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Die bewaffneten Aufstände, die in Moskau und in den Grenzprovinzen Russlands gegen Ende des Jahres 1905 und dann im Anfang des Jahres 1906 ausbrachen, die Liquidierung der Revolution und die Wahlen zur Duma brachten Rasputin zunächst wieder etwas in Vergessenheit. Aber im Sommer tauchte er wieder in Petersburg auf. Seine Anbeterinnen bereiteten ihm einen begeisterten Empfang.
Die Zarenfamilie verbrachte den Sommer wieder in Peterhof, im Palast Alexandrie. Dort führte die Familie immer ein schlichteres Leben als in Zarskoje-Selo, und das begünstigte die freundschaftlichen Beziehungen der Zarin mit den beiden Grossfürstinnen, die sie täglich sah. Das Zarenpaar traf bei Anastasia in Sergejewka mit Rasputin zusammen, aber auch in Snamenka bei Militsa. Rasputin machte auf sie einen starken Eindruck. Er gefiel ihnen insbesondere durch seine Schlichtheit, durch seine Natürlichkeit und sein naives, rauhes Wesen. Er war nicht so wie die anderen. Er schien einer jener Gottesmänner zu sein, die in den unermesslichen Strecken des heiligen Russland umherwandern, beten und die Ueberlieferungen der heiligen Stätten von einem Ende zum andern tragen. Mit wievielen Aufträgen betreuen die Gläubigen nicht diese Wanderer: eine Kerze vor dem Ikon eines Heiligen aufzustellen, ein Heiligenbild zu kaufen, Gebete sprechen zu lassen, geweihtes Wasser mitzubringen! Alles das war der Zarin, die mit Begeisterung dem orthodoxen Glauben angehörte, durchaus bekannt. War Grigori nicht, so fragte sie sich, einer dieser Männer, die zu ihren Lebzeiten als Mittler zwischen uns und jener anderen Welt dienen und die nach ihrem Tode von der Kirche als »Heilige« angesprochen werden?
Die Tatsache, dass ein Prälat von so hoher Autorität wie der Bischof Theophan, ihr Beichtvater, Rasputin unter seinen Schutz nahm, schien dem Zarenpaar die Richtigkeit seiner Auffassung von Grigori zu bestätigen. Die Erzählungen der Grossfürstin befestigten weiter ihre Ansicht, und ihre Verehrung für den Staretz wuchs so sehr, dass sie es bald für nützlich hielten, Rasputin auch zu ihren Kindern zu führen. Und das ging unter höchst merkwürdigen Umständen vor sich:
Am 12. Oktober liess der Zar den Obersten Fürst Putiatin vom Hofmarschallamt, den er sehr gern hatte, zu sich rufen und streckte ihm ein grosses Blatt Papier hin.
»Lesen Sie, Fürst«, sagte er, »es steht etwas drin, was Sie angeht!«
Es handelte sich um einen Brief, dessen Absender den Zaren bat, den Staretz Grigori Jefimowitsch, der aus Sibirien für den Zaren ein Ikon des Heiligen Simeon aus Werchoturje mitgebracht habe, bei sich zu empfangen. Es hiess in dieser Nachricht weiter, dass man den Staretz beim Absender des Briefes, dem Erzpriester einer der Petersburger Kirchen, treffen könne und dass Seine Majestät, wenn sie geneigt sei, ihn zu empfangen, die weitere Angelegenheit dem Fürsten Putiatin übertragen möge. Der Brief trug die Unterschrift des Priesters Jaroslaw Medwed.
Der Zar beauftragte den Fürsten, sich näher zu informieren, alle erforderlichen Schritte zu ergreifen, den Staretz am Bahnhof in Empfang zu nehmen und ins Palais zu führen. Es war klar, dass der Zar bereits wusste, worum es sich handelte, dass der Brief mit seinem Wissen und Einverständnis an ihn abgesandt war und dass er seinen Befehl nur pro forma in diese Form kleidete.
