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Vierzehntes Kapitel

Der Buchteich, in dem das Heiligenhoflenlein den Tod gesucht und gefunden hatte, war ein großer, verdrossener Waldspiegel mit bräunlichem Wasser, nicht weit von der Grenze der beiden Fremdhofwälder nach dem Rheine zu, von der Waldmühle aus in kaum einer halben Stunde zu erreichen. Er war das Sammelbecken eines starken Baches, der, ohne einen sichtbaren Abfluß zu finden, sich in ihn ergoß. In der Mitte des Wassers schwankte seit ewig ein schwaches, trichterndes Kreisen hin und her, woraus zu erkennen war, daß der Bach dort ins Erdinnere abströmte, sich in unterirdischen Höhlen und Schluchten verliere oder, wie einige meinten, geheimnisvoll, tief in der Erde, auf rätselhaftem Wege dem großen Rheinstrome zuwanderte.

Unter dem Volke ging die Sage, daß der Buchteich nichts wieder hergebe, was von seinem stillen, unheimlichen Strudel einmal erfaßt worden sei. Und so geschah es in der Tat mit Helene Sintlinger, die sich aus den unentwirrbaren Rätseln dieser Erde in ihn geflüchtet hatte.

Die Querhovener eilten wohl noch am selben Tage, da das Unglück geschah, mit Stangen, Netzen und langen Haken herbei und begannen, von den Knechten des Sintlingerhofes unterstützt, jeden Winkel, jeden Spalt des finsteren Wassers zu durchsuchen, jeden Stein zu wenden und unter jeder Baumwurzel zu stöbern, um das Heiligenhoflenlein doch noch in ein trockenes Grab zu retten.

Allein es war vergeblich, und als sie am Abend des dritten Tages überwacht, bleichen Gesichtes am Ufer standen und beratschlagten, ob man das Letzte wage, und in die Mitte, in den tödlichen Wirbel des Strudels fahre, oder überhaupt davon ablasse, weil es doch so aussah, als sei es Gottes Wille, die Leiche des Mädchens allen Blicken zu entziehen, als die Querhovener Männer im Lichte der untergehenden Sonne so standen und in ratloser Wehmut in das Wasser sahen, hatte der Weber Staupitz, der sie anführte, ein Gesicht. Er schaute durch das klare Wasser hindurch bis auf den Grund des Teiches und dort sah er auf einmal leibhaftig das Lenlein liegen, nicht kalkig, zerdunsen, leichenhaft, sondern in einem lebendigen, seligen Ruhen, als sei sie gar nicht gestorben, sondern schlafe nur. Der Widerschein des leuchtenden Blaus am Himmel war wie ein schwellendes Bett unter sie gebreitet. So lag das Heiligenhoflenlein drunten und doch in der Höhe, vom Strudel fortgerissen und doch in eine Seligkeit geborgen, die herrlicher schien als die Schönheit des irdischen Himmels über ihnen. Die Männer staunten mit fast aussetzendem Atem das verklärte Lenlein an, bis das Wunderbild blasser und blasser wurde und endlich in der Tiefe des Teiches verschwand.

Die Querhovener gingen noch denselben Abend auf den Heiligenhof und erzählten, unter welchen Umständen sie das Lenlein wiedergesehen hätten. Dann kehrten sie nach Querhoven zurück, erklärten sich die rätselhafte Erscheinung ihres gläubigen Schauens für einen Fingerzeig Gottes und hörten auf, nach dem verschwundenen Mädchen zu suchen. Bald auch verbreitete sich aus dem Dorfe der armen Speilhobler und Spunddreher die Überzeugung, das Sintlingerlenlein sei durch das Wasser direkt in den Himmel entrückt worden, ohne den Tod gekostet zu haben, und wer reines Herzens sei, der sehe sie auf dem Grunde des Buchteiches in lauter himmlischem Gewölk liegen.

Trotzdem der Hemsterhuser Pfarrer Dr. Spiller mit allen Mitteln diese Verherrlichung des Freitodes als einen Teufelsspuk ketzerischen Aberglaubens bekämpfte, sahen immer mehr Menschen das Sintlingerlenlein verklärt im Wasser liegen, und in manchen Nächten erblickte man an der Stelle, wo das rote Seidentuch gefunden worden war, ein blasses Leuchten wie einen Schimmer jenseitiger Sterne über dem finsteren Teiche schweben, dergestalt, daß man anfing, Helene wirklich für eine Heilige zu halten.

So sehr wurde die ganze Gegend von dem Schicksal erfaßt, das über den Sintlingerhof gegangen war, und alle fühlten sich von der Seele her zugleich erschüttert und erhoben.

