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In Hemsterhus einigte man sich schnell, daß die Leiche aus dem Sintlingerschen Walde das trübselige Übrigbleibsel des Niemand-Narren sei. Bei genauerer Untersuchung hatte man zwar am Halse des Toten in der Kehlgegend einige blaue, länglich verlaufende Streifen entdeckt, die Würgemalen nicht unähnlich waren. Aber da über die Persönlichkeit des Entseelten nur eine Stimme herrschte, spielte die Todesursache keine Rolle. Man atmete im Gegenteil erleichtert auf, daß die Gemeinde der Sorge für den Narren ledig sei. Früher oder später hätte sich seine Unterbringung in einer Irren- oder Idiotenanstalt als notwendig herausgestellt, und durch Jahrzehnte wäre dann dieser Unnütze dem Dorfsäckel schwergefallen. Die Leiche befand sich auch schon in einem Zustand weit fortgeschrittener Verwesung.
Das Ortsgericht entschloß sich aus diesen Gründen schnell, und schon in der Abenddämmerung desselben Tages, an dem der Tote gefunden worden war, wurde er an der Mauer des Hemsterhuser Kirchhofs gleich neben der Selbstmörderecke verscharrt.
Nach kurzer Zeit schichtete der Totengräber über der Stelle einen richtigen Grabhügel und stellte am Kopfende sogar eine Art Denkmal auf, einen vierkantigen Sandstein, der etwa eine Handlänge aus dem Boden ragte und auf der oberen Seite ein gemeißeltes Kreuz, wie ein Grenzstein, an der Stirnseite aber die Anfangsbuchstaben des Narren, ein I und N, trug.
Auf Fragen nach der guten Seele, die hinter dem jämmerlich abgeschiedenen Narren auf diese wahrhaft christliche Weise die Tür zur Ewigkeit zugemacht hatte, schob der Totengräber Wachsmann eine ganze Weile ein geheimnistuerisches Lächeln im Gesicht herum, nannte aber dann ruhig die Heiligenhofbäuerin und fügte regelmäßig hinzu, daß es nun auch für die bösen Zungen an der Zeit sei, dem armen Albe sein bißchen Seligkeit zu gönnen.
Es ist nicht sicher ausgemacht, ob er von Johanna zu dieser Mahnung beauftragt war, aber man geht nicht fehl in der Annahme, daß es der Sintlingerin sehnlichsten Wunsch bildete, mit diesem Totenstein dem vagen Gerede über den Tod des Glöckchenhorchers ein Ende zu bereiten und auch vielleicht sich selbst sichtbar die Warnung vor Augen zu stellen, nie mehr den dunklen, unterirdischen Wogen ihr Leben anzuvertrauen, die in der Tiefe jeder Seele wer weiß welchem Ziele zuwandern.
Freilich gelang der Bäuerin das eine wie das andere nicht so ohne weiteres.
Eine lange Zeit gingen die Flausenschützen von Hemsterhus und den umliegenden Ortschaften noch leidenschaftlich auf die Jagd nach neuen Geschichten über den geheimnisvollen Tod des Niemand-Narren, zogen in Zweifel, daß der Beerdigte überhaupt der Alb sei, begegneten dem echten Niemand bald in der Querhovener Sägemühle, bald im Forste von Dingden, sahen die Irre, die so treue Totenwacht bei der Leiche gehalten hatte, nächtlicherweile am Grabe kauern, ließen sie von dem Gericht eingefangen und wegen des Mordes angeklagt sein. Ja, sie überhitzten ihre Einbildungskraft so, daß es eine Weile gleich heißer Flugasche von Haus zu Haus getragen wurde, der Sintlinger, der Heiligenhofbauer, habe den Narren erwürgt und ihm dann zur Sühne für die Blutschuld durch sein Weib den seltsamen Denkstein setzen lassen.
Und immer, wenn so eine neue Wolke an den Heiligenhof heranschwelte, wurde Johanna wieder ein Stück ins Dunkel zurückgescheucht, dem sie entrissen worden war, und dem Sintlinger fiel es nicht leicht, sie bei ihrer neuen Hoffnung zu halten. Er bemühte sich um die Beruhigung seines Weibes nicht so, daß er die Schwätzer in den Dörfern durch Zorn und Verächtlichmachung ins Unrecht setzte (er nannte sie wohl einmal ein faules, feiges Geschmeiß, weil er sah, daß die noch innerlich wunde Johanna litt), sondern indem er ihr riet, die Ohren zu schließen und ungestört an jene Sicherheiten zu glauben, die von selbst aus ihrer Brust wüchsen.
