Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel

Den Hemsterhuser Alb, so wurde Josef Niemand von allen genannt, hatte sein außerweltliches Gaukeln an dem Totenbette seiner Pflegeeltern spurlos vorbei bis gegen das dreißigste Jahr getragen. Längst war das kleine Haus des Stellmachers, in dem er sein scheues Leben geführt hatte, vermorscht und zusammengebrochen, und Niemand streifte als Vagabund herum, ohne doch weiter als nach Brederode und Querhoven zu kommen. Aus uneingestandener Furcht duldeten ihn die Bauern zur Nacht in einem Winkel des Stalles und am Tage in einer Ecke der Gesindestube.

In dieser Zeit kam Andreas Sintlinger mit kaum zwanzig Jahren in den Besitz des Hofes. Seinen Großvater hatte das Glöckchen unversehens früh abgerufen. Er war während der Ernte tot zusammengebrochen, als er sich eben in Wut auf einen widersetzlichen Knecht hatte stürzen wollen, und seinen Vater hatte die Trunkenheit auf nächtlicher Heimfahrt in einen tiefen Ziegeleitümpel gehetzt, wo er ertrank.

Andreas trat die Herrschaft auf dem Sintlingerhofe ganz im Sinne seiner Ahnen an. Am ersten Tage seiner Bauernschaft versammelte er das Gesinde und ließ die lange Feuerleiter über das hohe Schobendach hinauflegen. Dann ergriff er eine Stange, stieg bis an das Türmchen und stieß lachend die Glocke an, daß sie bestürzt und blechern über die Hügel hin schrie. Nun habe sie ihr Sprüchlein gemeckert, meinte er übermütig, und werde ihn jetzt wohl verschonen. Darauf setzte er sich mit seinen Leuten in die große Stube, ließ Gericht um Gericht auftragen und zechte und sang bis tief in die Nacht hinein.

