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Der Bauer ging nicht gleich zu Bett, sondern schloß die Tür zum Schlafzimmer, setzte sich auf die Wandbank des Wohnzimmers hinter den Tisch und überließ sich seinen Gedanken.
Nicht lange, und er hörte den alten Zenker sich zur Ruhe begeben; das Tor knarrte, der Haustürschlüssel kreischte, vorsichtige Schritte kamen den Flur her, polterten gegen die ersten Treppenstufen und verloren sich die Stiege hinauf unter den Boden. Da fiel die Müdigkeit auch den Bauer an, und er begann seine Kleider abzulegen. Er zog den Rock aus und legte ihn neben sich, knöpfte die Weste auf und drückte sie auf den Rock. Er drückte sie ein-, zweimal fest, als wäre etwas in dem Kleidungsstück, das sich gegen ihn wehre. Ja, endlich preßte er die Hände so leidenschaftlich auf die widerspenstigen Sachen, daß er sogar seinen Körper vornüber neigte.
Aber unvermutet mußte er sich aufrichten; denn ein seltsamer Gedanke bedrängte ihn, so seltsam und unsinnig, als habe er ihn nicht aus seinem Kopf, sondern als sei er aus den Kleidern in seine Seele gestiegen.
»'s ist ja Unsinn!« sagte der Sintlinger zu sich und sah sich in der dunklen Stube um.
»'s ist ja lächerlich!« wiederholte er, aber schon leiser, und mußte trotz der Gegenwehr diesen törichten Einfall wieder sinnen: »Helene hat ja gar nicht den alten Zenker gesehen. – Sie sah ja auf den Querhovener Wald, und Zenker kam von der entgegengesetzten Seite hinter der Scheuer vor.«
Aber der Sintlinger achtete auf diese Absurdität seines Innern nicht weiter, vollendete das Auskleiden und ging mit einem spöttischen Lächeln ganz erfüllt in die Schlafkammer. Beim Überschreiten der Schwelle sann er sogar höhnisch weiter: »Vielleicht will er mir noch weismachen, das Kind habe den fortgelaufenen Faber-Narren gesehen, haha!«
Doch mitten in seinem Spott hinein war es, als spräche deutlich eine Stimme: »Jawohl! Geh du nur an das Bett Helenens, und wenn du in der Finsternis ihr Gesicht wahrnehmen kannst, dann ist alles wahr.«
Zugleich spürte der Bauer das graue Wanken in seinen Kopf ziehen, das dem tiefen Schlaf vorauszugehen pflegt. Deswegen dachte er bei sich, der Traum hauche ihn schon bei offenen Augen an, ließ sich aber doch an das Bett seines Kindes führen, und merkwürdig, als er seine Hand tastend an dem Seitenbrett des Bettes hinschob, zerriß plötzlich das Schummergewölk traumhafter Anwandlung und machte einer grellen Klarheit, fast Überwachheit Platz.
Noch konnte der Sintlinger überlegen, daß diese Zustände wahrscheinlich die Folge der vielfältigen Aufregungen des Tages und des leidenschaftlichen Kampfes mit den Gedanken des Herner Rebellen seien, aber da beugte er sich auch schon wie gestoßen über das Lager Helenens und richtete seine Blicke unausgesetzt in der Richtung durch die Nacht, von woher der stille Atem seines Kindes kam. Es blieb finster. Nicht einmal das weiße Kissen, geschweige die Umrisse des kindlichen Kopfes waren wahrzunehmen.
»Na also!« sagte der Sintlinger enttäuscht zu sich. »Da haben wir's. Gehn wir nun schlafen.«
Aber auf einmal hörte er, daß die Atemzüge Helenens schneller und schneller wurden, unruhig und unregelmäßig. Darauf fing sie an, sich zu wälzen, und stieß ein gähnendes Seufzen aus.
Und dann geschah das für ihn Unbegreifliche.
Er sah nämlich die Augen Helenens unter sich, nicht in ihrer Farbe und der deutlichen Wölbung der Augäpfel. Sie schwebten mit dem Ungewissen hauchenden Lichte ganz ferner Sterne in der Finsternis, bewegten sich wie suchend hin und her, erloschen, wenn die Lider über sie sanken, und standen dann wieder lange still in einem rätselhaft dunstigen Leuchten.
