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Eine seltsame Pilgerfahrt

Im Jahre 1909 fing man in Petersburg an, wirklich grosses Aufheben mit Rasputins Namen zu machen. Der Premierminister Stolypin, der gegen Ende des vorangegangenen Jahres den Fall des Staretz beim Zaren zur Sprache brachte, hatte selbst einmal zu Rasputins Gebeten Zuflucht genommen, als seine Tochter schwer verletzt zu Hause darniederlag. Da der Zar es abgelehnt hatte, seinen Bericht über Rasputin in Erwägung zu ziehen, so hatte er die Ochrana angewiesen, die Ueberwachung des Staretz einzustellen. Aber es gingen fortgesetzt ungünstige Berichte über Rasputin bei ihm ein. Der Palastkommandant Dedjulin prüfte mit ihm gemeinsam diese delikate Angelegenheit. Alle hatten den Wunsch, sich den Staretz vom Halse zu schaffen. Die Anbeterinnen aber bekamen Wind von der Gefahr, und man kam zu der Auffassung, dass der Staretz selbst eine Audienz beim Ministerpräsidenten erbitten sollte.

Der Ministerpräsident empfing Rasputin. Der Staretz setzte ihm auseinander, dass die Polizei ihn verfolge, obgleich er doch nichts Böses tue und sich ganz auf seine Gebete beschränke. Stolypin antwortete ihm: falls das wahr sei, habe er auch nichts zu befürchten, und niemand werde ihn beunruhigen. Zwei oder drei Wochen darauf bat er jedoch seinen Adjutanten, den General Kurlow, einen Bericht aufzusetzen, der dem Zaren vorgelegt werden solle. Man stellte alle bisherigen Auskünfte zusammen und veranlasste weitere Nachfragen in Tobolsk; trotzdem bot er eigentlich nichts Greifbares, was Rasputin ernsthaft kompromittieren konnte. Er stellte zusammenfassend fest, dass Rasputin in seiner Jugend ein ausschweifendes Leben geführt habe, dann aber auf Wanderschaft von Kloster zu Kloster gegangen sei.

Der Zar überflog den Bericht, hörte die Erklärungen Stolypins an, reichte ihm dann das Stück Papier zurück und sagte:

»Piotr Arkadiewitsch, ich bitte Sie, mir mit dieser Sache nicht wiederzukommen. Das ist ein heiliger Mann. Es handelt sich da um eine private Familienaffäre, die allein uns angeht.«

Stolypin gab den Bericht an Kurlow zurück. Die Ochrana in Petersburg und die geheime Sicherheitspolizei in Zarskoje-Selo bekamen Befehl, Rasputin nicht mehr zu behelligen.

Kurze Zeit darauf mischte sich Rasputin von neuem in eine politisch-religiöse Angelegenheit. Der Mönch Iliodor, sein Bewunderer, hatte in Tsaritsyn, wohin man ihn berufen hatte, demagogische Reden mit revolutionärer Tendenz gegen den Ortsgouverneur gehalten. Nachdem die Synode ihn mehrere Male zur Ordnung gerufen hatte, versetzte sie ihn. Anstatt sich aber an seinen neuen Posten in Minsk zu begeben, kam Iliodor nach Petersburg, um dort Beistand und Hilfe zu suchen. Er wandte sich an seine Freunde in Laienkreisen und auch an seinen alten Vorgesetzten, den Bischof Theophan. Als dieser es ablehnte, sich in eine Sache einzumischen, die ihn nichts anging, bat Iliodor Rasputin, ihm zu raten und ihn zu schützen.

Grigori versprach ihm zwar, sich zu seinen Gunsten einzusetzen, machte ihm aber ernsthafte Vorwürfe wegen seiner aufrührerischen Predigten.

