schiffes aus sprach er nochmals über seine Feinde, über den Kampf, den er zu führen hatte, und über seinen Sieg. Man rief »Hurra«, warf die Mützen in die Luft, die Frauen schwenkten ihre Tücher, und Pater Iliodor segnete den Dampfer, der den Staretz die Wolga hinauffuhr … Die Schilderungen dieses neuen Triumphes, die in den Zarenpalast gesandt wurden, stärkten dort sein Ansehen von neuem.

In Saratow unterbrach Rasputin seine Reise, um Hermogen zu besuchen. Der Bischof, der jetzt vollständig im Bilde war über die Seitensprünge seines ehemaligen Schützlings, machte ihm heftige Vorwürfe und bat ihn inständig, Abstand zu nehmen von diesem schimpflichen Leben, dessen Skandale auf die Zarenfamilie zurückfielen. Rasputin wehrte sich, aber nur matt; er fühlte sich zu stark gestützt, als dass er sich Sorgen machte. Und um dem Bischof zu zeigen, wie eng er mit dem Thron zusammenhing, überbrachte er ihm den Gruss des Zaren.

Nachdem er das Ende des Sommers in Pokrowskoje verbracht hatte, ging er wieder nach Petersburg und von da nach Kiew, wo die Einweihung des dem Befreier-Zaren errichteten Denkmals stattfinden sollte. Er stieg bei einem Mitglied einer rechtsgerichteten Organisation ab und lebte unauffällig. Bei dem feierlichen Einzug der kaiserlichen Familie in Kiew hielt sich Rasputin in der Alexanderstrasse dicht beim Museum in der ersten Reihe der Organisation auf, der sein Gastgeber angehörte. Als der Wagen des Zarenpaares herankam und die Menge Hurra schrie, segnete Rasputin den Wagen. Die Zarin, die auf die Zurufe dankte, bemerkte Rasputin und verneigte sich. Rasputin segnete auch den weiteren Zug. Jemand, der neben ihm stand, hat später erzählt, dass Rasputin blass wurde, als er Stolypins Wagen sah. Ein nervöses Zittern überfiel ihn, und er sagte:

»Der Tod ist hinter ihm … Der Tod verfolgt ihn … ihn, den Peter … Er verfolgt ihn.«

Am 1. September wurde Stolypin bei der Galavorstellung im städtischen Theater in Kiew von dem Anarchisten Bogrow tödlich verwundet; er starb am 4. September. Dieses Attentat machte auf die Zarin einen solchen Eindruck, dass sie das Haus nicht mehr verliess. Rasputin wurde in die kaiserlichen Gemächer gerufen.

Als man ihn nach seiner Meinung hinsichtlich der Wahl des neuen Premierministers und des Innenministers befragte, sprach Rasputin sich für V. N. Kokowtsew und A. N. Chwostow aus, obgleich er den ersteren noch nicht persönlich kannte. Der Zar ernannte auch Kokowtsew zum Premierminister und schlug diesem Chwostow als Innenminister vor. Aber Kokowtsew hielt diesen nicht für geeignet und bat darum, ihm Makarow zu geben. Der Zar gab nach und ernannte Makarow zum Innenminister. Rasputin erklärte dazu, dass das nichts Gutes gäbe.

Von Kiew begab sich die kaiserliche Familie nach der Krim, wo sie bis Ende Dezember blieb. Zum Jahrestag des Zaren, dem 6. Dezember, wurde Rasputin nach Jalta eingeladen. Er überbrachte dem Zaren seine Glückwünsche. Der Zar zeigte ihm das neue Palais und drückte im Laufe einer langen Unterhaltung seine Befriedigung darüber aus, dass Hermogen sich bei der Synode gegen die Einführung der Diakonissinnen-Institution in Russland gewendet habe, die die Grossfürstin Elisaweta Feodorowna durchzusetzen versuchte.

Mitte Dezember kehrte Rasputin nach Petersburg zurück, wo ihn ein grosser Skandal erwartete.


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