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Erstes Buch

Erstes Kapitel

Das westfälische Münsterland wirft gegen den Rhein hin eine Woge niedriger Hügel auf. Es sieht aus, als hätte sich vor undenklich langen Zeilen aus der weiten Fruchtebene eine weit zerstreute Herde riesenhafter Rinder aufgemacht, um zur Tränke an den Fluß zu wandern. Aber unterwegs, so nahe am Ziel, noch ehe die ersten in die Wasser des Rheines niedersteigen konnten, wurde die unabsehbare Schar von der Weltallsmüdigkeit überfallen. Sie legten sich nieder, eigentlich nur, um ein wenig zu rasten. Allein ihr Schlaf ging unmerklich in die große Erdenruhe über, die nur einmal im Jahre ein- und ausatmet, im Frühjahr und Herbst. Die Köpfe der Urweltskühe sanken in den Boden, ihre weitausladenden Hörner vermorschten, und nur ihre unförmigen Leiber ragen noch als Hügel aus dem ebenen Lande. Ihr Fleisch ist zu Erde geworden, ihre Gerippe versteinerten. Gras wuchs auf ihnen, kleine Wälder trieben ihr Wurzelwerk in sie, und endlich kamen die Menschen und siedelten sich auf ihnen an. Es ist die Gegend zwischen Emmerich und Wesel. Die Leute, die dort wohnen, gehören zwar zur Rheinprovinz, aber sie müssen doch noch dem westfälischen Volksstamme zugerechnet werden. Ihre Siedlungen sind schon zu geschlossenen Ortschaften zusammengerückt. Doch stehen noch genug einsame Höfe auf den langgestreckten Höhen und in den weiten, flachen Mulden.

Nicht weiter als drei gute Fahrstunden vom Rhein standen zwei stattliche Bauernburgen, jede auf einer Kuppe gelegen, einander in einer Entfernung gegenüber, daß man von dem Hoftor aus bei klarem, sichtigem Wetter die Beschaffenheit der Kleidung und die Haarfarbe der Leute des anderen Anwesens erkennen konnte. Den Ton einer kräftigen männlichen Stimme hörte man nur als einen ungefähren Laut, während auch nicht allzu lauter weiblicher Gesang in stiller Luft noch deutlich wahrzunehmen war. Aber es klang ja selten um die breiten, massigen Schobendächer. Wie mit dem angehaltenen Atem des Mißtrauens und verheimlichter Scheelsucht lagen die Höfe einander gegenüber und hüteten peinlich die Grenze der Feldfluren, obwohl drunten in dem Tälchen, wo sie sich hätten berühren können, der Weg lief, der aus dem Dorf zum Rheine hinausführte und sie schied. Darum war es unmöglich, daß ein Grenzstein nächtlicher Zeit sich in den fremden Acker verirren konnte. Kröpfige Weiden und da und dort eine Eiche, regellos zu beiden Seiten des schmalen Straßenbandes, hüteten außerdem die Gemarkung der beiden Besitztümer. Es war nicht eigentlich Feindseligkeit, durch die die beiden Höfe seit Menschengedenken geschieden waren. Nein, und doch machte jeder aus dem Sintlingerhofe, dem nach Norden gegen Emmerich zu gelegenen, einen weiten Bogen um den Hügel herum, auf dem seit Jahrhunderten das Bauerngeschlecht der Brindeisener hauste, wenn er wegen eines Handels an dem anderen Gehöft vorbei mußte.

Diese gegenseitige Scheu wie vor etwas gefährlich Unedlem schien nicht nur den Familien im Blute zu liegen, sie war in die Grundfesten der Wände eingemauert, floß aus dem Euter der Kühe, wurde bewußtlos alle Frühjahr mit dem Samen in die Furchen der Felder gestreut, und kaum, daß das neue Gesinde die zweite Bäcke Brot hatte verzehren helfen, wurde es innerlich von diesem Strome blinder Zwietracht auseinander gerissen.

Die beiden Familien waren getrennt wie gewisse Tiergattungen, die nie beieinander leben können, oder wie Pflanzenarten, die an den gegenseitigen Ausdünstungen zugrunde gehen.

Nun gab es auch keinen größeren Gegensatz als einen Brindeisener und einen Sintlinger.

Der erstere, lang, eher etwas überwüchsig, schleppte in einem knorrig-knochigen Leibe langsam seine drohende Schweigsamkeit umher, die von fast eisweißem Blondhaar unter einem Langschädel immer kühl gehalten und von stahlblauen Trotzaugen behütet wurde.