Auch der übersichtige Kräutersammler Georg Hunatay aus Schmalenbach erschien trotz seines hohen Alters, mühselig auf zwei Stöcken gehend, an dem Buchteich. Denn dieser Märtyrer der reinsten Liebe wollte vor dem Ende, das er nahe fühlte, wenigstens einmal die verklärte, unirdische Erscheinung eines Wesens sehen, das zwar in diesem Leben wie er an der Liebe gescheitert, aber doch nach dem Tode in eine Seligkeit gehoben worden war, nach der sein Pilgern auf Erden umsonst gesucht hatte. So saß er Stunde um Stunde an dem Ufer des dunklen, unheimlichen Wassers und beschwor das Bild des entrückten heiligen Mädchens mit leisem Singen und trauervollen Worten krausen Tiefsinns. Unausgesetzt rief er nach ihr und warf dabei Blumen ins Wasser, bis der Teichspiegel aussah wie eine einzige blühende Wiese. Es war alles umsonst. Das Sintlingerlenlein erschien ihm nicht, weder als schimmerndes Bild am Tage, noch als jenseitiges Leuchten im Dunkel der Nacht. Und so kehrte er, schmerzvoll in sich hineinschluchzend, nach Schmalenbach zurück, schloß sein Haus hinter sich ab und ließ sich seitdem von keinem Menschen mehr sehen.

Der Sintlingerhof aber war von dem Schicksal, das ihn getroffen hatte, in undurchdringliche Nacht gehüllt. Die Bäuerin glich einem Strauch, der fortwährend von einem Sturm zerrissen wurde, zerbrach und doch nicht vergehen konnte, alle Blätter verlor und doch nicht starb. Allein, als durch den frommen Glauben der Querhovener und die Ergriffenheit der ganzen Gegend der grause Tod ihres einzigen Kindes als ein seliges Wunder in den Himmel gehoben wurde, verwandelte sich auch in ihrer Seele der Schmerz. Eines Tages tauchte sie wie auf eine gnadenvolle Berührung Gottes aus der Leidverschollenheit, und es wurde ihr gegeben, daß sie das Dasein Helenens, wie zwischen die fernsten Sterne des Weltalls gestellt, wirklich als eine heilige Angelegenheit des Himmels zu sehen anfing. Denn immer klarer erkannte sie in dem Leben und Tode Helenens die Führung göttlicher Ratschlüsse, und daß das frühe, grause Ende ihres Kindes die einzige Rettung vor dem unglücksvollen Leben bedeutete, das ihr an der Seite Peter Brindeiseners beschieden gewesen wäre.

Allein das hätte vielleicht noch nicht genügt, sie der Zerstörung des Grauens zu entziehen. Aber als sie erst einmal das Auge aus der Nacht gerungen hatte, sah sie den Zustand ihres geliebten Andreas, den alle noch immer den Heiligenhofbauer nannten. Da duldete sie dann nie mehr, daß Schmerz und Klage sie übermannte. Von seinen Lippen kam kein Wort, aus seinen Augen kein Blick. Wenn er lag, schlief er nicht, und bewegte er sich, glich er doch einem Abgeschiedenen. Seine Wirtschaft, sein Leben, die Welt und alle Menschen, nichts war mehr für ihn da.

Bald nach dem Aufstehen begab er sich an den Rand des Sintlingerhügels. Dort stand, lag oder kauerte er bis in die Nacht und sah mit regungslosen Augen und zusammengepreßtem Munde über den Grenzweg auf den Brindeisenerhof, in dem der steinalte Bauer nur noch allein hauste.

Warum er tagaus, tagein auf den anderen Fremdhof starrte, war ihm mit nichts zu entringen. Aber es wird wohl ein Haß gewesen sein, der so grenzenlos war, daß er den Sintlinger in immerwährender Betäubung zum Anblick dieses Anwesens nötigte, von dem er in der damaligen Verfassung seines Wesens annahm, alles Unglück seiner Familie und die Zertrümmerung seines eigenen Lebens rühre nur von dem riesigen Schober Unrat her, zu dem der Brindeisenerhof geworden war.

Denn eines Abends stand der Sintlinger wieder vor seinem Tore und wartete, daß sich ereigne, was er schon unzähligemal erlebt und erlitten hatte. Da sah er den alten Brindeisener aus dem Hofe schleichen, der in der Dämmerung nicht anders aussah wie ein ungeheurer, zusammengefaulter Reisighaufen. Der greisenhafte Fremdbauer, nun schon weit über neunzig Jahre alt, ging gebückt, so daß seine langen, herunterhängenden Arme mit den Fingerspitzen fast den Boden berührten und er mehr einem uralten Großtier ähnlich sah als einem Menschen. Manchmal blieb er stehen, roch mißtrauisch in die Luft, wie ein aufgescheuchtes Stück Wild, und versank dann in das Trödeln, das ihn bei einbrechender Nacht immer um den Hof führte, seitdem er mutterseelenallein hauste, weil sein ältester Sohn Jakob im Gefängnis saß, Peter mit Mathinka Meixner irgendwohin davongegangen war und sein Weib vor vielen, vielen Jahren, er wußte nicht wann, sich von ihm wie eine vergessene Hündin im Tode verloren hatte.