Der tolle Jakob Sintlinger schien mit ihm wieder in den Hof gezogen zu sein. Wo einem Mädchen das Schürzenband locker saß, fand er sich als erster in der Dämmerung ein. Kein Schabernack gelang ohne ihn, jedem Spott lieh er seinen Witz. Auf den Festen war er der Anführer der Ausschreitungen, stiftete mit größtem Geschick Zerwürfnisse und ersäufte dann hohnlachend die übereilten Feindschaften in Strömen von Wein. Aber seine Tollheiten waren durch einen Zug der Ritterlichkeit verschönt, und was an anderen als Gemeinheit wirkte, erhielt durch sein Wesen das Aussehen leichtsinniger Verwegenheit. Nie verbrüderte er sich mit Trotteln, und wenn er von einem Zechgelage im Kreise handwerksmäßiger Saufbrüder aufstand, kam es vor, daß er ihnen den Rest seines Glases ins Gesicht goß und lachend davonging. Trotz dieser unaufhörlichen Explosionen, mit denen er geladen war, vernachlässigte er seine Wirtschaft nicht im mindesten. Sein kleiner Körper besaß die Unzerstörbarkeit einer stählernen Maschine. Offenbar brauchte er die Zügellosigkeit so notwendig wie andere Menschen die Ruhe, um sich von seiner Arbeit zu erholen. Kam er gegen Morgen nach Hause, so erhob er sich nach drei Stunden Schlaf so frisch, als habe er einen ganzen Tag lang geschnarcht. Kaum konnten die Furchen hinterher, wenn er pflügte; das Korn sank schon vom Pfiff seiner Sense, und einmal, als ein in der ganzen Gegend berühmter Mäher bei einem Wettschneiden schon nach einer Stunde zwei Mannslängen hinter Andreas zurückblieb, wäre es um den kleinen Teufel bei einem Haar geschehen gewesen; denn plötzlich stürzte sich der riesenhafte Kerl, dem es ebensosehr um den verwetteten Taler als um den verlorenen Ruhm und den reichlichen Spott zu tun war, wie von Sinnen hinterrücks auf den Sintlinger, und wäre der nicht im letzten Augenblicke auf die Seite geflogen wie ein geschlagener Ball, so hätte ihn des anderen Sense ohne Besehen dem Totengräber vor die Tür geschoben. Die Zuschauer packten den Wütenden, und als er sich ausgeschäumt hatte, steckte ihm Andreas eine Wurst in die rechte Hosentasche und sagte, es sei ein gutes Kalbfleisch drin, die andere in die linke und versicherte, sie sei von einem ausgewachsenen Schöps, drückte ihm zwei Taler in die Hand und gestand, daß es bei der Wette nicht mit rechten Dingen zugegangen sei, weil er, der Sintlinger, des anderen Sense verstohlen mit Gimpelfett eingerieben hätte. Solche liebenswürdige Streiche pflanzte er immer wieder neben den Bocksbart ärgerlicher Ausschweifungen, und die Bauernschaft der Umgegend wußte nie recht, wie sie sich zu dem Tollkopf stellen sollte: sie schwollen vor Entrüstung, strömten vor Entzücken über und schütteten sich vor Lachen aus. Insbesondere die Mädchen sahen in einem Gefühl, das aus Grauen, Bedauern und Verlangen gemischt war, aus den Fenstern, wenn der verwegene Wildfang auf seinem Gefährt durch ein Dorf raste. Aber er saß geborgen hinter seinen Pferdeschwänzen und hielt offenbar mehr von Schürzen und Scherzen als von Herzen. Bis er einst durch Brederode kam, einen Ort, etwa eine halbe Wegestunde von Hemsterhus. Dort sah er an einem Frühlingsmorgen die schöne Johanna Klim, die Tochter des Vorstehers von Brederode, auf der Wiese neben dem Wege beim Bleichen der Leinwand. Sie ging neben der grauweißen langen Bahn hin und überbrauste aus einer Gießkanne das Gewebe, an dem sie an den Winterabenden hatte spinnen helfen. Der mailiche Sonnenwind fuhr dann und wann gegen den tausendfältig zerteilten Wasserstrahl und stäubte ihn in silbrig schimmernden Tropfen um das blonde, zierliche Mädchen, daß sie mehr einer himmlischen Erscheinung im verklärten Licht als einem Menschen glich. Kaum hatte das Andreas Sintlinger einmal gesehen, da riß er die Pferde zurück und wartete mit angehaltenem Atem, bis das Schimmern wieder um die Jungfrau sprühte, dann stieg er wie im Traume vom Wagen, band die Pferde an einen Baum und saß und starrte verzückt auf das Wunder, das unversehens in seinem Leben aufgegangen war. Als das Mädchen das rätselhafte Betragen des tollen Menschen gewahrte, entsank ihrer Hand vor Schrecken die Kanne, denn es konnte doch immer sein, daß er, noch taumelig von durchzechter Nacht, am Graben sitze und auf einen Schabernack sinne, den er ihr antun könne. Aber sie faßte sich doch in dem Gedanken, daß sie niemals gegen den jungen Bauer, auch im geheimen nicht, etwas Böses gesprochen habe, ergriff die Kanne, überschaute scheinbar ruhig ihre Arbeit und schritt den Rain hin furchtlos auf ihn zu, um über den Weg in den väterlichen Hof zu kommen. Als sie sich ihm näherte, pflückte er eilig einige Blumen, erhob sich und ging ihr entgegen. Schon in einiger Entfernung sah sie, daß das Feuer in seinen tiefbraunen, großen Augen und das rote Lodern über das ganze Gesicht hin von einer anderen Art Trunkenheit herrühre und bedauerte doppelt ihre Vermessenheit. Schon standen sie Blick in Blick einander gegenüber. Sie sah, wie der Mann, von einem inneren Sturm geschüttelt, am ganzen Körper bebte, die Blümchen bittend ihr hinreichte und hörte ihn unverständliche Worte durcheinanderstammeln. In höchster Verwirrung wollte das Mädchen an ihm vorbeischlüpfen. Da zuckte eine jähe Wildheit durch den Sintlinger, daß er augenblicks gleich einem Eisenpfahl in die Erde gerammt vor ihr stand. Mit leidenschaftlicher Entschiedenheit bat er sie um die Erlaubnis, ihr die Blumen an die Brust stecken zu dürfen. Wenn sie sich dem widersetze, so könne er sie ja nicht zwingen. Aber er werde dann geradeswegs in Karriere mit seinem Gespann in den Steinbruch jagen, der hinter Brederode hart neben der Straße in den Hügel getrieben sei. Wenn Andreas auch nicht blaß bis in die Zähne geworden wäre, sie wußte bestimmt, daß er in seiner Verwegenheit Wort gehalten hätte, und duldete, worum er sie bat. Am ganzen Leibe zitternd, in halber Ohnmacht fühlte sie noch, wie er ihre Hand mit heißen Küssen bedeckte. Dann war der Weg frei, und der Sintlinger fuhr, auf einmal aller Geschäfte ledig, in jubelndem Galopp nach Hemsterhus zurück.