Es kam denn auch so, wie er es sich gewünscht hatte.
In einer Nacht wurde er aus tiefem Schlaf gerüttelt. Beim Auffahren stand zu seinem Verwundern Johanna vollständig angekleidet neben ihm, geheimnisvoll aufgeregt, mit Augen, so leuchtend, als wollten sie aus dem Kopfe rollen. Er solle sogleich aufstehen und mit ihr hinter den Hof hinausgehen, da werde er etwas hören und sehen, was er nicht für möglich halte.
Nur halb angekleidet stand er bald darauf neben Johanna hinter den Scheuern, wo man insbesondere über das Hügelgewoge von Brederode und Hemsterhus einen freien Ausblick hatte.
Der späte Mond hing wie im Herabgleiten unsicher am Himmel, ein Blechschild, mit weichendem Nagel achtlos an eine schräge Wand geheftet. Die Ränder seiner verdunsenen, gelben Scheibe waren verwischt und gingen in ein fahles, dunstiges Rauchen über, das den ganzen Himmel füllte und auch noch die Rücken der Hügel und das Gewölk erreichte, das um den ganzen Horizont so tief gelagert war, daß es das Gleiten der Hügel bis in die Unendlichkeit des Himmels fortsetzte. Jedes leise Wogen in diesen dunstigen Hügelhaufen lief als schwaches Pulsen auch durch die Hügelwellen der Erde und schien sie mit jedem traumhaften Schlag weiter hinauszutragen.
Der Sintlinger kämpfte gewaltsam gegen die Schlaftrunkenheit, und obwohl er all dieses wahrnahm, hielt er es nur für eine Wirkung seines traumumnebelten Geistes, mochte aber seine Frau weder fragen, was daran Ungewöhnliches sei, nach mit einer spöttischen Bemerkung ihr wehtun.
Sie hatte sich auch mit Absicht etwas entfernt von ihm aufgestellt, und er sah durch das Schummern der Nacht so weit die Umrisse ihrer Gestalt, daß er erkennen konnte, wie sie, förmlich in die Luft hinausgeschmiegt, mit allen Sinnen in die Weite horchte.
Aus den finsteren Tälern sauste es leise wie von fortschleichenden Wassern. Von der Scheune, die in schwarzer Plumpheit unmittelbar vor ihm lag, ging jener dumpfe, eintönige Laut aus, der nur mit den Augen hörbar ist.
Plötzlich sah er seine Frau aufschnellen, abwehrende Bewegungen machen und ihn zugleich zu sich heranwinken; zwischenhinein sprach sie aufgeregt und dringend durcheinander: »Sei still! – Komm her! – Hör' doch! – Hörst du nichts?« –
Nun war er dicht an ihrer Seite. Ganz wach geworden. Aber er sah doch nichts als das traumhafte Fortgleiten der Hügel in dem blachgelben Monddunst.
»Was gibt's denn bloß, Johanna?« fragte er sie endlich. Aber sie wandte ihm nur schnell das Gesicht zu, daß er ihre Augen feucht schimmern sah, und erfaßte statt aller Antwort seine Hand.
Als sich die Finger der beiden ineinander flochten, geschah etwas Sonderbares. Der Sintlinger sah alles rundumher in intensiveres Glasten getaucht. Von lebhafterem Schwunge erfaßt, glitten die Hügel schneller hinaus, und über und mit ihnen schwamm ein ganz schwaches Klingen in der hohen Luft davon, immer leiser, immer verhauchter, bis es zuletzt nur noch im Lichtzittern des fernsten Horizontes ein Weilchen stand und lautlos erlosch. Dann war es still, in die tiefste Seele hinein, ganz still.
»Jetzt wird sie nie mehr läuten, unsere Glocke. Jetzt hat ihr der gute Himmel für immer den Klang ausgesogen«, sagte die Sintlingerin erschüttert. »Andreas, jetzt sind wir wirklich gerettet. Gott sei Dank! Gott sei Dank!«
Der Sintlinger schaute unwillkürlich auf und sah die Glocke wahrhaftig schwarz und entseelt im Türmchen über dem Dachfirst hängen.
Seine Frau huschte hüpfend ins Haus, und ihr »Gott sei Dank« klang wie ganz junges Auflachen.
Er mußte selber staunend lächeln und folgte ihr.