Die Sintlinger mußten in frühester Zeit durch eine Ausheirat einen solch kräftigen wallonischen Stoß erhalten haben, daß sie aussahen, als seien sie über dem Rhein her aus Brabant eingewandert. Eher unter Mittelmaß, klein und zäh wie ein Wurfholz, scharf wie ein Messer, immer lärmend wie eine rollende Trommel, tobten diese braunen, unheiligen Menschen nicht nur in den Furchen ihrer Äcker, sondern in der ganzen Gegend umher, unbekümmert um die Verletzungen, durch die allein sie den Nächsten nahetraten, gleichgültig aber auch gegen die fast verächtliche Scheu, mit denen man ihnen allenthalben begegnete.

Die Gegnerschaft der beiden Familien war im weitesten Umkreise sprichwörtlich geworden und verführte jedes Glied der entzweiten Geschlechter dazu, die Abneigung gegen alle Gepflogenheiten des anderen Hofes wie ein ehrwürdiges Vermächtnis sich von Kindheit an einzuprägen. Und doch vermied man es peinlich, durch Händel die Kluft zu verwischen, durch die man getrennt war.

Höchstens duldete man es mit verächtlichem Lächeln, wenn die Kuhhirten beim herbstlichen Weidegange sich Schmähreime zusangen oder mit den Peitschen aneinandergerieten.

Jedes hatte eine andere Sonne, eine andere Luft, einen anderen Gott.

Selbst das Aufblühen und Verwelken der Generationen gehorchte an jedem Orte einem anderen Rhythmus. Die Hochzeitslieder auf dem einen klangen in das Schweigen der ergrauten Ehe auf dem anderen Hofe; während die eine Bäuerin das erste Taufbett schüttete, schnitt die andere ihr Sterbehemd zu. Nie blühten die Männer zur selben Zeit; nie tanzte die Jugend auf den beiden Höfen zugleich den flatternden Hoffnungen entgegen. Wenn auf dem Brindeisenerhügel das Leben an vollen Tischen saß und sang, stieg der Tod vom Kirchhof her zum Sintlingerhause hinauf, setzte sich auf die Schwelle und schnitt sich sein Pfeiflein zurecht. So ist es wohl möglich, daß neben der Verschiedenheit der Rasse die Fremdheit der Lebensalter den Grund für die Fremdheit der Familien bildete.

In der ganzen Umgegend führten auch der Sintlinger- und der Brindeisenerhof den Namen die Fremdhöfe, und es wurde sogar behauptet, daß sich der Rauch der Feueressen fliehe, und wenn sich die Tiere der Getrennten zufällig vermischten, entstehe unweigerlich eine Mißgeburt.

Nicht das Säuseln der Weiden und Eichen, die im Tale ihre Felder schieden, vermochte ihren Träumen das Ahnen friedlicher Anwandlungen zu bringen; vergeblich wogten die Fruchtweiten in derselben Sonne über die Hügel; umsonst rief die Kirchenglocke des Dorfes aus dem Baumversteck herauf.

Auch das rührt keinen, wenn an ganz versunkenen Abenden in der Richtung nach dem Rheine hin jenes große erdrückende Schweigen in der Höhe anhob, das über jedem gewaltigen Strome lautlos am Himmel mitgeht, und das betrachtsamen Gemütern den Gedanken an die Ewigkeit nahebringen kann. Höchstens daß vielleicht ein junger Bursche von drüben, ein Eisgrauer von hüben, der auf der Bank unter den Hoftorlinden eine solch geheimnisvolle Einkehr erlitt, unter schweren Atemzügen aufstand, einen Augenblick flutend geworden, gegen die Erde sann und dann den Kopf schüttelte.

»Ja, wir können ihnen doch nicht nachlaufen«, murmelte er dann, »sie weichen uns ja überall aus. Da ist halt schon von jeher nichts zu machen.« Damit ging er schlafen. Und die Höfe konnten nicht zusammenkommen, weil das Tal zwischen ihnen lag, und die Menschen blieben getrennt, weil eine Kluft zwischen ihnen gerissen war, die sie weder begriffen noch verschuldeten.

Über das Verschulden waren allerdings viele Bewohner des Dorfes Hemsterhus, zu dem die beiden Bauernburgen gehörten, anderer Meinung. Die Fremdhöfe waren die entlegensten, aber bedeutendsten Anwesen der kleinen Gemeinde, deren Kern aus einer geringen Anzahl bescheidener Dächer unter Baumkronen bestand und, wenn man so sagen will, weiter ins Land hinein lag. Deswegen lieferte das Geschick der beiden reichen Familien den hauptsächlichsten Stoff zu den Geschichten, die durch die winterlichen Kunkelabende liefen.

