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Zwölftes Kapitel

Nachdem Johanna von dem neuen Wirbelwind, der ihren Andreas gepackt hatte, ein Stücklein mitgeführt worden war, faßte sie sich, früherer Schäden eingedenk, mit festem Griff und lenkte ganz in die Freude über das Glück ihres Mädchens zurück. Und das tat sie mit dem unzerbrechlichen Vorsatz, sich durch nichts und niemand mehr, Gott ausgenommen, davon abbringen zu lassen. Nicht mit Tasten und halben Gelenken kam Johanna von den Wochen zurück, da sie in Kummer dem Sorgenbohren ihres Mannes gefolgt war, nein, gleichsam mit einem Ruck sprang sie neben ihr neugeborenes Kind und erstaunte, welche Veränderungen indes mit Helene vor sich gegangen waren. Aus dem mondscheinzarten Elflein war, wenn auch noch keine handfeste Dirn, so doch ein Strünklein geworden, das im besten Saften stand. Sonst schwebte sie beim Gehen, als treibe es Laub über den Boden, jetzt federte sie mit stählern entschiedenen Schritten davon. Früher sogen die Hände das, was sie wünschten, sanft und zauberhaft in sich hinein, nun packten die Finger keck und unverweigerlich zu. Sonst erschütterte ihr leises Organ bis in die tiefste Seele, nun schallte nur die Luft von ihrer fröhlichen Stimme und einem Lachen, das kaum abriß. Ihre Augen erholten sich aus dem erfrorenen Weißblau der blicklosen Zeit zu lodernder Tiefe und jähen, fast räuberisch zupackenden Blicken. Ihre Hüften begannen zu wogen. Das zarte Oval ihres Engelgesichtes verschwand unter strotzend gesunden Wangen. Sie ging auf die Arbeit los wie ein Fleißiger, der jahrelang gelähmt gesessen, und auf die Lust und Freude wie ein Hungriger gegen einen gedeckten Tisch. Oft sprang sie mitten in der Arbeit auf, warf jubelnd die Arbeit gen Himmel und rief: »Kinder, Kinder! Ihr wißt ja gar nicht, wie schön die Welt ist.«

Sie brauchte kaum etwas zu lernen. Während sie in der jenseitigen Welt ihrer blinden Augen verwunschen umhergesessen und durch nutzlos himmlisches Träumen gewandelt war, hatte sie sich alle Fertigkeiten angeeignet, so geheimnisvoll, wie ein Kind die Sprache der Erwachsenen kann, noch ehe es ein Wort zu sprechen imstande ist. Jeder Griff lag fertig in ihren Händen und wartete nur auf den Anruf. Was sie nur einmal mit dem Saum ihres Kleides gestreift hatte, gelang ihr, wie anderen nach jahrelanger Mühe. War sie früher ein wunderwürdiges Kind aus einer anderen Welt gewesen, jetzt machte sie die Werkelei des Tages zu einer Art Zauberspuk nicht bloß durch die rätselhafte Weise des Ursprunges in ihr, sondern viel mehr noch durch die Tatsache, daß ihr Fleiß und ihre Kräfte sie nicht aufbrauchte, sondern vermehrte, daß sie einer Wunderlampe glich, die das Öl durch das Verzehren erzeugt. Sie ähnelte darin ganz ihrem Vater in seiner jungen Tollzeit, da sich die Arbeitslust immer aus seinem Leibe gestürzt hatte wie ein ausgeruhter Sturm aus dem Gebirge, das ihn entläßt und nichts dadurch verliert. Auch erlebten manche Eigenschaften des Sintlingers in Helene eine verwandelte Neuaufstehung. Das Blau ihrer Augensterne vertiefte sich nicht nur, es überlief sich mit einem immer sanfteren Bronzeton, wie mit dem schattenhaften Widerklang aus ihres Vaters nachtschwarzen Augen. Die Jäheit fuhr aus ihr wie ein immer abgezogener Schuß, und ihre Sucht, ihr unersättlicher Lebenshunger fand in den Aufregungen der Arbeit keine Stillung, so daß er in alle Art geräuschvoller Lust überschäumte, unbekümmert um die Gebote vorsichtiger Schicklichkeit. Am liebsten, wenn Johanna sie nicht mit Gewalt gehindert hätte, wäre sie zur Musik jedes Leierkastens im Arm der Mägde über den Hof gefegt. So raste sie auf dem oberen Flur hin und her, bis alle ihre Partnerinnen ausgeblasen auf den Schwellen saßen. Zu jedem noch so entlegenen Gartenkonzert drängte sie, keine Feier, keinen festlichen Aufzug wollte sie versäumen. Wie über Nacht stand sie in tausend Flammen. Wie ein Meer war sie, das all seine Wellen im Stoß einer einzigen Fontäne in die Luft verschleudern will, wie eine Erde, die nichts kennt als den Rausch eines einzigen Frühlings. Und wurde ihr auch nur ein Lustplan entwunden, so verfiel sie in eine Klage, als habe sie eine unwiederbringliche Lebenskostbarkeit verloren. Dann setzte sie sich hin und schrieb mit ihrer in Tagen erlernten, ungeübten Schrift und einer Orthographie, die einzig den Geboten der Herzlichkeit gehorchte, an Peter Brindeisener bewegliche Trauerergüsse darüber, »taß sü tas Loben inn schaten förrprinken misse als Sei sü noch plinnt«, und beschwor ihn, doch ja über acht Tage zu ihr auf den Sintlingerhübel zu kommen »und nücht mer vorrt zu geen ün alle Oewikeit«. Einer dieser Briefe schloß: »Tönn tu bist meine Himmellfart, tu bist das öwige Welderrwahchen teiner Helene.«