Als er außer Sehweite war, nestelte wohl Johanna die Blümchen wieder los und verbarg sie in einem Holzstoß. Am Abend aber holte das Mädchen sie verstohlen hervor und legte sie unter ihr Kopfkissen, weil sie meinte, daß es unedel sei, ein gegebenes Versprechen nicht zu halten. Denn sie war eine jener seltenen göttlich-gütigen Seelen, die von den Spielen auf der himmlischen Wiese hinter des Herrgotts Rücken in das irdische Leben geschlüpft sind und darum frei auch von jenem Makel im Lichte gehen, den nach der Meinung vieler Christen jeder Mensch als Lehnsnachfolger in der Schuld und Sünde seiner Ahnen zu tragen hat. Solche Menschen werden nur von der Rücksicht auf die Not anderer geführt und wissen um ihre Güte durch nichts als die Erschütterungen über die Leiden des Nächsten. Dies und die Tatsache, daß die Liebe in der Sehnsucht nach Erfüllungen besteht, die unserem Wesen versagt sind, band das stillste, reinste Mädchen so fest an Andreas Sintlinger, der nur aus fessellosem Brausen zusammengebraut schien, daß der alte Klim in Brederode nach dem ersten Schrecken über das Schicksal seines geliebten einzigen Kindes begann, die Weisheit seines eigenen langen Lebens aufzutrennen und um und um zu wenden, damit er herausbekäme, wo der Fehler stecke, für den er also gestraft würde. Indes er bei diesem Geschäft in allerlei innere Nöte geriet und seiner Tochter voll Kummer ins Gewissen redete, erreichte er doch weiter nichts, als die Ratlosigkeit über die unbegreifliche Fügung bei ihr zu vermehren, daß sie sich unlöslich an einen Menschen gefesselt fühlte, der noch vor Tagen als ein bunter, wilder Schrecken an ihrem Leben fern vorübergezogen war. Geheime Zusammenkünfte, vor denen sie schluchzend bebte und die sie dann doch selig betäubt gewährte, banden sie immer fester an den unterirdischen Sturm ihrer verbotenen Liebe, zumal Andreas plötzlich der zarteste, hingebendste Mann geworden war und sie immer tiefer in den Taumel einer Verklärung hineinriß, der über ihn gekommen war. Endlich erlahmte der Widerstand des alten Klim, und kaum ein Jahr, nachdem er Johanna bei der Bleiche auf der Wiese gesehen hatte, führte sie Sintlinger als Weib auf seinen Hof nach Hemsterhus. Das Lodern war aus seinem Blick geschwunden, in seinem Gesicht zuckte es nicht mehr von Unbändigkeiten. Wie friedvolle, glückliche Kinder saßen die Neuvermählten unter der Hochzeitsgesellschaft, die aus dem Staunen gar nicht herauskam, daß so schnell aus einem zügellosen Burschen ein solch gemessen-freundlicher Mann geworden war. Denn auch die Mißtrauischen bemerkten keine übertriebene Süßlichkeit an Andreas, wodurch sich am leichtesten die nur mühsam unterdrückte Wildheit verrät. Ja, er hatte sogar auf Bitten Johannas in den Brindeisenerhof eine Einladung ergehen lassen, um nach dem Wunsche seiner Liebsten die Hand zur Überbrückung der Kluft zu bieten, die die beiden Familien trennte, und war auch nicht aufgebraust, als die Gäste aus dem anderen Fremdhofe ausblieben. Denn die erwachsene Tochter lag dort in einer gefährlichen Krankheit, und Anton Brindeisener hatte nicht nur ein ansehnliches Hochzeitsgebinde, sondern auch eine Entschuldigung gesandt, aus deren Worten man den guten Willen zur Beilegung der unnatürlichen Feindseligkeit herauslesen konnte. Auf Betreiben der Braut packte man von den besten Gerichten einen Henkelkorb voll, legte auch eine Flasche Wein dazu und schickte es zu Brindeisener hinüber, damit er mit den Seinen auf diese Weise an der Hochzeit teilnehme. Andreas Sintlinger willigte in guter Laune in alles ein, und als man ihm nach einiger Zeit meldete, sein Nachbar stehe auf dem anderen Hügel vor dem Hoftor und halte ein Glas in den Händen, goß er sich lachend auch sein eigenes voll, eilte hinaus, schrie einen Trinkgruß hinüber und leerte seinen Becher in einem Zuge, während auch der andere Bauer mit seinem Wein fröhlich Bescheid tat.

Ein Teil der Hochzeitsgesellschaft war dem Bräutigam gefolgt und begleitete die Zeremonie des Verbrüderungstrunkes mit lautem, frohem Beifall. Eben trat auch die Abendsonne aus dem Gewölk und goß über das schöne Bild ihr rötliches Licht, als bekräftige der Himmel selber die gute Absicht der lang Getrennten.