Da griff er an einer halb zerfallenen Radwer umher, dort versuchte er, ein zerdorrtes Rad an einen umgesunkenen Wagen zu stecken. Baumelnde Zaunlatten drückte er in Nagelstümpfe, daß sie bis zum nächsten Windstoß für befestigt gelten konnten. Mit einer halbgestielten Düngergabel fing er an, einen Unrathaufen umzustechen, rüttelte an Gerümpelstößen, lachte höhnisch, geriet in Wut, begann mit fistelnd weinerlicher Stimme zu fluchen und mäßigte sich dann wieder in ein eintöniges, tiefes Gebrummel, als sei er nur ein endloser Gang, in dem sich verfangener Wind mißmutig einen Ausgang sucht. Und wie jeden Abend fuhr er zuletzt auf, sah den Sintlinger drüben im Dunkel auf dem Hügel stehen und Herüberstarren, ging an einen geneigten Apfelbaum, zog seinen zusammengesunkenen Leib mühsam auseinander, lachte gell auf und schrie dann:

»Gu'n Abend, Andreas! Andreas, wo bist du? Hahaha!«

Und da der Sintlinger wie immer schwieg, fuhr er in seinem Spott fort:

»Aha, dir hat der Heilige Geist wieder in den Kopf gesch ...! He, du Nasensäufer! Verfluchter Hurenbrüter! Leichenvater!«

So ging das Schimpfen fort und wurde immer grausiger, bis es der Sintlinger nicht mehr vertrug, sich gewaltsam losriß und in den Hof eilte.

Der alte Fremdbauer tobte noch eine Weile und kroch endlich irgendwo durch eine Luke ins Haus. Aber damit hatte sich seine Wut noch nicht ausgespielt. In die Stube zurückgekehrt, lehnte er sich aus dem Fenster und sang nach einer wilden, improvisierten Melodie sein Hohnlied zum Heiligenhof hinüber.

Der Haß des alten Brindeisener war infernalischer wie sonst, und der Sintlinger, der von seinem Zimmer aus alles mit angehört hatte, rang mit aller Gewalt gegen seinen Zorn, warf sich ins Bett und wickelte sich die Decke um den Kopf. Aber die Worte des Alten gellten ihm fortwährend in die Ohren, daß ihn endlich die Wut wie ein Taumel übermannte. »Gut«, sagte er zu sich, »ist der Tolle über mir, so hat er mich eben. Und wenn ich das alte, grölende Tier im Feuer umkommen lasse, so bedeutet das nicht mehr, als brenne ich Schwaben mit dem Kienspan aus.«

Er sprang aus dem Bett, zog sich notdürftig an, suchte im Finstern nach Streichhölzern und trat, zu allem entschlossen, leise auf den dunkeln Flur. Aber er war so erregt, daß ihm die Zähne aufeinanderschlugen und sein ganzer Leib wie von großem Frost geschüttelt wurde. Kaum wußte er, wo er war. Überall, wo er hingriff, stieß er gegen eine Wand und, nachdem er lange so wie trunken umhergetappt war, gab er es auf, die Stiegenmündung zu finden, blieb stehen und horchte in das nachtstille große Haus, ob noch irgend jemand wach sei und ihn gehört habe. Da vernahm er Schritte über den Hof gehen, und dann klang leise die Haspe des Beipförtchens.

Der Krampf in ihm verlor sich, und er trat in sein Zimmer zurück.

Am anderen Morgen fand man die Leiche des alten Zenker neben der Scheuer auf dem Brindeisenerbhofe. Ein aufgerissenes Kästchen Streichhölzer lag zerstreut neben ihm; die Hände noch verkrampft nach dem Stroh ausgestreckt, das aus einem Loch der Mauer quoll, das tote Auge weit aufgerissen und stier, der zahnlose Mund fest zusammengebissen, so lag er da, ein Häufchen erstarrter, wilder Rachsucht.

Nach diesem Vorkommnis hielt sich der Heiligenbauer tagelang vor allen verborgen, und als er endlich sein Weib in sein Zimmer vor sich ließ, war er ganz verwandelt und eröffnete ihr den Entschluß, daß er nicht mehr länger auf dem Hofe seiner Väter bleiben könne, wolle er sich nicht der Gefahr aussetzen, nach allem Unglück noch Schimpf und Schande über sich und jene zu bringen, die mit ihm verbunden seien. Überdies, sein Leben sei abgeschlossen, und ihm bleibe weiter nichts mehr zu tun übrig, als seiner Seele zu dienen oder vielmehr, was etwa noch davon vorhanden sei.