Selten wurde die Heiligenhofbäuerin von dem Schatten einer Furcht gestreift, sah sie Helene wie mit keuchender Brust auf das Leben losgehen. Meistens riß sie der grenzenlose Wirbel des erwachten Mädchens mit zu lauter Lust und Fröhlichkeit, oder ihr wurden gar die Augen vor Rührung naß bei dem Gedanken, wie sehr das liebe Kind in der langen Augennacht gepeinigt worden sein mußte, wenn sie jetzt einen solch besessenen Hunger ausstehen müsse. Der Heiligenbauer aber umschlang die Erhitzte angstvoll oder stand mit blassem, zuckendem Gesicht beiseite oder wich ihr geradezu aus, als sei dies dralle, laute Bauerndirnchen nicht sein jenseitsbelichtetes, erdenentrücktes Mädchen, sondern ihr platter, leerer Spuk. Doch kam er heim und fand sein Kind nicht gleich, so überkam ihn geradezu Schrecken. Er lief um den Hof, auf allen Rainen ins Feld hinaus und rief mit bebender, angstvoll ausgehender Stimme nach ihr.

Allein, in diesem Feuerkochen des erwachten Welthungers verlor das Sintlingerlenlein niemals ganz die Verbindung mit dem schattenlosen Licht ihrer verklarten Heiligenzeit. Wenn sie sich an der neuen Süße der Erde atemlos selig geschwärmt hatte, geschah es immer, daß sie die Lider über die Augen fallen ließ, als müsse sie in die Mutterstube ihres alten, jenseitigen Traumschauens auf Augenblicke zurücksinken, nur weil in der lautlosen Seelenhelle das zu verstehen sei, was in der Sonnenglut sie entzückte. Von dort aus sah sie dann mit ihrem in der Tiefe noch unirdischen Gesicht wie durch bunte Scheiben auf dies Leben.

*

Während so das Sintlingerlenlein sich immer tiefer in ihr neues Dasein verstrickte, daß alle Wege, die sie sah, nur den Sinn hatten, festlich darauf zu wandern, alle Häuser nur Fenster besaßen, um bunte Tücher daraus schwenken zu können, einen Himmel über den Dächern, in ihn hinauf zu jubeln, und die Tage immer zu kurz gerieten, mit allem Scherzen und Lach ans Ende zu kommen, hing Peter Brindeisener derweil mit seinen tiefsten Träumen in den unwirklichen, verklärten Höhen, aus denen ihm das hübelheilige Mädchen wie ein himmlisches Wesen geschenkt worden war. Alles in sich fühlte er gesundet. Den Fleiß brauchte er nicht mehr mühsam dem Plunder von tausend nichtigen Zerstreuungen abzuringen, die Sammlung stammte nicht mehr von der Reue um vergeudete Zeit und Kraft, sein Stolz schmeckte nicht mehr nach der Eitelkeit des halb Gebrochenen. Die eiserne, kühle Zähigkeit seines jahrhundertalten Geschlechts hatte ihn rein von der Tiefe her ergriffen, so daß er unbeirrt treulich Tag um Tag sein Studium bestellte wie seine Ahnen ihren Acker, aber ohne deren Finsterlichkeit, ohne die lautlose Verbissenheit, denn sein Gemüt war genesen, in hellste Sonne gestellt, so, als sei es nicht einst von der Brutalität seines Vaters unheilbar zerschlagen worden. Mit seinen reichen Gaben war er der hervorragendste Hörer der Rechtsfakultät. Durch die Kühle angeborenen Scharfsinns, die Fülle seiner Erfahrungen und die Bekanntschaft mit den Listen einer oft gefährdeten Existenz fand er sich in den verwickeltsten Rechtskonflikten zurecht, als sei er nicht der halb verbummelte, angemooste, zweimal fahnenflüchtig gewordene stud. jur. im dritten Semester, sondern ein junger Gelehrter, wenn seinem Wesen auch das Rechtfinden näher lag als die Rechtsdarstellung.