»Präge dir das für später fest ein«, sagte er ihm. »Im Augenblick kann man einen Zaren und die Behörden nicht angreifen, wie seinerzeit Philipp Moskowski es getan hat, denn jetzt, mein Lieber, sind andere Zeiten!«

Gerade am Ostertag, dem grossen Fest der Orthodoxen, an dem jedermann davon beseelt ist, gut zu sein und seinem Nächsten Gutes zu erweisen, erzählte Rasputin der Frau Wyrubowa, damit sie es ihrer Majestät weitererzähle, wie entzückt die Leute aus dem Volke in Tsaritsyn von Iliodor seien und wie betrübt sie darüber sein würden, wenn man ihnen Iliodor fortnähme. Die Zarin wünschte daraufhin, Iliodor zu sehen. Das Zusammentreffen fand bei der Wyrubowa statt. Die Zarin machte Iliodor ernste Vorhaltungen und verlangte von ihm, dass er sich bessere und ihr schriftlich verspreche, in Zukunft keine demagogischen Predigten mehr zu halten.

Auf Wunsch der Zarin machte die Synode ihren Entscheid rückgängig, und Iliodor blieb zur grossen Freude seiner Pfarrkinder in Tsaritsyn. Es war kein Geheimnis, dass er das nur Rasputins Eingreifen zu verdanken hatte.

Im Mai äusserten einige Anbeterinnen Rasputins die Absicht, eine Pilgerfahrt nach dem Kloster Werchoturje zu machen und sich von dort aus nach Pokrowskoje zu begeben. Die Zarin übernahm die gesamten Unkosten der Reise. Die Vorbereitungen waren rasch abgeschlossen, und alsbald machte man sich in einem Abteil erster Klasse auf den Weg. Frau Wyrubowa, Frau S., Frau Orlowa, die Mutter des Generals Orlow aus dem Gefolge des Zaren, die Kammerfrau Anjuta und Lena. Auf dem Bahnhof in Perm erwartete Rasputin die Gruppe.

»Ah! Sieh da! Sieh da!« rief er aus, als er Frau S. sah. »Du hättest sehen sollen, wenn du nicht mitgekommen wärest …!«

Die Damen warfen sich fragende Blicke zu, weil sie sich nicht erklären konnten, was das bedeuten sollte. Rasputin nahm bei ihnen im Abteil Platz. Er erzählte ihnen von einem wunderreichen Ikon, das er in seiner Wohnung habe, einer Heiligen Jungfrau, die Tränen vergiesse, von einer neuen Isba.

In Jekaterinburg musste man aussteigen und einen andern Zug nehmen. Frau Wyrubowa brachte Frau S., Rasputin und Lena in einem Wagen unter, während sie selbst mit Frau Orlowa und Anjuta im nächsten Wagen Platz nahm.

Im Abteil Rasputins nahm Frau S. das untere Bett für sich. Rasputin und Lena legten sich zusammen in das darüberliegende. Ohne sich im geringsten zu genieren und trotz aller Proteste der Frau S., überliessen sich die beiden ihren nicht gerade unschuldigen Belustigungen. Schliesslich schlief Frau S. ein. Aber bald erschien der Staretz. Sie wachte auf und fuhr hoch, vollkommen bestürzt. In der Dunkelheit packte sie ihn am Bart. Sie war empört, verliess das Abteil und verbrachte die Nacht im Gang des Wagens. Anjuta fand sie dort und fragte, was mit ihr sei. Frau S. erzählte ihr, was ihr zugestossen war. Man bemühte sich um sie, worauf sie sich beruhigte.

siehe Bildunterschrift

Rasputin beim Frühstück mit Bauern seines Dorfes und zwei Petersburger Verehrerinnen.

Als man in Tiumen hielt, sagte Frau S.: »Ach, nun sind wir doch an Werchoturje vorbeigefahren!«

Rasputin, der inzwischen seine volle Sicherheit wiedergewonnen hatte, antwortete lachend:

»Das macht nichts. Dann lassen wir eben die ganze Pilgerfahrt!«

siehe Bildunterschrift

Rasputin im Kreise seiner Anhänger.

Auf dem Bahnhof in Tiumen hielten zwei Wagen. Man jagte im Galopp los, und die Fahrgäste wurden fürchterlich durchgerüttelt. Die arme Frau Orlowa ächzte und stöhnte, das machte Rasputin wütend. »Warum habe ich sie mir eigentlich auf den Hals geladen!« rief er.