Dies alles sagte er mit ruhiger Stimme, entspanntem Gesicht und bewegungslosen Augen. Die Bäuerin versuchte umsonst, tiefer in ihn einzudringen. Zu allem, was sie sprach, schüttelte er den Kopf, und endlich, als sie ratlos schwieg, lächelte er in ergreifender Güte, strich mit linder Hand über ihre Stirn und bat sie, ihn in dem neuen Leben, das jetzt beginne, nicht zu verlassen.

Wegen der Dienste, die der Meixner-Gottlieb ihm und seinem Lenlein erwiesen hatte und auch als Dank an den alten Zenker übergab ihm der Sintlinger den Heiligenhof zunächst pachtweise. Nur die Wiese an dem neuen Grenzwege, einige anstoßende Ackerbreiten und den Wald dahinter behielt er für sich. Dort erbaute er sich ein einfaches, bequemes Wohnhaus, das dem Gutswohnhaus auf dem Heiligenhofhübel ähnlich sah. Nur lief hier der Frontspieß in ein kleines Kuppeltürmlein aus, während auf dem Heiligenhofe der Turm mitten aus dem hohen First herausschoß.

Der Sintlinger nahm außer dem nötigen Hausrat nichts als die Glocke mit von dem Hofe. Als nämlich der Gedanke an den Hausbau in ihm zwingend geworden war, nach jenem Abend, an dem ihn die Rachgier so überfallen hatte, nach den Tagen vollkommener Einsamkeit, war er erschöpft in einen Traum verfallen, so scharf und deutlich wie ein Begegnis des Lebens. Er sah das Lenlein in einem hellblauen, lang nachwallenden Kleide mit ihren hohen, schwebenden Blindenschritten über eine Wiese gehen, auf der, spärlich verstreut, da und dort große blaue Glockenblumen wuchsen. Das Mädchen ging zu jeder Blüte hin, sprach mit ihr und läutete sie, und als der Sintlinger erwachte, hörte er den Klang der Blumen noch deutlich in seinem Ohr.

Deswegen bestand er darauf, die Glocke mitzunehmen, obwohl die Bäuerin meinte, auf diese Weise werde sie das Unglück nie verlassen. Der Sintlinger überwand ihren Widerstand und läutete die Glocke dann auch zu allen drei Tagzeiten wie sein Ahn, der tolle Jakob Sintlinger, mit dessen Leben seine Art und sein Schicksal eine solche Ähnlichkeit hatte.

Wohl lag es an der anderen Umgebung: dem nahen Walde, den langen, von drei Seiten gegen das Haus geneigten Abhängen, daß der Klang der Glocke nun anders, weicher, verhaltener, fast wie ein gesungener Frauenton anzuhören war. Und die Leute von Hemsterhus, Brederode und Querhoven, nachdem sie dem Geläut einige Tage gelauscht hatten, sagten, die Glocke habe seit dem Umzuge eine Menschenstimme bekommen, und nicht lange danach entstand die Sage, so oft der Heiligenbauer läute, singe sein totes, verklärtes Lenlein im Himmel mit, und endlich geschah es, daß der Sintlinger selber daran glaubte, weil er sich an seinen Traum erinnerte.

Seitdem schloß er jedesmal beim Läuten die Augen, und der Klang des Glöckleins führte ihn hinauf und hinaus in alle Welt. Alles rundumher, Himmel und Erde, war ein geheimnisvoller Wohllaut, alles in Klang getaucht, in den Klang der Stimme seines Kindes, das ihn bei Lebzeiten so tief in alles Jenseitige, in das Himmlische der Erde und der Menschen geführt hatte, daß er heute nicht mehr verstand, was er damals gesonnen hatte. Aber solange sein Lenlein durch die Stimme der Glocke in ihm sang, war alles wie damals, und er hatte die alte Seligkeitsempfindung des gesamten Weltallbesitzes durch seine Seele.

Doch kamen auch oft genug schwere Tage, ja ganze Wochen, in denen es ihm war, als sei er von sich ausgesperrt. Dann war sein Ohr hörnen, sein Auge stumpf, sein Kopf wie eine beinerne Nuß, und sein Herz ging leer wie eine leere Pleuder.

Meistens fiel den Heiligenbauer dieses Gefühl der Ausgeschlossenheit von sich und der ganzen Welt, diese riesige Todeseinsamkeit in den hohen Mittagsstunden an. Dann zog er wohl wie sonst sanft und zärtlich an dem Glockenstrick, griff mit verschmachtetem Ohr nach dem Klang in den Lüften und ließ den Widerstoß des Glockenschwunges durch die Arme bis in seine Brust zittern. Aber das sonnenhafte Stäuben wachte nicht auf in seiner Seele. Alles in ihm blieb erstorben wie in einem verfallenen Haus.