Es kam wohl vor, daß Peter Brindeisener von oder zur Vorlesung den eifrigen Schritt wie eine Fremdheit an seinem Körper fühlte und leise, aber doch beglückt über sich lächelte. Doch in den folgenden Arbeitsstunden war er ganz Hingabe, ohne den Anreiz eines Zieles notwendig zu haben. Die ernste Tätigkeit und der Sinn der Pflicht reichten schon hin, ihm eine freudevolle, reine Erhebung zu schenken, und einmal überraschte ihn das Verwundern, daß die Männerwelt als Ideal ihrer Erlösung und Verklärung nicht ein weibliches Wesen erfinde, weil doch alles, was ihre Größe ausmache, von den Frauen herstamme. Auf solche Weise kreiste er auch durch Arbeit um das Lenlein, das er sich gern aus frommer Scheu wie in den Himmel entfremdete, und es daher weit von sich wies, dies hauchzarte, duftige Gebilde mit aufdringlichen, herausgeputzten Schönheiten zu vergleichen, die ihm auf der Straße oder in der Gesellschaft begegneten. Wie ein Einsiedler das Bild der Gottesmutter, so trug Peter das Bild seiner heiligen Geliebten verschwiegen in sich und vermied es peinlich, irgendeinen Vertrauten sein Glück auch nur von ferne ahnen zu lassen. Und wenn es sich hin und wieder ereignete, daß die Umsitzenden bemerkten, daß dieser kühle, mächtige Mensch mitten im Kolleg, das Gesicht mit Blut Übergossen, mit verzückten Augen, wie verzaubert dasaß, so meinte wohl mancher, daß er der Nachtünche einer zu reichlichen Abendkneipe unterliege. Denn niemand ahnte, daß Brindeisener noch unter richtigen Schülerüberfällen seiner Liebe litt, daß er die Wangen Lenleins auf den seinen, ihre Lippen auf seinem Munde und ihren Atem als heiße Woge über sich hinstreichen fühlte. Darum war er auch ganz von der Qual befreit, die ihm früher sein Auge immer bereitet hatte, daß er jede Frau, jedes Mädchen nur als Genußmenschen ohne Kleider sah, womöglich in horizontaler Auflösung. Er hatte das sonst »die Unerschrockenheit und Durchschlagskraft seines Blickes« genannt und sich mancherlei darauf eingebildet. Nun war er in solch stetes Schwelgen hinaufgeschleudert worden, daß er sogar im Rhythmus und Ton des Geläutes jeder Glocke den Namen seiner Geliebten hörte.

Er, der hundertmal Gefallene, benahm sich wie ein Anfänger der Liebe und ließ seine Leidenschaft ein Ideal in sich zurechtkochen, das dem Wesen eines Sechzehnjährigen angemessen gewesen wäre, nicht aber einem Manne entsprach, der so oft durch die Skepsis seines überscharfen Verstandes sein Leben und das Dasein der Menschen überhaupt in Atome zersetzt hatte.

Darum konnte es auch nicht ausbleiben, daß schon nach kurzer Zeit aus einem ziemlich belanglosen Vorfall, wenn auch nicht eine rückläufige Bewegung, so doch eine Erschütterung seines erhobenen Zustandes eintreten mußte.