Der Sintlinger wußte nichts von der Eigentümlichkeit mancher Menschenaugen, die Helle, die sie am Tage in sich aufgesogen haben, im Dunkel wieder auszustrahlen, sondern nahm es als den sichtbaren Beweis der geheimnisvollen Sehkraft seines Kindes, der ihm jetzt eben geschenkt worden war, da er im geheimen sich zweifelvoll mit den Behauptungen des flüchtigen Rebellen geschlagen hatte.
Er fühlte eine fast körperliche Hand an der Schulter, die ihn sanft zurückschob und zur Tür hinaus in die Wohnstube drückte. Ein Schimmernebel von glückvollem Jubel wogte um seinen Kopf. Mit fliegenden Händen zog er sich wieder an, und als er leise die Wohnstube hinging, war es ihm, als öffnete sich die Tür von selbst. Die Haustür tat sich auch geräuschlos auf, und bald stand er draußen unter den Hoftorlinden in der verwaschenen Sternenhelle der Nacht. Eben fuhren die Glockenschläge der Hemsterhuser Turmuhr schon ermattet, aber klar durch die hohe Luft über ihm und fielen fern zur Erde. Sie schossen rasend schnell herunter und zerschellten wie an Steinen, so daß der Bauer noch sekundenlang ihre Klangscherben nach allen Seiten tönend durch die Luft sausen oder mehr spritzen hörte.
Mit wachsten Sinnen befand sich der Sintlinger wie mitten in dem spukhaften Weben eines Traumes. Langsam trat er an den Rand des Hofhübels und sah angestrengt auf den Grenzweg hinunter, um herauszubekommen, wo die Töne eigentlich aufschlugen. Längst war die Glocke verstummt, aber er konnte nicht ablassen, hinunterzustarren. Es war ganz still. Nur sein Blut hörte er leise picken. Aber nein! Das waren ja Schritte! Er trat so hart an den Rand des Abhangs, daß er sich an dem Stamm eines Baumes halten mußte, um nicht abzugleiten. Ohne Zweifel! Es kam jemand sprungweise den Grenzweg von Hemsterhus her, immer einige aufgepeitschte Sätze, dann schwere durcheinandertaumelnde Schritte höchster Erschöpfung.
»Der Mann, den Helene gesehen hat!« blitzte es dem Sintlinger durch die Seele, und er drängte sein Hirn mit einer solchen Gewalt in die Ohren und in den Blick, daß ihn die Augäpfel von der Anstrengung des Sehens schmerzten. Wie durch ein Wunder konnte er die fahle, verschummerte Straße unterscheiden, und bald darauf sah er wirklich den Schatten eines Mannes sich von dem Schatten eines Baumes lösen und unschlüssig einen Moment auf der Mitte des Weges schwanken.
»Holla!« schrie der Sintlinger törichterweise hinunter. Da schoß der Mensch schnell wie der Schatten eines Nachtvogels nach dem Walde zu davon, und seine springenden Schritte klangen schwächer und schwächer. Rasch überlegte der Sintlinger, ob er den Abhang hinunter ihm nacheile oder den großen Bogen, den der Grenzweg eines Hügelvorsprungs wegen machen mußte, abschneide und über die »Hohe Kippe« renne. Er zog den Fuß zurück, den er instinktiv schon zum Schritte vorgeschoben hatte, und lief in weiten Sätzen den Hügel hinauf.
»Und wenn ich bis zum Teiche laufen soll«, sagte der Bauer, und um dem Flüchtling zuvorzukommen, stürzte er sich, als würde er geschleudert, quer über die Wiese hin, wo die Waldstraße mit dem Grenzweg sich vereinigte. Schon war er an der Wegkreuzung und spähte, an seinem Atem reißend, bald nach dem Walde hin, den er als eine finstere Wolke ins Nachtdunkel hineinschwanken sah, bald vigilierten seine Blicke den Grenzweg entlang, der sich aus dem verengten Tälchen wie aus einem riesigen Loche hervorwand.
Nichts zu erlugen!
Alles still wie gefallenes Laub.