Wenn er dies Erstarren in sich spürte, packte ihn jedesmal der Schmerz so tief, daß er an dem Strick riß wie einer, her die ganze Welt um Hilfe anruft, und die Glocke gellte aus dem Heiligenwinkel wie ein verzweifelter Schrei, der zuletzt jäh abriß.

In Hemsterhus, Brederode und Querhoven, wenn die Leute die Glocke also toben hörten, erbleichten die Mütter, rissen ihre Kinder vom Spiele weg in die Stube, schlossen vor dem qualvollen Laut in den Lüften Fenster und Tür und sagten erschrocken: »Kommt, seid still! Der Heiligenbauer schreit.«

Dem Sintlinger geschah es in solchen Zeiten, daß er die Welt nicht mehr begriff, die er doch selber, tätig und schaffend, aus eigener Tiefe geboren hatte. Und doch saß er noch mitten darin, aber verwirrt wie in der Unwirklichkeit eines unabsehbaren Waldes, aus dem er keinen Ausweg sah. Nicht ein lebendiger Ton kam zu ihm, weder aus seiner Vergangenheit, noch rührte ihn etwas aus seiner Gegenwart. Johanna sah ihn oft stundenlang auf der Altane des Hauses mit zugefallenen Augen sitzen und sprechend, aber ohne Laut, die Lippen rühren in der Art, wie leidenschaftliche Menschen erregt denken, und wenn sie ihn fragte, womit er sich denn wieder herumschlagen müsse, achtete er entweder gar nicht auf sie oder krümmte nur bitter die Lippen oder sagte Unbegreifliches, wie: »Wenn Schatten Schatten waren, dann wüßte man auch, daß Dinge wirklich sind. So aber, wenn der Wald rauscht, weiß ich nicht, bin ich es oder der Wald. Ach, mein liebes Weib, ein Hahn, ein Haus, ein Mensch, ein Gott, ich und du! Was ist das alles?« – Mit entgleisten Blicken sah er ratlos um sich, ließ die Augen wieder zufallen und versank in seine Verschollenheit.

Gegen das Ende einer solchen Dunkelzeit hin, als es ihn wieder einmal durch tausend unsichtbare Schluchten und Höhlen geschleift hatte, daß sein Körper welk und sein Gesicht ganz verfallen war, packte er im Vorbeigehen unvermutet Johannas Hand mit schmerzhaftem Griff und sagte mühsam, verzweifelt, wie einer, der am Ende seines Widerstandes angekommen ist:

»Weißt du, Johanna, es geht zu Ende mit mir, vollkommen zu Ende. Und nun habe ich nur noch einen Wunsch. Der Faber möchte kommen und noch einmal mit mir reden. Das ist das einzige, was mir noch helfen kann.«

Die Bäuerin aber wußte von dem jahrzehntelangen Ringen ihres Mannes mit diesem großen Menschen nichts. Sie kannte ihn nur, wie alle Menschen der Gegend, von der fast vergessenen Herner Rebellion her als einen wilden, mörderlichen Landfahrer und Leuteschrecken. Deshalb verfärbte sich die gute Frau und fragte, mit Tränen der Angst in den Augen, wieso er auf diesen furchtbaren Gedanken verfallen könne, denn dieses Scheusal sitze ja schon seit Jahren im Zuchthause oder sei vielleicht schon gar in irgendeiner Henkergrube verscharrt.

Da brach dann der Sintlinger das erstemal das sorgsam behütete Schweigen über den verborgenen, geheimnisvollen Kampf, in dem sein Geist mit dem Geiste dieses Rebellen begriffen war, von dem ersten und einzigen Gespräch an in der Nacht nach der Einweihung des Sintlingersteines auf der Wiese, wo jetzt ihr Haus stand, ging alle geheimen Nöte und Berückungen durch, die er von ihm erfahren, erwähnte auch dessen Brief, den er am Tage der Beerdigung des Vanlyßender empfangen hatte, und versicherte, daß eigentlich nur dieser Mann am Scheitern seiner Weisheit und an dem vollkommenen Zerbrechen seiner Welt schuld sei. Der Bäuerin kamen die Aufschlüsse über solch rätselhafte Beziehungen zwischen Menschen nur wie ein auf allen Wolken segelnder Wahn eines kranken Gemütes vor, und sie wußte sich keinen anderen Rat, als ihren lieben Andreas erschütterten Herzens zu umarmen und ihm zu sagen, wenn es so sei, wie er glaube, was sie aber nicht verstehe und auch nicht verstehen wolle, dann werde sich sicher alles zum Guten wenden, denn ein Mann wie er könne in einem solchen Kummerloche nicht enden, in dem er jetzt stecke. Das glaube sie ganz fest.