Am nächsten Tage holte der Fürst zur festgesetzten Stunde den Staretz in einem Hofwagen ab und führte ihn, nachdem er sich über seine Identität vergewissert hatte, ins Schloss.
Rasputin wurde vom Zaren und der Zarin empfangen, er überreichte dem Zaren ein auf Holz gemaltes, dreissig Zentimeter hohes Ikon des Heiligen Simeon von Werchoturje, segnete die Kinder und gab jedem ein geweihtes Brot und ein kleines Heiligenbild, er küsste den Thronfolger und unterhielt sich mit den Majestäten.
Nach dem offiziellen Empfang liess der Zar Rasputin Tee servieren. Als er gegangen war, fragte der Zar den Fürsten Putiatin, welchen Eindruck er von dem Staretz habe. Der Fürst antwortete, dass dieser Bauer ihm nicht aufrichtig vorkomme und dass er ihm den Eindruck eines Hitzkopfes gemacht habe. Diese Antwort war offenbar nicht nach des Zaren Geschmack. Er wandte seine Blicke vom Fürsten weg, liess ein paarmal seine Hand mit der ihm eigenen Geste über Schnurrbart und Kinnbart gleiten und erklärte, er sei sehr glücklich darüber, dass der Staretz ihm das Ikon aus Werchoturje mitgebracht habe, denn bei seinen Reisen in Sibirien habe er leider noch nie Gelegenheit gehabt, vor den Gebeinen dieses Heiligen Simeon niederzuknien.
Nachdem der Zar dem Fürsten für seine Bemühungen gedankt hatte, verabschiedete er ihn. Aber niemals wieder sprach er mit ihm über Rasputin. Der Fürst Putiatin hat bis zum Ende der zaristischen Regierung seine Ansicht über diesen Staretz nicht geändert. Das schadete ihm zwar nicht in seiner Karriere, aber als später die Stellung Rasputins zum Hofe absolut klar geworden war, fiel der Fürst bei der Zarin in Ungnade.
Den Monat November, der in Russland schon zu den Wintermonaten gehört, verbrachte Rasputin in Wolhynien, wo noch herrliches Herbstwetter war.
Ein paar Werst von Jitomir standen an dem malerischen Ufer des Dnjepr hübsche Villen im Grün versteckt. Eine von diesen, aus mehreren kleinen, weissgemalten Gebäuden bestehenden Besitzungen bewohnte damals die Familie O. Herr O. war im Semstwo beschäftigt; Frau O. war eine schöne, kräftige Frau, blond, sehr sympathisch und ungewöhnlich religiös veranlagt. Sie und ihr Gatte unterhielten vielfache Verbindungen mit der Geistlichkeit. In diesem Sommer des Jahres 1906 weilte der Bischof Theophan bei ihnen, um sich auszuruhen und seine gebrechliche Gesundheit wieder herzustellen. Frau O. galt als seine geistige Tochter; er lehrte sie, wie man ein Leben nach den Regeln der göttlichen Wahrheit führen könne. Von ihm hörte Frau O. zum erstenmal von Rasputin.
Im Herbst fuhr Theophan nach der Krim. Im November kündigte er in einem Telegramm den Besuch des Staretz in Jitomir an.
Frau O. erwartete ihn am Bahnhof. Als Rasputin in seinen Pelz gehüllt erschien, machte er auf sie den Eindruck eines protzigen kleinen Bürgers. Man hätte ihn für einen »Alt-Gläubigen« von der Wolga halten können. Bei seiner Ankunft küsste er Frau O., die darüber ganz bestürzt war. Die Leute um sie herum musterten sie mit erstaunten Blicken.