An einem Sonntage unternahm er einen Ausflug in die Umgebung Münsters, ganz allein, ganz einsam, nur in Gesellschaft seines Traumbildes, das ihn nie verließ. So verlor er sich, die Roxeler Straße hin, am Koesfelder Kreuz vorbei, ins Feld. Beim Zurückkehren wandte er sich oft nach der durchstreiften Gegend um, sich die Orte einzuprägen, an denen er wieder allerlei wundersame Beglückungen durch sein verliebtes Herz empfangen hatte. Es ging schon tief auf den Abend zu, die Nebel begannen aus den Feldern der Ferne zu steigen und hingen im Licht der untergehenden Sonne als ein geröteter Flor vor der Gegend, so daß die Hügel des fernen Horizontes in wolkenhaften Rundungen in das stille Feuerglimmen des Äthers hineinzogen. Dort erblickte er nach einigem Verweilen die zierliche Elfengestalt Helenens, wie sie im Unräumlichen nicht einem Ziele zustrebte, sondern nur im Genuß ihres Daseins in seliger Nutzlosigkeit dahingetragen wurde und endlich in der Gegend zerging, in der nach seiner Meinung Hemsterhus liegen mußte.

Diese glückhafte Erschütterung seines Innern war so heftig, daß er noch beim Eintritt in seine Stube wie durch die hohe Luft zu gehen vermeinte und einsah, Licht sei bei dieser Seelenverfassung nicht zu ertragen. Deswegen setzte er sich im finstern Zimmer still an den Tisch, und als ihn der fahle Wderschein der Straßenbeleuchtung im Fenster störte, kehrte er sich sogar ab und wandte das Gesicht der Wand zu. Als er eine Weile so zugebracht hatte, wiederholte sich wohl nicht die Erscheinung über den abendroten Feldern draußen, dafür aber fand er, wie alle Laute um ihn, das Fahren der elektrischen Bahn, das Gehen im Treppenhaus, menschliche Stimmen und Wagengerassel immer schwächer und schwächer klangen, so daß ihn bald eine vollkommene, unwirkliche Stille umgab. Und da er in dies weltabgründige Schweigen mit der gespanntesten Aufmerksamkeit eindrang, um doch noch einen Laut zu erhaschen, hörte er einen klaren, hellen, hohen Ton hinzittern, hauchleise, wie Mondlicht über Bäume streicht, und nach Sekunden denselben Ton in der gleichen Höhe, aber voller, eindringlicher.

Peter Brindeisener horchte mit hingebendster Aufmerksamkeit, die Lippen ein wenig geöffnet, wie um den zauberhaften Laut einzuatmen. Und dann erklang ein zweiter, dritter, vierter, eine lange Reihe von Tönen, die leise wie der erste, aber so klar und ruhig vorüberstrichen, so, als habe jeder nur den Sinn seiner eigenen Schönheit und Klarheit, nicht den Sinn einer Melodie. Und dennoch war es ein Lied, was sich so selber sang, aber ein unaussprechliches Lied, wie es etwa die Bewegung eines Vogelzuges im blauen Himmel hervorbringt, oder der Schilf am Teich, wenn seine Schwingel in der Sonne beben.

Der Lauschende wurde von den geheimnisvollen Tönen immer tiefer geführt, und mit jedem leisen Klange drang er einen schwindelnden Schritt weiter in eine abgründige Unbegreiflichkeit, von der er spürte, daß es nichts anderes als sein Dasein sei.

Und die Töne selbst, das war der Gesang der Seele des Heiligenhoflenleins. Und allmählich, wie, verstand Brindeisener nicht, stiegen Bilder aus seinem vergangenen Leben auf. Er fuhr in seiner Greifswalder Zeit frühmorgens mit lärmenden Kommilitonen von einem ländlichen Fest nach Hause. Einer wollte mit der Hartnäckigkeit des Betrunkenen durchaus den Strand entlang fahren, und auf einmal leuchtete ihnen das Meer entgegen, still, vom Scheine der letzten Sterne glänzend. Dann ging er als Junge durch ein Frühlingsgewitter. Die lauen Tropfen rieselten an ihm nieder. In einer Eiche des Grenzweges rief ein Kuckuck, und sein Vater schimpfte fluchend vom Hübel auf ihn herunter ... Es waren ganz andere Dinge, die er sah, als hätten sie nicht das geringste gemein mit dem tiefbeseelten Getön, das er indessen immerfort hörte. Und doch war da eine heimliche unbegreifliche Übereinstimmung, so, als nähme er durch die Klänge, die für ihn aus Lenleins Seele stammten, den Sinn seiner ganzen Vergangenheit wahr, der sein Leben tief und auch seinen Himmel weit machte.