Darauf ging sie davon und behielt die Sorge für sich, die ihr trotzdem im Herzen saß.

In jenem Jahre nun hatte sich wieder einmal das Verhältnis zwischen der Arbeiterschaft und den Unternehmern in dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet zu einer unerträglichen Spannung erhitzt. Alle Betriebe waren davon ergriffen, und man befürchtete den Ausbruch eines Streiks größten Stiles. Unter denen, die am tätigsten an der Vermeidung dieses Kampfes arbeiteten, wurde der Name Franz Fabers auch in den Syndikatszeitungen mit Achtung genannt als eines Mannes von großer Einsicht, weiser Mäßigung und reinster, höchster Menschenliebe. Und als endlich die Ruhe wiederhergestellt war, erschien es dem Sintlinger unausweichlich sicher, daß Faber seinem verjährten Versprechen nachkommen und ihn aufsuchen mußte, obwohl der Heiligenbauer keine anderen Anstalten traf, als nur seine schmerzhafte Sehnsucht nach ihm von Tag zu Tag zu steigern.

Und sein Herz, das nach ihm verlangte, betrog ihn nicht.

Johanna sah eines Nachmittags ihrem Mann von der Stube durchs Fenster verstohlen zu, wie er wieder unbeweglich und eingesunken auf der Altane saß, und wenn er auch nicht in ewiger Gcdankenunstetheit lautlos die Lippen gehen ließ wie sonst, so merkte sie doch, daß das dunkle Arbeiten eines friedlosen Geistes noch immer in ihm war. Denn von Zeit zu Zeit hob er den Kopf, strich in einer Art begütigenden Beschwörens mit der Hand über die Stirn und sah dann eigen und genau in die Weite, dorthin, wo hinter dem sänftlich niederen Taleinschnitt zwischen den beiden Fremdhöfen, schon etwas fern überblaut, die leicht bewegte Hügelwand den Horizont abschloß, die das Gebiet der Fremdhöfe von Querhoven trennt. Doch konnte sie nicht herauskriegen, wodurch die Aufmerksamkeit ihres Andreas, wie sie meinte, gerade immer dorthin gezogen wurde. Denn es war da nichts Merkwürdiges. Das Fichtenbärtlein, das von dem Walde des Dürrenberges herablief, stand als ein durchbrochener dunkler Schleier, und das Licht der schon geneigten Sonne blitzte in goldfunkigen Streifen und Punkten durch das Geäst. Jedoch gegen den Abend hin, als dies Spiel des Sonnenschimmers schon rot zu glühen anfing, sah sie einen ungewöhnlich großen Mann über den Querhovener Hügel den Fußweg gegen die neue Chaussee, den früheren Grenzweg, herabsteigen und langsam und würdig wie ein König herankommen. Zwischen den Fremdhöfen, mitten im Taleinschnitt, blieb er stehen und schaute bald den Sintlinger-, bald den Brindeisenerhübel mit aufmerksamem Betrachten an, so, als sei er mit sich nicht einig, gegen welches Gehöft er hinansteigen solle. Er trug den Hut in der Hand, und sein leichter grauer Mantel wehte in dem schwachen Winde, der ihm auch manchmal einen riesigen Vollbart, gleich einem dichten weißlichen Gewölk, über die Achsel trieb. Nach einigem Bedenken setzte er, aber nun mit geneigtem Kopfe, den Weg fort, hob an der Stelle, wo der Weg nach dem Fremdhofwalde zu eine Biegung machte, das Gesicht, musterte das Sintlingersche Fluchthaus einen Augenblick und schritt dann entschieden über das kleine Grabenbrücklein auf den Eingang des Gartens zu, der sich bis nahe an die Straße hin ausdehnte.

Sowie er, energisch auf ihr Haus zusteuernd, den ersten Fuß auf das Grabenbrücklein setzte, sah die Heiligenhofbäuerin ihren Mann jäh aufspringen, hoch aufatmend mit beiden Händen das Geländer der Altane packen und dann überstürzt die Stufen hinab durch den Garten auf den Fremden zueilen. Am Gartenpförtchen trafen die beiden Männer zusammen. Johanna sah ihren Andreas das kleine Türchen öffnen und dem großen Ankömmling die Hand entgegenstrecken. Aber noch ehe der andere sie ergreifen konnte, fing der Heiligenbauer an zu taumeln, und der Fremde mußte ihn in den Armen auffangen, um ihn vor dem Umsinken zu bewahren.