Um zwei Uhr morgens war man in Pokrowskoje. Rasputin hatte jetzt ein durchaus unverschämtes Auftreten und kommandierte, als wäre er Herr und Gebieter. Seine Frechheit war immer grösser geworden, je weiter man sich von Petersburg entfernte.

Als die Wagen vor seinem Hause hielten, liess er alle Gäste in das grosse Zimmer eintreten, aber die Frau S. stiess er ganz einfach in das kleine Zimmer. Die Damen waren alle sehr müde und schliefen rasch ein.

Am Morgen weckte Rasputin die Damen. »Geh und wasch dich im Fluss!« befahl er Frau S. Sie gehorchte. Sie setzte sich dann auf einen Balken am Ufer, war kurz davor, in Tränen auszubrechen, und fragte sich, ob sie nicht nur einen bösen Traum habe … Was? Dieser unverschämte, brutale Bauer, dieser Wüstling wurde bei Hofe empfangen? … Eine Schande!

Eine Bäuerin kam vorbei, sagte ihr »Guten Tag« und fragte sie, woher sie käme. Frau S. sagte ihr, dass sie mit Rasputin zusammen angekommen sei. Bei diesem Namen zuckte die Bäuerin mit den Achseln, nahm ihren Eimer und ging zum Dorf, ohne noch ein Wort zu sagen.

Das machte Frau S. recht nachdenklich.

Der Morgentee wurde in der ersten Etage serviert, in der Gornitsa. Rasputins Frau, eine brave, sehr sympathische Frau, bemühte sich ernstlich um die Gäste. Rasputin selbst ging, mit den Händen in den Taschen, im Zimmer auf und ab; seine Lippen umspielte ein lustiges Lächeln.

Die Gastgeberin schlug den Damen vor, ein Bad zu nehmen; sie führte sie hinten auf den Hof in ein Bauwerk, das aus einem kleinen Vorraum und einem grossen Zimmer bestand. Nach dem Baden ass man zu Mittag. Rasputin verwies Frau S. an das Ende des Tisches; er war böse auf sie. Zwei junge, robuste Mädchen vom Lande nahmen am Mahl teil.

Jedesmal wenn man ein neues Gericht auftrug, bat Frau Wyrubowa demütig: »Grigori Jefimowitsch, segnen Sie es!« Der Staretz segnete es wie ein Patriarch. Er ass unsauber und mit vielem Geschmatze, fasste die Stücke mit seinen Fingern an, leckte den Löffel ab und benutzte ihn dann wieder, um damit den Gästen aufzufüllen.

Die Unterhaltung schleppte sich mühsam hin. Der Skandal, der sich in der Nacht im Zuge abgespielt hatte, verbreitete eine frostige Stimmung. Frau S. sprach kein Wort. Frau Wyrubowa vermied es krampfhaft, sie anzusehen. Nur Lena war zufrieden, denn sie war immer eifersüchtig auf Grigori. Nach dem Essen ging man im Dorf spazieren, ging zur Post und in die Kirche. Als die Damen den Priester kommen lassen wollten, brummte Rasputin mürrisch: »Nicht nötig!« Eine von ihnen war niedergekniet, da platzte Rasputin lachend los:

»Seht doch mal hin, wie sie betet! Wie eine Nonne!«

Schliesslich ging man in den kleinen Ortsbasar. Der Bauer, der diesen Laden unterhielt, war der einzige Mensch, der mit Rasputins Gästen sprach. Alle anderen, die man traf, blickten nicht gerade liebenswürdig beiseite oder sie schwenkten vom Wege ab.

Im Laden kaufte Rasputin jeder Dame ein Kopftuch.

Wieder zu Hause angelangt, nahmen alle auf den Bänken im grossen Zimmer Platz, und man fing an, Psalmen zu singen, die aber gewisse Stellen enthielten, die aus den Liedern der Chlysty eingefügt waren. Rasputin schlug mit den Armen Takt, als ob er den Chor dirigiere.

Nach dem Gesang unterhielt man sich und lachte. Die beiden Dorfmädchen, Dunja und Matrona, die mit Ungeduld auf diesen Augenblick gewartet hatten, kamen jetzt herein und schmiegten sich eng an Rasputin. Er fasste sie um die Taille und streichelte sie. Lena wollte dabei nicht leer ausgehen … Alle vier überliessen sich jetzt vollkommen ihrem Geschäker.