Man erzählte sich, auf dem Sintlingerhofe habe einst ein wolfswilder Bauer gesessen, der tolle Jakob, ein Ausbund, dem Recht und Gesetz nicht mehr als der Schmutz an seinen Stiefeln gegolten hätte. Als es einst wochenlang regnete und das Korn auf den Halmen zu faulen anfing, ergrimmte er so, daß er hinaus an einen Kreuzweg ging und unter Lästerungen den Kruzifixus mit Steinen bombardierte. Die brennenden Jungfrauen roch er auf Meilenweite, und weil zu der Zeit auf dem Brindeisenerhofe eine Bäuerin aus und ein wirtschaftete, der die Tugend auch nicht allzu fest auf den Leib geschneidert war, lauerte er ihr in Abwesenheit ihres Mannes eines Abends auf und vergewaltigte sie. Beim Nachhausekommen hörte der Brindeisener von dem Vorfalle, riß seinem Weibe in der folgenden Nacht das Hemd vom Leibe, band sie nackt auf einen Stier und jagte das Tier mit Peitschenhieben in die Finsternis hinaus. Als aber nach der Ernte die Scheuern bis unter den First vollgestopft waren, schickte er seinen Knecht und ließ in einer Sturmnacht den Hof des Nachbarn an den vier Ecken anzünden, daß alles bis auf die Grundmauern niederbrannte. Keine Klaue und kein Schwanz, kein Quirl und kein Knopf konnten gerettet werden. Dem tollen Jakob aber fraß diese wilde Vergeltung jede Schandtat aus dem Leibe. Ehe der Morgen kam, war er ein anderer geworden, ließ die Brandstelle von dem Hemsterhuser Pfarrer einsegnen und ging dann an die Neuaufrichtung seines eingeäscherten Hofes. Auf das Dach des Wohnhauses ließ er ein kleines Türmchen mit einer Glocke setzen. Solange der Übeltäter lebte, läutete er getreulich alle Tagzeiten und ist auch bei der dünnen Stimme in den Lüften eines ehrlichen Todes gestorben. Im Laufe der Zeit verirrten sich die Sintlinger aber wieder in die alte Wildheit. Der Glockenstrick zerfiel, die Stiege zu dem Türmchen stürzte ein, und der Zugang wurde mit Brettern vernagelt. Von nun an war das Glöckchen sich selbst überlassen, und es ging die Sage, daß es jedesmal zu tönen anfange, wenn dem Hofe ein Unglück bevorstehe.

So erzählte das Volk. Aber es ist nicht gewiß, daß sich diese Ereignisse, und vor allem so, wie sie als Geschichten von Mund zu Mund getragen wurden, abgespielt haben.

Es kann sehr wohl möglich sein, daß die Leute sie erfunden haben, um sich die unausrottbare Fremdheit der beiden Bauerngeschlechter zu erklären.

Doch die Hemsterhuser gingen noch weiter.

Manch einer wollte in hellen Nächten, ja sogar mitten am hellen, lichten Tage etwas wie ein kleines Kind erblickt haben, das nackt, taumelnd, aber wirbelnd schnell um den Sintlingerhof getrieben wurde und in der Gegend nach dem Rheine hin verschwand, als werde es in die Luft geblasen. Aber diese Art von Hellsichtigen entstammte nicht dem besonnenen Teile der Bewohner, sondern jener Gilde von Menschen, die von Natur aus auf irgendeine Weise im Geiste zu kurz gekommen sind.

Zuletzt gingen diese Gesichte in einem Menschen um, den als kleines Kind der Hemsterhuser Stellmacher eines Morgens auf seiner Haustürschwelle gefunden hatte. Der kinderlose alte Mann nahm sich des armen Wurmes an, dessen sich wohl landfahrende Leute auf diese Art entledigt hatten, gab ihm den Namen Josef Niemand und setzte mit seinem betagten Weibe alles daran, einen brauchbaren Menschen aus ihm zu machen. Aber all ihre Mühe war umsonst. Je älter der arme Niemand wurde, desto tiefer wuchs er in tausend absonderliche Grillen und Seltsamkeiten hinein. So behauptete er, das Wachsen der Finger- und Zehennägel als Sausen in seinem Körper zu spüren, lief allen Vögeln nach, um ihren Gesang zu belauschen, weil er vorgab, sie zu verstehen; redete zu den Bäumen wie zu den Menschen; horchte oft nächtelang auf die Sprache des Windes und betrachtete die Wandelgestalten der Wolken, als seien es tiefsinnige Bilder.

Obwohl alle über derartige Propheten lachten, war es doch unleugbar, daß das Volk fest daran glaubte, ein Kind aus dem Sintlingerhofe werde einst die getrennten Familien zusammenbringen, aber dabei selber den Tod finden.


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