Er fühlte sich dabei vom Rücken her von einem wundersamen Licht bestrahlt, nur wagte er es nicht, sich umzudrehen, um seinen Wachtraum nicht zu zerreißen.

Und während Peter Brindeisener so in verwunschener Verzücktheit in der stockschwarzen Stube saß, kam ein guter Freund von ihm die Treppe herauf, fragte bei der Zimmerwirtin nach, ob der Student zu Hause sei, klopfte leise an und trat lautlos ins Zimmer. Er sah die Silhouette des regungslos Dasitzenden gegen das Fenster abgezeichnet, knipste endlich das Licht auf und brach in ein wahres Indianergeheul aus. Brindeisener fuhr verdutzt herum, der Besuch aber, ein strunkiger, lustiger Kerl, schaute sich überall um, ob er nicht etwas Verstecktes bemerke, was ihm den Sinn dieses »blöden Daseins« klarmache, und entdeckte auf dem Tisch einen Brief, der in Brindeiseners Abwesenheit angekommen war. Es war das erste Schreiben Helenens. Ehe ihn Peter noch an sich nehmen konnte, hatte ihn der Student ergriffen, sah, daß es eine weibliche Hand sei, und tanzte, die ungelenke Schrift und die schauderhafte Orthographie mit Geschrei entziffernd, unter tollem Hohngelächter vor dem verfolgenden Brindeisener her um den Tisch und spürte nicht die zunehmende Reizbarkeit des Verliebten. Mit einem Augenblicke brach über Brindeisener eine unbeherrschbare Wildheit. Er packte ihn, als wolle er ihn erdrosseln, entriß ihm den Brief und warf den sprachlos Erschrockenen aus dem Zimmer, alles kochend, stumm, an allen Gliedern bebend, wie ein großes Raubtier in Wut. Nach diesem Vorfall wechselte Peter Brindeisener die Wohnung und zog sich, wie auf einen gewaltsamen Stoß hin, von dem Verkehr mit der Studentenschaft ganz zurück.

Er mietete im Gewirr der kleinen Gäßchen um den Romburger Hof in einem unscheinbaren Haus ein Zimmer, dessen Fenster auf einen verschollenen Hof hinausgingen. Dort, in der Nähe des kleinen Hotels, in dem Helene als Kind eine Nacht geschlafen hatte, führte er die letzten vier Wochen vor der großen Vakanz ein fast einsiedlerisches Leben, in einen Studienfleiß hineingekeilt, der fast erbitterte Formen annahm, so, als gelte es, durch diese stete,, mörderische Hochspannung etwas innerlich gewaltsam über der Erde zu halten.

Im Dämmern aber, zur Zeit des Abendgeläutes, sahen die erstaunten Wirtsleute den hünenhaften, verschlossenen Studenten aus dem Fenster lehnen und so tief ergriffen dem Ton der Glocken lauschen, als bete er.

In der letzten Woche vor Beginn der großen Ferien hatte Peter Brindeisener noch eine ziemlich umfangreiche Arbeit über das Anerbenrecht abzuliefern. Es juckte ihn manchmal schon so stark aus der Kandare seines Fleißes heraus, daß er fürchtete, jene wilde, jedem Zwang widerstrebende genialische Ungebärdigkeit seines Geistes beginne wieder von der Tiefe seines Wesens heraufzubrechen, die ihm schon so viele ehrlichste Versuche zu einem zweckhaft gebändigten Leben zerstört hatte. Und er schnürte die Bänder seines Willens noch fester und gönnte sich nicht die kleinste Bierpause. Er saß tapfer und unentwegt bis zum letzten Punkt, daß es nach seiner Meinung seine gelungenste Arbeit überhaupt geworden sein mußte.

Allein, als er, um einen Gesamtüberblick zu gewinnen, die ganze Arbeit noch einmal durchging, erhielt er geradezu einen Schlag. Schon gegen das Ende hin, am Schluß einer verwickelten, aber haarscharf geführten Konklusion hatte er, und zwar so geschrieben, als bilde es das notwendige Scheitelstück des logischen Bogens: »Überhaupt spürt kein Ertrinkender die Wasser, die ihn bedecken, und so fühlst du nicht mehr den Tod, den du stirbst. Nur durch Mitleid, Barmherzigkeit, Furcht, Angst und Schrecken beim Tod anderer bist du nutzlos und in Qual schon tausendmal während deines Lebens gestorben. Ihr Toren! Was fürchtet ihr euch vor dem Tode? Jedes Ausatmen ist ein Sterben.« Weiterhin stimmte alles wieder.