Er wartete noch eine Weile und ging dann über den Weg in die Wiese hinein, aber aus keinem anderen Grunde, als um sich niederzusetzen und die Aufregung etwas loszuwerden. Denn mitten in der Wiese war eine Quelle, die einen kleinen Tümpel ins Gras gedrückt hatte, mit dem sie vor dem Weglaufen in der Nähe eines Gesträuchhaufens stand und sich blank und schwarz umsah. Dort wollte sich der Sintlinger ins Gras legen, seine Gedanken ordnen und die Straße drüben im Auge behalten, wenn ja noch jemand käme.
»Das wär' mir einer!« sann er im Hingehen. »Will Gott zwingen und läuft durch Tage und Nächte wie unsinnig vor Gendarmen und Bauernknütteln davon.« Mit einem verächtlichen Lächeln setzte er sich unter den Strauch, langte einen Zweig in die Hand und begann im Weitersinnen die Blätter davon abzustreifen. Allein, es war doch kein rechtes Sinnen, sondern ein traumhaftes Umsichgreifen schwanker Gedankenverbindungen, das in seinem Kopfe hin und her wogte. Ohne den geringsten Grund brachte er den Herner Rebell, den Mann, den Lenchen gesehen haben wollte, und jenen Straßenläufer, dessen Schritte er auf dem Grenzweg gehört hatte, auf eine Person und fühlte sich dabei in einer ahnungsvollen Schicksalsverknüpfung, wie sie nur den Tatsachen eigen ist, die der Traum in unsere Seele stellt, so als liefen alle Wege seines vergangenen Lebens zu diesem Ereignis heran und holten sich aus ihm die Kraft zukünftiger Richtung. Aber mitten in diesem Tiefversinken fiel ihn der Zweifel an, ob er sich nicht überhaupt mit dem Männerlaufen auf dem Grenzwege geirrt habe, und ob es nicht töricht sei, den Bemerkungen seines Kindes soviel Wichtigkeit und vor allem diese Deutung beizulegen. Der Sintlinger ließ den Zweig aus der Hand fahren, daß er klatschend in das Geblätter zurückschnellte, und überlegte sich, daß vielleicht alles, was sein Denken berücke, nur die Folge jener halluzinatorischen Überempfindlichkeit sei, von der er auf allen nächtlichen Streifereien seit jeher geplagt wurde, und beschloß, die aussichtslose Verfolgung eines wahrscheinlich bloß eingebildeten Mannes aufzugeben und nach Hause zu gehen.
Ehe er sich aber erhob, horchte er noch einmal auf das Quellchen vor sich, das leise pinkte, als klinke jemand vorsichtig eine winzige unterirdische Tür auf, dann schluckte es an verfangenen Wellchen, und manchmal ging gar ein schwaches Blasen von ihm aus, mit dem es durch das Gras raschelte. »Vielleicht hat alles denselben Lebenshauch wie wir Menschen«, sann er, »der Stein, die Pflanze, der Boden, das Wasser«, ließ sich auf seine Hände nieder und beugte sich horchend ganz nahe an die Quelle heran.
Aber er mußte schreckhaft zurückfahren.
Denn da lag ja ein Mann lang im Grase wie niedergestoßen, den Kopf nahe am Tümpel, aus dem er wohl hatte trinken wollen. In diesem Augenblick mußte ihm die Besinnung geschwunden sein, denn das Gesicht lag schlaff auf die Seite gesunken, die Arme matt in die Halme gestemmt. Er lag regungslos, und sein Atem strich ab und zu leise, aber hörbar durchs Gras.
»Das ist ja der Niemand-Alb«, zuckte es als greller Glast durch den Bauern, »was soll das bedeuten? Da ist ja mein Weib, mein Kind, mein Hof, alles verloren, ich selber.« Der Sintlinger saß im ersten Anprall einer unbeherrschbaren, sinnlosen Furcht strack aufrecht und vermochte sich nicht zu rühren. Aber schon im nächsten Moment hatte er sich wieder in der Hand.
»Was wollen Sie denn hier?« rief er laut.
Der Fremde rührte sich nicht.
»He! Sie! Stehen Sie auf!« Er packte ihn an der Schulter und rüttelte ihn.
Der Unbekannte stieß ein tiefes, langes Stöhnen aus, kam aber nicht zu sich.