In der geräumigen Behausung der Eheleute O. gab es eine ganze Reihe hübscher Hausmädchen von blühender Kraft und Gesundheit. Wie ein ausgehungerter Wolf warf ihnen Grigori begierige Blicke zu. Er nahm alle Zimmer des Hauses in Augenschein. Als man ins Schlafzimmer kam, setzte er sich aufs Bett und wunderte sich, dass es so hart war. Seine Gastgeberin sagte ihm, dass das ihren Wünschen entspreche, denn sie wolle ihr Fleisch abtöten, um das Seelenheil zu erringen. Da fing Grigori an zu lachen und versicherte ihr, dass so etwas unnütz sei. Er brachte auch das Gespräch auf ihren geistigen Vater, den Bischof Theophan, und fragte sie des langen und breiten über ihn aus. Hatte sie keine Geheimnisse vor ihm? Frau O. antwortete, dass sie ihm alles sage, selbst das, was sie nur denke. Grigori lächelte verständnisvoll und setzte dann, an seinem Bart herumzerrend, die Besichtigung der Wohnung fort, ging überall hinein und schnüffelte überall herum.
»Höre!« sagte er plötzlich. »Ich – ich kann lieben! Ich kann ungestüm lieben!«
Seine Gastgeberin tat so, als habe sie nicht recht verstanden, was er damit sagen wollte. Grigori wurde jetzt noch nervöser und unruhiger. Er wiederholte, dass er »ausgezeichnet zu lieben« verstehe, und versuchte Frau O. dann zu überreden, dass sie seine »geistige« Tochter werde.
»Wie könntest du mein geistiger Vater sein!« antwortete sie ihm. »Du bist doch kein Priester!«
»Nun, was macht denn das aus?«
»Das macht ganz einfach so viel aus, dass es nicht geht! Du kannst doch nicht einmal den Segen erteilen. Die Gnade Gottes hat sich nicht auf dich herniedergelassen.«
»Wieso das?«
Der Staretz wurde böse und versuchte jetzt seine Gastgeberin dahin zu bringen, dass sie ihn verehren müsse, sogar mehr als den Bischof von Wolhynien oder den Bischof Theophan, denn diese würden nur ihres Ranges wegen respektiert, während er, Rasputin, seiner Taten wegen geachtet werde. Frau O. protestierte dagegen. Grigori kam aber während seines Aufenthalts wiederholt in seinen Gesprächen auf diese Dinge zurück. Die Frauen im Hause hatten alle ein wenig Angst vor dem »Staretz«. Die Schweizer Gouvernante ging sogar so weit, dass sie ihr Zimmer abschloss. Rasputin war ständig in Aufregung. Er beklagte sich, dass man ihm nicht den schuldigen Respekt erweise, und zum Schluss versuchte er seine Gastgeberin zu bestimmen, mit ihm nach Pokrowskoje zu reisen.
»Warum das?« fragte sie ihn. »Es gibt dort doch gar keine heiligen Stätten, so viel ich weiss.«
Wieder war der Staretz wütend.
Eines schönen Tages rühmte er sich seiner Beziehungen zu den Grossfürsten und Grossfürstinnen, und nannte sie ganz einfach mit ihren Vornamen: Militsa, Stana, Petruschka, Nikolaschka. Frau O. gab ihm zu bedenken, dass er doch in höflicher und respektvoller Form von so hochgestellten Persönlichkeiten sprechen müsse. Rasputin fing an zu lachen:
»Warum denn? Was kann mir das ausmachen?«
Und um seine Gastgeberin in Verwunderung zu versetzen, schickte er an die Grossfürstin Militsa ein Telegramm, in dem er ihr mitteilte, dass er endlich »sein Ideal« gefunden habe.
Aber das »Ideal« ging auf keine seiner Forderungen ein, ging all seinen Listen aus dem Wege, und der Staretz reiste dann schliesslich ab, ohne aus Frau O. eine Anbeterin gemacht zu haben.
Während seines ganzen Aufenthalts zerbrach er sich um religiöse Dinge nur sehr wenig den Kopf. Er hat nicht einmal das örtliche Heiligtum besucht, die Lawra von Potschajew! Er betrug sich vielmehr wie ein Mensch, der sein Glück zu machen versucht.