Entsetzt legte Brindeisener den Bogen weg. Wie, griff das Zerreißen seiner Geschlossenheit schon wieder herein? Umsonst unterzog er sich einer schärfsten Inquisition, um die Flugkombination zu entdecken, von der diese Worte sich eingeschmuggelt hatten, die, an sich nicht dumm, inmitten einer Rechtsarbeit aber heller Wahnsinn, eine Störung, nein, einen richtigen geistigen Klaps bedeuteten. Brindeisener steigerte sich, den beschämendsten, niederschmetterndsten Ausdruck dafür zu finden, sprang auf und lief wie besessen einige Stunden ziellos in der Stadt umher, bis er sich so weit beruhigt hatte, den Vorfall für ein »Intermittieren der logischen Funktion« infolge von Überarbeitung zu halten. Irgend etwas Geheimes gab sich zwar damit nicht zufrieden, aber Brindeisener beschloß den Fall so anzusehen, schrieb den Passus mit Auslassung der Entgleisung neu, und als alles beendet war, fiel ihm ein, daß er diese Frage wie ein förmliches Gerichtsverfahren gegen sich zum Austrag gebracht habe, und er geriet darüber in fast ausgelassene Fröhlichkeit.

In gehobener Stimmung ging ihm das Semester herum, und fröhlich fuhr er der Heimat zu, sich im stillen der Überraschung freuend, die Helenen sein unvermutetes Auftauchen bereiten mußte, denn er hatte den Tag seiner Ankunft im ungewissen gelassen. Er wollte im tiefen Abend vor das Hoftor treten und das »Ständchen« von Strachwitz in der Mendelssohnschen Komposition durch das Dunkel über den Grenzweg hinüber in die Lindenkronen an ihr Fenster singen, jenes romantisch leidenschaftliche Lied, das mit den Worten beginnt: »Wie gerne dir zu Füßen säng' ich mein tiefstes Lied.«

Er summte die Melodie auf der ganzen Fahrt und wurde dadurch nur um so hungriger auf lautes, berauschendes Singen, so daß er während des Umsteigens in Haltern beim Anblick eines hübschen jungen Mädchens sich nicht mehr beherrschen konnte, sondern laut losjubelte: »Im Ta–a–kte wo–o–gt dein schönes Ha–upt, dein Herz hört leise zu.« Den Leuten riß es die Köpfe nach dem mächtigen Menschen hin, der, über alle hinschmetternd, sang, daß die hölzerne Halle schwirrte, und dabei in tanzenden Schritten ausgriff. Einige hielten ihn für etwas »meschugge«, andere für schoppentoll, die meisten freuten sich des hünenhaften blonden Schwärmers. In Bocholt beim Aussteigen kam seine glückvolle Erhobenheit freilich in Gefahr, wie eine Schaumgeburt umgeworfen zu werden. Denn da traf er seinen Bruder Jakob mit dem Fuhrwerk, der gekommen war, ihn und seine Sachen abzuholen. Der Vierzigjährige hockte wie ein zermergelter alter Mann auf dem Bock des Halbgedeckten und kehrte ihm sein verdumpftes, rot überstoppeltes Gesicht zu, als er mit dem Koffer an den Wagen trat. Aus dem gebrummelten Willkommensgruß und dem verlegenen Lächeln erkannte Peter, daß er schon wieder etwas angetrunken war. Gott, und wie sahen Wagen, Pferd und Geschirr aus! Das Geviert verdreckt, aus dem zerrissenen Sitz quoll da und dort das Seegras der Polsterung, das Rößlein mager und ungestriegelt wie ein langhaariger Hofhund, statt der Zugblätter Stricke, das Geschirr da und dort zusammengeknüpft. Der Student dankte dem Himmel, daß es schon dunkelte, denn so, wie die Fahrt langsam ging, konnten sie bei Nacht unerkannt durch Hemsterhus kommen. Auf einen lauten Zuruf fuhr Jakob aus dem Dösen hervor, schrie das Pferd an, hieb ihm die Peitsche den Rücken entlang, und dann zuckelte und klirrte die Klunkerfuhre davon, dem Walde zu, der vermummt und schwarz hinter den ebenen Feldern stand.