Johanna stieß einen Schrei aus und sprang die Stufen der Altane hinab, durch den Garten, den beiden entgegen, denn die Gute glaubte, ihrem Manne sei infolge der langen Gramzeit ein Unglück zugestoßen. Und wirklich, als sie sich den beiden fliegend näherte, sah sie den Sintlinger blaß, von halber Ohnmacht betäubt, mit geschlossenen Augen, aber doch beglückt lächelnd, am Arm des Fremden hängend, herankommen.

Franz Faber, denn das war der Fremde in der Tat, winkte ihr, sich nicht zu beunruhigen, grüßte in gewinnender Güte und gab ihr durch Zeichen zu verstehen, sich aller lauten Worte zu enthalten.

Auf der Altane angekommen, bat er sie ebenso stumm, ihn mit dem Sintlinger allein zu lassen. Dann saß er lange schweigend bei dem Erschütterten und hielt seine Hand in der seinen. Aber der Heiligenbauer sah fortwährend vor sich nieder und vermochte nicht, den, nach dem er doch so gerungen hatte, anzusehen. Nur dann und wann ging ein Zucken über das Gesicht ihres Andreas, ein Zug, der aus Bitterkeit und Seligkeit gemischt war, und auch aussah wie das glückvolle Lächeln des Unterliegens.

Und jedesmal, wenn ein solcher Anfall zerbrochenen Stolzes über den Sintlinger kam, bemerkte die Bäuerin, die hinterm Fenster die beiden betrachtete, daß Faber seine Hand beruhigend auf ihres Mannes Achsel legte, und am Rucken des großen Bartes erkannte sie, daß er ihm gut zusprach.

Nein, das war kein Narr, wie ihn der Sintlinger so oft gescholten, noch weniger ein böser Verführer und Allesfeind, wie sie lange mit der Menge gemeint hatte; er saß, im Gegenteil, da wie ein großer gütiger Menschenvater, und die furchtbare Säbelnarbe, die schräg über seine Stirn gehauen war, vermehrte seine Ehrwürdigkeit noch ins geradezu Erschütternde hinein. Und die einfache, reine Frau empfand, daß ihr rastlos umgetriebener Mann nun geborgen sei. Sie begab sich vom Fenster weg und ging in die Küche, das Abendbrot zu richten.

Nicht lange danach hörte sie die beiden erst leise, dann immer lebhafter miteinander sprechen.

Noch diesen selben Abend breitete der Sintlinger sein ganzes Leben vor Faber aus: Wie er mitten in der ererbten Wildheit seines Blutes durch die Geburt des engelhaften Lenleins zu neuem Dasein erweckt und von ihr in unsagbar lichte Höhen geführt worden sei; wie dann Dunkelheiten und Schatten nach dem Sehendwerden über ihn gekommen seien, vor allem nach dem Tode Helenens ihn eine solch tiefe Nacht des Geistes umfangen habe, daß er nun verwirrt und zerstört dastehe und wirklich nicht mehr wisse, wohin zu wandern sei. Der Heiligenbauer verlor die letzte Scheu und sprach von seinem Geheimsten. Als er geendet hatte und voll gespanntester Erwartung Faber ansah, merkte er wohl dessen tiefe Erschütterung. Der mächtige Mann lehnte mit zurückgesunkenem Haupt und geschlossenen Auges da. Dann nickte er schwer, schaute den Sintlinger tief an, ergriff seine Hand und drückte sie mit herzlicher Kraft.

Aber er ging doch an der Lebensbeichte des Sintlingers vorüber und erzählte, daß er schon einen Tag seinetwegen bei den Querhovenern drüben gewesen sei, die sich ja als seine Jünger betrachteten. Dort habe er schon vielerlei von ihm und seinem Schicksal erfahren. Die Abrundung und richtige Einsicht sei ihm indes erst jetzt durch ihn selbst gekommen. Er danke ihm herzlich für sein Vertrauen, bitte jedoch, ihm diese Nacht Zeit zu lassen, damit er sich noch einmal alles bei sich überlege. Auch sei er heut übermüdet.

Der Sintlinger saß nach dieser Antwort enttäuscht da, senkte das Gesicht und nagte an der Lippe, überwand sich aber, stand auf und übergab Faber seine Tagebuchblätter mit dem Bemerken, daß darin noch mehr enthalten sei, als er habe erzählen können, das meiste, oder vielmehr viel von dem, was er innerlich erlebt habe. Wolle er sie lesen, so würde es ihm noch leichter werden, das zu finden, woran er habe zerbrechen müssen.

Franz Faber nahm die Blätter mit bedeutsamem Dank entgegen. Darauf trennten sich die Männer, und Faber stieg in das Stüblein hinauf, wo ihm sein Nachtlager bereitet worden war.

Des anderen Tages blieb Faber fast ganz auf seinem Zimmer. Während der Mahlzeiten saß er, in sich wie in große Ferne verloren, am Tisch, und den Heiligenbauer und sein Weib ergriff oft ein rätselhafter Schauer, wenn er seine Augen mit dem über die Erde langenden Blick lange und ergründend auf ihnen ruhen ließ.