Wohl fiel in der ersten Nacht, die Johanna unter dem Dache der Sintlinger schlief, ein toller Sturm über den Hof her, daß die Linden am Tor alle Gewalt zusammennehmen mußten, ihm nicht zu erliegen, aber der Hellseher aus Hemsterhus, der wieder einmal die nächtliche Jagd des Kindes um das Gehöft bemerkt haben wollte, der scheue, tölpische Alleshorcher, schlich vergeblich um die Mauern und lauschte in den Lärm des Windes. Das Glöckchen hing lautlos in dem Turme und schlief.

*

Nun fahren sich ja Bauern die Freundschaft nie in Fudern ins Haus, und bei Brindeisener und Sintlinger war zudem noch ein besonders eigentümlicher Fall. Bei allem guten Willen saß eben jeder doch zu tief in ererbten Schatten, die, ein wenig grämlich, erst jede entgegenkommende Gebärde, jedes aufgeschlossene Wort umspielten, ehe sie diese guten Boten hinaus, dem anderen entgegenließen. Das Leben drehte sie auch in dieser Zeit ihres guten Willens in gar zu entfernten Gegenden des Daseins. Denn die Krankheit drückte Brindeiseners Tochter immer tiefer in die Kissen und goß heimlich in jede Medizin ihr schleichendes Gift, daß alle Heilmittel zu ebenso vielen Fördernissen des Leidens wurden und das arme Wesen den Atem wie eine Not und den Herzschlag wie einen Schmerz erduldete. So kostete es die Brindeisenerschen fast Überwindung, über diese schwarze Mauer, von der sie eingeschlossen waren, freundlich in die lichten Lustgärten hinüberzugrüßen, durch die der junge Sintlinger mit seiner noch jüngeren Frau wandelte. Deren Hof lag nun in dauernder Sonne, und hatte ihn früher ein atemloser, gepeitschter Fleiß bis tief in die Nacht mit seinem Lärm erschüttert, so ging die Geschäftigkeit jetzt mit hellen Lauten durch den Tag, sah am Feierabend zufrieden aus abendroten Fenstern und horchte in sternhellen Nächten auf das Schwelgen, das über dem fernen, großen Strome hoch am Himmel mitzog.

Das Gesinde neckte sich wohl spöttisch über die Verwandlung, die es durch den andern an sich wahrnahm, und traf solch ein Stich einen Rohen, so verfiel der auch zum Beweise seiner Gleichgültigkeit gegen den neuen Geist in das alte Sintlingersche Toben; aber dann durfte die junge Bäuerin bloß über den Hof gehen und ihr gütiges Gesicht ihm zukehren, so schimpfte der Aufbrausende zwar noch weiter, aber wie zur Entschuldigung plötzlich nur noch über die Leine, die sich im Rade verfangen hatte, oder auf das Roß, das beim Anschirren kälberte, und lenkte darauf in ruhiger Achtsamkeit das Gefährt zum Tore hinaus, als sei er es von Kindesbeinen an gewöhnt, jedes Schimpfwort mit den Zähnen zu zerbeißen, ehe es über die Lippen kommt.

Am tiefsten steckte natürlich der Bauer selbst in dem lichten Zauber, den Johanna auf seinen Hof gebracht hatte. Noch wie am ersten Tage, da er sie auf der Wiese zu Brederode gesehen hatte, war ihre Gestalt von einem Schimmer umgeben. Die Stuben glänzten von verborgenen Verheißungen; seine Besitzung erschien ihm wie ein neues Anwesen, die ganze Gegend verwandelt; seine Schrankenlosigkeit hatte sich auf sein Inneres geschlagen. Er erwartete Außergewöhnliches, das er nicht begriff, und Wunderbares, dem er nur durch leidenschaftliches Ahnen nahekam. Hörte er seine Frau in der Nacht neben sich atmen, so ging dies Senken und Heben bald durch das ganze Haus, wurde zum Wogen, mit dem die Finsternis draußen über der Welt ruhte, ja, es war ihm, als werde er davon selbst auf und nieder an irgendeinen geheimnisvollen Ort getragen, und am anderen Morgen wachte er mit dem Erstaunen auf, sich nur in seinem Zimmer zu finden. An den Abenden, da er mit Johanna vor dem Hoftor auf dem Bänklein unter den Eichen saß und auf die stillen und reinen Geschichten aus ihrer Kindheit lauschte, sah er Märchen um sich spielen, die als kostbare Unerreichbarkeiten vorbeizogen.


 << zurück weiter >>