Peter lehnte sich mit geschlossenen Augen auf den Sitz zurück, als könne er damit den düsteren Bildern von dem Niedergang seiner Familie entfliehen, und nahm alle Gewalt zusammen, diesen aussichtslosen, bitteren Gefühlen nicht zu erliegen. »Indes das goldene Abendrot durchs Bogenfenster sieht«, summte er aus dem Liede, das ihn eben so begeistert hatte, vor sich hin. Aber die berauschenden Worte hatten keine Kraft mehr, und wenn er die Augen öffnete, sah er die Kiefern des Waldes rechts und links wie ein endloses Trauergeleit im Nebel vorüberrucken.

So ging es drei Viertelstunden lang. Der Wald mußte bald zu Ende sein. Da hielt Jakob an, kletterte umständlich und unsicher vom Wagen, tappte umher und schlug nach zwecklosem Suchen am Vorderrade des Wagens das Wasser ab. Dann lachte er lustig auf, trat an seinen Bruder, rüttelte ihn am Arme und fing an, über sein Elend, das Leben auf dem Hofe, vor allem über den alten Brindeisener, den Vater, zu klagen. Er redete knurrend, verbissen und mit höhnischem Spott, brach ab, ging um das Pferd herum an seinen Platz, als wolle er aufsteigen und davonfahren, kehrte aber jedesmal zurück und fing von neuem an. Peter sah, er war in einer Verfassung, daß ihn jedes schroffe Wort wild machen mußte. Deshalb lachte er auch gezwungen zwischen die Brocken seiner endlosen Litanei, um ihn bei guter Stimmung zu erhalten, und erinnerte ihn daneben launig, doch schonend, hin und wieder, an die Weiterfahrt zu denken. Doch erreichte er dadurch nur das eine, daß Jakob erst recht aufgekratzt wurde und nun gar anfing, über den Sintlingerhof, den Heiligenbauer und das Lenlein kunterbunt und kraus durcheinanderzuschwatzen: daß Peter ein Glück gemacht habe, ihr die Augen zu öffnen, denn Geld habe es auf dem Sintlingerhofe wie Mist, und die Blinde, seit sie sehe, sei gar nicht mehr wiederzuerkennen, lustig, dick, gesund, lache zum Bekugeln, tanze zu jedem Leierkasten, kurz, ein Mädel, der es niemand mehr glaubt, daß sie einst eine Heilige gewesen sei und die Leute behext habe. Freilich, den Sintlinger reite der pure stille Wahnsinn. Aber sie, die Bäuerin, sei eine Prachtfrau, wie sie lm Buche stehe.

»Und jetzt, mein lieber Peter«, sagte er endlich, »denk' ich, machen wir Schluß. Nich? Jetzte, weißte was? Jetzte fahren wir geradezu in die Hemsterschenke. Da wirst du mir een ordentlichen schmeißen, zum Danke dafür, daß ich dir den Star so gestochen habe. Denn wir müssen doch Wiedersehen feiern. Ja. Pst! Und da sollst du sehen, wer noch da ist. Du, ich sage dir. Verflucht! Die Schenkin ist doch gestorben. Da ist das Meixner-Mathinklein da und führt die Wirtschaft ... führt die Wirtschaft ...« Er brach in ein solches Spottgelächter aus, daß er nicht mehr weitersprechen konnte.

»Gut«, sagte Peter trocken, »einverstanden. Also los! Aber das letzte Stück fahr' ich. Du setzt dich hinten hin und spielst den Herrn.«

Lachend und beglückt seinen Bruder auf die Achsel schlagend, willigte Jakob ein, und während der Platzwechsel vollzogen wurde, schwatzte er fortwährend weiter, was für einen Busen die Mathinka habe, wie sie auftrete, daß die Männer rein verrückt auf sie seien, die Schenke wegen ihrer nimmer leer werde, nicht etwa von Bauern, sondern von seinen Stadtleuten, sogar der Landrat ...

Da fuhr Peter mit einem leidenschaftlichen Ruck ab. Dem Jakob riß es das Wort aus dem Munde. Er lehnte sich zurück und war nach einigen Minuten eingeschlafen.

Als er aufwachte, kutschierte Peter gerade den Hügel zum Brindeisenerhofe hinauf.