Gegen sechs Uhr abends ass man wieder, dann nahm Rasputin ein Bad.

In dem kleinen Gebäude hinten auf dem Hof seifte und frottierte seine Frau ihn von oben bis unten ab. Lena sass währenddessen dicht am Fenster des Badehäuschens auf einem kleinen Erdwall, der an der Mauer entlanglief, nicht weit von ihr hielt sich auch Frau Wyrubowa auf. Die anderen waren im Hause geblieben. Plötzlich kam Frau Wyrubowa, ganz rot im Gesicht, angelaufen und verkündete: »Kommen Sie! Kommen Sie! Der Heilige Geist hat sich auf ihn niedergelassen!« Um diese Worte richtig beurteilen zu können, darf man nicht ausser acht lassen, dass diese Formulierung, dass der Heilige Geist sich auf Rasputin niedergelassen habe, eine ganz speziell in Chlystykreisen übliche Formulierung war. Frau Wyrubowa packte Anjuta am Arm und wollte sie mit sich fortziehen. Anjuta schlug um sich und fing an zu weinen. Frau S. fasste sie darauf am andern Arm und bemühte sich, sie zurückzuhalten.

Schreiend und miteinander kämpfend gelangte die kleine Gruppe auf den Balkon und von da hinunter in den Hof.

Plötzlich fängt der Hund an zu bellen und stürzt sich voller Wut gegen die Pforte. Frau Rasputin kommt erschrocken vom Badehaus herübergelaufen. »Da sind sie! Da sind sie! Die Priester!« ruft sie den Damen mit leiser Stimme zu und schiebt sie in die Isba zurück. Die Gäste verstehen sofort, dass sich hier etwas Ungewöhnliches abspielt, setzen sich in der Nähe der Freitreppe rasch auf die Bank und geben sich Mühe, sich so zu unterhalten, als ob nichts Besonderes los sei.

Aber es war blinder Alarm gewesen. Der Priester setzte ruhig seinen Weg fort, ohne ins Haus zu kommen. Bald darauf erschien dann Rasputin, aus dem Bad kommend, rot wie ein Hummer. Er hatte noch ein Handtuch in der Hand, und während er sich das Gesicht abtrocknete, fing er an, der Frau S. Vorwürfe zu machen: »Du bist noch jung; du bist noch viel zu jung, um so keusch zu sein!«

Frau S. erwiderte ihm, dass er ein Chlyst sei! Der Staretz, empfindlich beleidigt, beschimpfte sie in rohen Ausdrücken. Frau Wyrubowa bemühte sich, beide zu beruhigen.

Abends fanden sich alle zu gemeinsamem Gebet in dem kleinen Zimmer, in dem, umgeben von andern Heiligenbildern, das wundertuende Ikon der Heiligen Jungfrau hing. Es war das Bild, von dem Rasputin auf der Reise erzählt hatte, dass es weinen könne. Nun, dieses Ikon, auf das eine kleine Lampe ein weiches Licht warf, sah aus, als habe man es kurz vorher mit Fett eingeschmiert.

Rasputin stellte sich davor auf. Alle fingen an, inbrünstig zu beten und das nachzumachen, was der Staretz ihnen vormachte. Er schlug unzählige Male das Kreuz, erst langsam und dann immer schneller und schneller – ein merkwürdiger Anblick!

Gegen Ende des Tages gab es noch einen peinlichen Moment. Die Dorfmädchen Dunja und Matrona schienen mit Ungeduld irgend etwas von ihrem Herrn zu erwarten. Rasputin gab ihnen Zeichen, dass sie schweigen sollten, und deutete mit einem Blick auf Frau S. Daraufhin fragte eines der Mädchen mit lauter Stimme: »Wann gehen wir denn zusammen schlafen?«

»Dummkopf!« antwortete der Staretz.

Am nächsten Morgen fuhr man nach dem Tee in einem Wagen ins Nachbardorf. Man wollte die »Brüder in Christo« sehen, wie der Staretz gesagt hatte.