»Das ist ja nur ein Betrunkener!« lachte der Sintlinger endlich spöttisch auf, gab ihm einen derben Schlag auf den Rücken und rief anfeuernd: »Also hopp! Los, Alter!«
Da ging ein langsames, schweres Zusammenraffen durch den großen Körper des Daliegenden. Taumelnd und unsicher kam er zur Höhe, setzte sich auf und verharrte dann mit zurückgesunkenem Kopf eine Weile, wie um sich von der Anstrengung des Emporrichtens zu erholen.
Der Sintlinger konnte in dem Sternenlicht die Züge seines Gesichts nicht recht erkennen. Er sah bloß eine fast zu hohe, mächtige Stirn, wie eine blasse, zerfurchte Knochenwand, eingesunkene Wangen, einen langen, verwühlten Vollbart und darein einen schmerzvoll gepreßten Mund gegraben.
Jetzt hob der Fremde den Kopf aus dem Nacken und starrte nach allen Seiten suchend ins Dunkel.
Er bemerkte jedoch den unter dem Strauche sitzenden Bauer nicht, bewegte müde das Haupt und sagte fast unhörbar im Anklingen an einen ihm unbekannten Dialekt zu sich: »Nein – nein. – – Es war nichts ... Ich werde noch ein wenig schlafen ... schlafen ... schlafen, bloß schlafen ...« Dann ließ er sich mit einem schmerzvollen Atemzuge wieder zusammensinken.
»Faber ...« sagte der Sintlinger ergriffen und unsicher.
Der Fremde bewegte zustimmend den Kopf und sagte: »Ja, ja ... 's ist gut. Ich weiß, daß du da bist. Aber laß mich jetzt. Schlaf du, schlaf. Du hast's nötig.«
Der Bauer konnte aus diesen rätselhaften Worten weder erkennen, ob der Unbekannte wirklich Faber sei oder irgendein Fremder, den ein geheimer Gram durch die Nacht trieb, noch auch, ob seine Worte an ihn gerichtet waren oder das Selbstgespräch eines Übermüdeten seien.
Ohne diese Möglichkeiten in sich zu einer klaren Einsicht zu schlichten, handelte der Sintlinger nach dem Drange, der ihn bewegte, seit er des Herner Bergmanns unbegreifliche Worte über Gott gelesen hatte, und nahm den Wunsch, mit dem seltsamen Manne darüber streiten zu können, für dessen Erfüllung.
Deswegen sagte der Bauer nach einer Pause.
»Aber du bist fortgelaufen.«
Der Fremde antwortete aus dem Halbschlaf:
»Das weißt du ja, daß ich dich aus Menschenmitleid habe laufen lassen.«
»Aus Schwäche bist du fortgerannt, aus Feigheit«, sagte der Sintlinger, der zu ahnen begann, daß der Fremde nach der Art Halbträumender mit sich als einer anderen Person redete.
»Ganz recht, ganz recht«, entgegnete der Unbekannte, »wegen der Schwachheit der anderen. Denn du bist stark genug, fremdes Unrecht zu tragen. Sei aber jetzt still, schlafe und gräme dich nicht fortwährend.«
Nun war der Sintlinger sicher, daß der Flüchtling kein anderer als Faber sein könne.
»Mensch«, sagte er deshalb, »Mensch, das ist eine Lüge in deinen eigenen Hals hinein. Du hast Angst vor deinem Tode.« Auf diese Worte schrak der Fremde aus seinem Schummern auf, sprang mit einem Satze auf die Füße und sah sich hastig atmend um.
»Das kann ich nicht sein«, sagte er murmelnd zu sich. Dann sprach er lauter:
»Ist jemand da, so melde er sich.«
Seine Stimme hatte sich verwandelt, sie war voll ergreifender Sicherheit.
Der Sintlinger erhob sich etwas betroffen und trat aus dem Schatten des Strauches heraus, einen Schritt ihm entgegen.
»Hier bin ich«, sagte er dabei.