Jakob brüllte: »Halt!«, und weil das nichts half, sprang er aus dem Wagen und lief nach Hemsterhus zurück. Peter aber wurde von seinem Vater bis tief in die Nacht festgehalten. Im Schein der schirmlosen Lampe mit dem funzenroten Licht saß er dem Uralten gegenüber, der sich in den Kopf gesetzt hatte, seinem Sohne alles zu eröffnen, was ihn seit langem drückte und was er vor Wochen gesonnen hatte. Und so redete er, ohne Peter einmal anzusehen, monoton, verdrossen, wie es eben seine Art war, das Haupt gegen die Tischplatte geneigt, als brummte er sich mutterseelenallein vor dem Einnicken allen Unmut seines freudlosen Daseins vor. Und als er so wie im Halbschlummer hoher Greisenhaftigkeit ein langes und breites geredet hatte, richtete er sich ächzend auf, strich die Lampe über den Tisch von sich weg und schnob unter Pein, daß Peter glaubte, sein Vater erliege einem Zufall. Aber da er aufblickte, sah er in ein von Verzweiflung entstelltes Gesicht, fahl, und die halberloschenen Augen glimmten vor Entsetzen. Darum packte er seinen Arm und rüttelte ihn angstvoll.

Der Alte schob ihn mit der Hand von sich und lächelte höhnisch. »Du mußt wissen, Peter«, sprach er dann leise und sah sich vorsichtig in der Stube um, »mußt wissen. Ja. Hm. Wie lange dauert denn noch dein Gestudiere, bis du fertig bist und kein Geld mehr brauchst?«

»Zwei Jahre, denk' ich, das heißt ...« antwortete Peter.

»Zwei Jahre? Hm. Ja. Haha! Es macht nämlich alle mit uns, verstehst du. Es frißt uns. Randikal. Es ist alle. Ich kann nich mehr.«

Das stieß er gequält heraus, polterte sich erschreckt auf und trat in die Stube, vom Tisch weg, ins Dunkel. Dort blies er noch einigemal den Atem geräuschvoll gegen die Dielen, wie von einer übergroßen Anstrengung sich ausschnaufend. Dann sagte er leise, ohne seinen Sohn anzusehen: »Da wär' halt das die einzige Rettung, daß du – e – e – die Bücher beiseitestellst, ein halbes Jahr auf Großbauer studierst, die Sintlingersche heiratst und beide Güter zusammenschmeißt. Da wär' uns allen geholfen.« Dann schielte er hinüber, was es auf Peter für einen Eindruck mache. Der hatte den Kopf in die Hand gestützt, stierte auf die Tischplatte und konnte sich nicht rühren.

Der alte Brindeisener wartete noch eine Weile. Als aber Peter noch immer nicht antwortete, deutete er das als stumme Widersetzlichkeit, schlug sich mit der Rechten auf den Oberschenkel und sagte dann, spöttisch lächelnd: »Haha! Das is so meine Meinung. Mach jetzt, was du willst.« Darauf verließ er das Zimmer und tappte sich in die Schlafstube.

Nach langem schrak Peter auf, als erwache er aus wüstem Schlaf, sah sich verstört um, ob noch jemand im Zimmer sei, löschte die Lampe aus und ging langsam und leise vor den Hof, auf die Stelle, von wo er hatte das Lied zu Helene hinübersingen wollen.

Der Sintlingerhof lag lautlos und friedlich im Dunkel der nahen Mitternacht. Der Himmel war dunstig. Nur ein einziger Stern schimmerte manchmal durch. Wie es Peter schien, gerade über den großen Linden vor Helenens Fenstern. Da übermannte ihn eine solch schmerzhafte Liebesgewalt, daß er glaubte, nun doch laut hinaussingen zu können. Aber es gelang ihm nur, zaghaft zu flüstern: »Wie gerne dir zu Füßen säng' ich mein tiefstes Lied.« Der Gesang selbst lag in seiner Brust wie ein toter Knäuel.

Er ging in sein Zimmer hinauf, legte sich zu Bett und sah starr über sich in die Nacht. Da fühlte er, daß ihm die Tränen lautlos die Wangen herabliefen. Er biß die Zähne aufeinander, um sich dagegen fest zu machen. In diesem Abwehren der Schwäche schob sich wider Willen der Gedanke in sein Bewußtsein, daß, wenn das Meixner-Kathinklein so wiedergekommen sei, wie sein Bruder gesagt hatte, das Mädchen in Breslau dazumal doch vielleicht keine andere als sie selbst gewesen sei. Er wehrte sich gegen diesen absurden Einfall. Allein, er kehrte noch einigemal in veränderten Bildern wieder. Während all dieses weinte es still und unaufhaltsam aus ihm weiter.


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