»Setz dich auf den Bock!« sagte Rasputin zu Frau S.

»Schön!« erwiderte sie. »Aber dann werde ich die Zügel nehmen.«

»Nein, ich lenke. Ich bin der Herr hier!« Rasputin nahm die Zügel, und man fuhr los.

Die »Brüder in Christo« waren zwei robuste Bauern in den Dreissigern. Sie stellten eine Unmenge Fragen über Petersburg, und bei einem Spaziergang, den man unternahm, liessen sie die Damen nicht in Ruhe, sie nahmen sie um die Taille und küssten sie.

Gleich am ersten Tage hatte Frau Wyrubowa der Zarin ein Telegramm geschickt mit dem Wortlaut: »Schwimmen in Glückseligkeit«. Die anderen Damen hatten zwar davon abgeraten. »Wie können wir sagen, dass wir in Glückseligkeit schwimmen?« hatte eine von ihnen eingewendet. »Wir sind hier doch dauernd im Streit.« Aber Frau Wyrubowa hatte es doch für gut befunden. Der Staretz hatte ja seine Zustimmung gegeben. Aus irgendeinem Grunde aber hatte Rasputin nicht zugelassen, dass Frau Wyrubowa auch ein Telegramm an ihren Vater, den Staatssekretär Tanejew, schickte.

Am dritten Tage bekam Rasputin vom Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch, mit dem er damals noch auf gutem Fuss stand, eine Depesche, in der er gebeten wurde, zur Einweihung einer Kapelle zu erscheinen. In aller Hast rüstete man zur Abreise. Die beiden robusten Bauern aus dem Nachbardorf, die »Brüder in Christo«, fuhren die ganze Gesellschaft im Wagen nach Tiumen. Die Rückfahrt ging in zweiter Klasse vor sich. Nur Frau Orlowa, die krank war, wurde in der ersten Klasse untergebracht; sie kam aber ziemlich oft in den Wagen ihrer Reisegefährten und bemühte sich dort, alle miteinander zu versöhnen. Frau S. erzählte ihr mit allen Einzelheiten, wie skandalös sich Rasputin und Lena auf der Herreise in ihrer Gegenwart aufgeführt hatten. Sie bat die Frau Orlowa inständig, diesen Staretz bei der Zarin zu entlarven. Frau Wyrubowa behauptete jedoch, dass alle Handlungen dieses Mannes einen göttlichen Charakter trügen.

Im Zug zwang Rasputin wieder alle Damen, Psalmen zu singen. Ein sibirischer Industrieller, der die Gesänge hörte, sagte den Damen, dass es Chlystylieder seien. Daraufhin sang man nicht mehr weiter. Ein Unteroffizier, der im selben Wagen fuhr, fragte Frau S. mit einer gewissen Zurückhaltung, ob es wahr sei, dass eine Ehrendame der Zarin mit Rasputin zusammenreise. Frau S. schämte sich und sagte, dass das nicht stimme.

Je weiter man sich der Hauptstadt näherte, desto mehr verlor Rasputin seinen Uebermut.

In Wiatka versuchte Rasputin, sich mit der Frau S. auszusöhnen. Und zwar sollte dies auf dem Wege des Küssens geschehen. Sie aber gab ihm eine Ohrfeige.

Voller Wut rief er:

»Was soll ich ihnen denn nun von dir sagen?« Damit spielte er auf das Zarenpaar an. »Was soll ich ihnen von dir erzählen? Ich habe nicht aufgehört, dein Loblied zu singen, und nun beträgst du dich so! Was soll ich ihnen nur sagen!«

Man sah ihm an, wie unruhig er war. All seine Grobheit und seine Drohungen waren nun mit einem Male verschwunden. Wenn er jetzt noch die Frauen zu küssen versuchte, so geschah es nur noch, um sie milde zu stimmen und Frieden zu schliessen.