»So, so«, sprach Faber ruhig und maß ihn durch das Dunkel. »Wer bist du?«
»Ein Bauer.«
»Aus der Gegend?«
»Ja, hierherum zu Hause. Und du? – Bist du nicht der Bergmann aus Herne, der die Leute aufredet und dann fortläuft?«
»Und deswegen verfolgst du mich und lauerst mir in der Nacht auf?« antwortete Faber ausweichend mit gütigem Verweisen. »Nicht jeder, der läuft, läuft vor sich. Ich habe keine Angst. Aber mir tun die leid, die mich verfolgen, und ich muß sie davor bewahren, unrecht an mir zu tun.«
»Fällt mir gar nicht ein, daß ich dich fangen wollte«, erwiderte der Sintlinger, von etwas Abgründigem in den Worten, noch mehr in der Stimme Fabers angeschüttert und doch zugleich durch einen Stolz des Fremden verletzend beiseitegeschoben, daß er sich mit seinem alten, schneidigen, fast verächtlichen Aufbäumen dagegen wehrte. Aber Faber überhörte das beleidigende Losfahren des Bauern vollkommen und antwortete ruhig: »Also, wenn du mir nichts antun willst, dann geh und laß mich allein. Ich bin müde von der Jagd nach mir und will einen Augenblick schlafen. – Laß mich! Wenn es Zeit ist, werde ich tun, was notwendig ist. Gute Nacht, Mann!«
Während der letzten Worte hatte sich Faber wieder niedergelassen und auf dem Boden ausgestreckt. Den Nachtgruß rief er dem Bauer schon im Liegen zu. Dann schob er den Arm als Kissen unter den Kopf und kümmerte sich um den Sintlinger nicht mehr.
»Wenn du nicht mehr wolltest, als in der Nacht auf der Wiese zu schlafen, so hattest du doch nicht nötig, tausend Leute aufzurühren!« rief der Heiligenbauer höhnisch.
Der Fremde schwieg.
»Geh! Du!« rief er von neuem grimmig. »Ja, jetzt ist dir der Mund zugewachsen! Wo ist denn deine Gewalt, du Prahler, mit der du Gott zwingen kannst, wenn du in der Not nichts kriegst als – Schneiderbeine.«
Faber erwiderte noch kein Wort auf den Schimpf, und der Bauer geriet immer mehr ins Unrecht. Und je mehr er das empfand, um so heftiger übermannte ihn sein ungebändigtes Temperament. Aber er erreichte mit seinen Angriffen doch nichts, als daß er selbst immer haltloser und unsicherer wurde, während des anderen Macht wuchs.
Bald befand er sich in einer Art Notwehr, weil er fühlte, wenn der Mann aufstand und davonging, ohne daß er ein entscheidendes Wort zu ihm geredet hatte, dann war er ganz gewiß gezwungen, ihm nachzufolgen und zu bleiben, bis er zu ihm gesprochen hatte.
Es kam eine förmliche Angst über den Bauer, daß er nicht mehr Herr seiner klaren Überlegung blieb. Seine Worte fuhren über seine Lippen, als blase er Feuer. Er lüftete schon die Verschnürung geheimster Überzeugungen und gab den Schimmer und die Luft manches versteckten Winkels aus seinem Leben preis.
Faber trat trotzdem mit keiner Gebärde aus seinem Schlafzustand heraus, strömte aber immer fühlbarer ein rätselhaft hohes Mitgehen aus, das den Sintlinger in immer neues Bekennen führte.
Unter Widerstreben und in Bedrängnis, den »Streifer« dennoch ins Unrecht zu setzen, ließ der Heiligenbauer Hülle um Hülle seines Lebens fallen und näherte sich der tiefsten Umwandlung seines Daseins, dem Geheimnis, das durch sein Kind über ihn gekommen war.
Das aber wollte er sich nicht entreißen lassen, konnte jedoch nicht verhindern, daß er an diese Erneuerung seiner ganzen Welt heranstreifte, indem er von einem Blick sprach, der hinter alle Wesen zu dringen imstande sei.
Bei diesen Worten schnellte Faber unvermutet wieder in die Höhe und bestärkte den Sintlinger damit in der Annahme, daß er die ganze Zeit über sich nur schlafend gestellt hatte. Das Emporrichten des großen Mannes war so machtvoll, und er sah dann in einer so ungeheuerlichen Art nach ihm hin, daß der Heiligenbauer, sich plötzlich in seinen eigenen Worten nicht mehr zurechtfindend, verstummte.