Man war kaum in Petersburg angekommen, da verflüchtigte sich Frau Wyrubowa, ohne sich von jemandem zu verabschieden. Herr S. erwartete seine Frau auf dem Bahnsteig. Rasputin ging sofort auf ihn zu und rief ihm lachend entgegen:

»Damit du es weisst: sie hat sich die ganze Zeit mit mir gestritten!«

Herr S. fing nun an, seiner Frau Vorwürfe darüber zu machen, aber als sie ihm auf der Fahrt von Petersburg nach Zarskoje-Selo alles erzählt hatte, bekam er einen heftigen Nervenanfall.

Gleich nach ihrer Rückkehr schrieb Frau S. der Zarin einen Brief, in dem sie ihr dafür dankte, dass sie ihr Gelegenheit gegeben habe, Sibirien kennenzulernen, und sie darauf aufmerksam machte, dass Rasputin nicht würdig sei, sich der Gunst und des Vertrauens der Majestäten zu erfreuen; Frau Orlowa könne ihr ja erzählen, was sich zugetragen habe.

Die Zarin liess die Frau Orlowa zu sich rufen, aber diese sagte ihr, dass Frau S. sich während der ganzen Reise von einer aussergewöhnlichen, beinah krankhaften Nervosität gezeigt habe und dass gar nichts Ernsthaftes vorgefallen sei. Die Zarin befragte dann aber auch noch Anjuta, ihre Kammerfrau. Diese sagte, sie wisse von nichts, und sie habe auch nichts gesehen. Man sagte der Zarin, dass Frau S. sehr prüde sei; sie habe überall da schon Verdorbenheit gesehen, wo in Wirklichkeit seitens des Staretz nur Treuherzigkeit und Schlichtheit vorgelegen habe; Frau S. versuche nur, den Staretz zu verleumden, um der Frau Wyrubowa zu schaden, weil sie deren Platz bei der Kaiserin einnehmen möchte. Hiermit hatten die Frauen Orlowa, Wyrubowa und Anjuta den Staretz bei der Zarin vollkommen reingewaschen, indem sie gleichzeitig der Frau S. einen empfindlichen Stoss versetzten.

Aber die Geschichte von dieser Pilgerfahrt wurde trotzdem bekannt. Frau S. erzählte sie mehreren Damen am Hofe, und man war in der sogenannten Gesellschaft recht aufgebracht sowohl gegen den Staretz als auch gegen Frau Wyrubowa. Diese versuchte allerdings, die Sache zu unterdrücken: sie schrieb einen etwas reichlich dunkel gehaltenen Brief an Frau S., in dem sie Rasputins Verhalten mit seiner Naivität und seiner Heiligkeit zu erklären bestrebt war. Aber der Gatte der Frau S. mischte sich ein, während einer der Bewunderer Rasputins sich für Frau Wyrubowa ins Zeug legte, und es fehlte nicht viel, so wäre es noch zu einem Duell gekommen, wenn sich nicht die alte Frau Tanejewa ins Mittel gelegt hätte: sie bemühte sich, den Ehegatten S. klarzumachen, dass ein Skandal vermieden werden müsse, da das ein schlechtes Licht auf das kaiserliche Palais werfen würde. So kam dann eine wenigstens äusserliche Aussöhnung mit Frau Wyrubowa zustande, was aber nicht verhinderte, dass die Ehegatten S. für immer bei der Zarin in Ungnade fielen.

Das war der erste Stoss, den die Begeisterung der grossen Petersburger Gesellschaft für Rasputin bekam. Bald folgte ein zweiter. Es verbreitete sich nämlich an der theologischen Akademie das Gerücht, dass bei der Beichte zu Ostern zwei junge Mädchen ausgesagt hätten, von Rasputin verführt worden zu sein. Der hohen Geistlichkeit gingen allmählich die Augen auf, und es entwickelte sich ein etwas kühles Verhältnis zwischen dem Bischof Theophan und Rasputin.

Die Petersburger Gesellschaft griff all diese Gerüchte mit Behagen auf. Im Lager der Anbeterinnen begann sich Besorgnis breitzumachen. Aber der Sommer stand vor der Tür, es kam die Zeit der Reisen, der Landaufenthalte und Seebäder. Die Majestäten fuhren nach Finnland; von da begaben sie sich zu den Festen in Poltawa, ins Ausland und in die Krim. Und damit hörte man eine Zeitlang auf, über Rasputin zu sprechen.


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