»Mein Lieber«, sagte Faber über ein kleines Sinnen hin leise, »du bist ein großes Stück vorwärtsgekommen. Gewiß. Aber hüte dich. Denn du hast eine Natur, daß du am Ende in eine Not und Irre geraten wirst, die größer ist als die, aus der du gekommen bist.«
»Warum?« fragte der Sintlinger mit furchtsamer Ironie. Faber wiegte verneinend sein Prophetenhaupt, und als der Heiligenbauer in ihn drang, es ihm ruhig zu sagen, denn er sei kein Zwirnfaden, den man mit zwei Fingern auseinander reißen könne, gab ihm der Faber einen Bescheid, den der Sintlinger für vollkommen töricht hielt. Er sagte etwa: es könne nicht fehlen, daß es ihn am Ende in einer furchtbaren Mühle wirbeln werde, weil er überall, wohin ihn das Sinnen führe, sich immer selbst mitnehme, sogar zu seinem Gott hinein. Besonders die Sätze, mit denen er endete, sprachen allem Hohn, was der Sintlinger bis jetzt gehört hatte. Faber sagte: »Das Wissen um das Denken hat mehr Seelen zerstört, als Schwerter seit jeher Menschen erschlugen. Wer weiß, ohne es zu denken, und fühlt, ohne es zu fühlen, allein jener denkt und fühlt das ewig Denkens- und Fühlenswürdige. Das Wissen des Denkens gleicht dem Blick, der eine Kugel von außen sieht. Das Denken ohne Bewußtsein erlebt die Bewegungen des Weltalls und das Gefühl, das sich nicht kennt, die Empfindungen Gottes.«
Dies schien dem Bauer eine ausbündige Verrücktheit zu sein. Überhaupt endete diese Unterredung in einer so grotesken Weise, daß davon alles Schwere und Tiefgreifende vorher in die Unwahrscheinlichkeit eines bloßen Traumerlebnisses getaucht wurde.
Denn der Laut von Fabers Stimme klang noch in der stillen Nachtluft, da ertönte aus der Ferne des Sintlingerschen Waldes ganz schwach das Traben von Pferdehufen und kam schnell näher.
Dem noch eben so überlegenen Gottbezwinger riß das Geräusch den Kopf herum und stürzte ihn unversehens in die alte Angst. Er begann zu zittern, sein Atem pfiff, vergeblich rang er nach Festigkeit, wie es dem Heiligenbauer schien. Plötzlich streckte er beide Hände wie um Hilfe flehend nach ihm aus und stotterte: »Bauer... Bauer... Menschenbruder... hörst du... da kommen sie schon wieder... Bauer!...«
Vor diesem jammervollen Zusammenbruch bemächtigte sich des Sintlingers die alte beißende Ironie. Er riß seinen Geldbeutel aus der Tasche und drückte ihn dem Flüchtlinge mit den spöttischen Worten in die Hand: »Ja, ja. Lauf, was du kannst, armer Schelm! Und da nimm noch eine Wegzehrung zu deinem Gott mit.«
In diesem Augenblicke prallten die Hufschläge, die er vorhin vernommen hatte, eben laut ins Freie. Faber sprang mit einem Heuschreckensatz auf und lief geduckt dem Walde zu, in dem sich bald leises Knacken eilig weiterwand und erlosch.
Drüben an der Straße klapperte es eilig stolpernd herbei, stutzte an der Wegkreuzung einen Augenblick und trabte dann schnell weiter.
Das Pferd schnob; der unförmliche Schattenballen seines Leibes wogte vorüber; einigemal zuckte ein schwaches Schimmern, vermutlich vom Helme des Gendarmen, auf. Dann verloren sich die Hufschläge in dem finsteren Tunnel des Tälchens nach Hemsterhus und waren bald hinter dem Vorsprung des Sintlingerhübels im Nachtschweigen untergegangen. Den Bauer aber fiel plötzlich ein Lachen an über den Herner Rebellen, der wie ein Riese aus der Nacht getaucht, dann so kläglich davongelaufen war, und über den Gendarmen, der ihn so töricht verfolgt hatte.