Am Abend dieses zweiten Tages gingen der Heiligenbauer und Faber auf dessen Vorschlag an allen Plätzen umher, die ihnen bei ihrer ersten Zusammenkunft vor zwanzig Jahren merkwürdig geworden waren, vom Strauchhaufen zum stillen Tümpel, wo Faber auf der Flucht ohnmächtig zusammengebrochen durch den Sintlinger gefunden worden war; überschritten den Graben, wandelten im Mondschein das kleine Tälchen entlang, stiegen zum Heiligenhofe hinauf, saßen unter den Linden am Sintlingerstein, schauten auf den verfallenen Brindeisenerhof hinüber, blickten zu den Fenstern empor, hinter denen Helene die letzten Jahre ihres Lebens gewohnt hatte, und verloren sich über die Hohe Kippe ein Stück in den Wald.

Der Sintlinger redete noch mehr von den Kämpfen und Verwickelungen seines Daseins, und wie er eigentlich fortwährend, gleichsam unterirdisch, habe mit Faber ringen müssen, bis heute, bis alles wie Staub in ihm zerfallen sei.

Faber war bisher fast schweigend neben ihm gegangen, und sein Anteil an dem Gespräch hatte eigentlich nur in den Anregungen bestanden, den Fluß der Sintlingerschen Erzählung weiterzuführen und unmerklich zu steuern.

Als der Sintlinger die letzten Worte über seine Auflösung gesprochen hatte, blieb Faber stehen und fragte:

»Und weißt du, Sintlinger, warum es nicht ausbleiben konnte, daß du vor dir verschwandest? Weißt du das?«

Der Sintlinger schüttelte das Haupt.

Deswegen fuhr Faber fort:

»Du bist mein Bruder, Sintlinger. Das habe ich an den Querhovenern erfahren, die behaupten, den neuen Weg zu Gott und ihr ganzes verändertes Leben von dir empfangen zu haben. Am meisten, tiefer noch, ist es mir durch deine Aufzeichnungen gewiß geworden, daß du mein Bruder bist in dem heiligen Geist, der beginnt, nun in den Menschen zur Herrschaft zu gelangen, ohne Verhüllung von Dogmen, ohne Gleichnis, nachdem er vermummt all die Jahrtausende leitend in ihnen umgegangen ist. Noch einmal sei es gesagt: Du bist tiefer mein Bruder wie je ein anderer Mensch auf Erden.

Und darum mußten wir miteinander ringen, noch ehe wir uns recht kannten. Denn die Menschen der gleichgerichteten Art sind sich nahe, auch wenn sie sich nicht sehen, und wären Meere oder Jahrhunderte zwischen ihnen: Die Ermannung des einen wird des andern Sieg, und durch den Fall des einen straucheln und stürzen viele andere, die in Unsicherheit leben. Deswegen weiß ich auch um dein Inneres.

Soll ich weiterleben, oder weißt du es nun auch schon selber, warum du dich verwirrt hast?«

»Ich bitte dich, rede, Faber«, antwortete der Heiligenbauer leise.

»Na, da du es willst, so höre. Die Glocke, die du alle Tage läutest, tönt dir nicht ihren Klang, nicht deine eigene Stimme und nicht deinen Geist, sondern die Stimme und den Geist deiner gestorbenen Tochter Helene. Aber so, wie es jetzt ist, war es, als sie noch lebte, wie ich gelesen habe, vom ersten Tage ihres Daseins an. Auch damals lebtest du eigentlich nur ihr Leben, sannst mit ihrem Geiste und fühltest mit ihrem Herzen.

Dein Leben aber, dein Geist und dein Herz blieben an dem Orte, wo sie gewesen waren, noch ehe dein Kind geboren wurde. Du fandest Weisheit und wurdest nicht weise, lebtest die Tugend eines anderen Herzens, wähntest dich frei und warst gefangen.

Darum, als ein Wandel über dein Kind kam, als sie durch die Erschütterungen der Liebe das äußere Gesicht erlangte und dann gar im Tode von dir verschwand, mußte sich alles vor dir verwandeln und verschwinden, weil du nur durch ihr Dasein wußtest, was du erkannt hattest. Denn man kann auch auf einem Irrweg auf einen Gipfel gelangen, wohl sehen, daß es ein Gipfel ist, aber dann, ohne zu wissen, wie es zugeht, sich wieder davon verlieren. Selbst die reinste Liebe ist ein Irrweg, wenn sie dich nicht ganz auf den Pfaden deines Geistes führt, und zu allerletzt im tiefsten darf kein Mensch jemand anders angehören als nur Gott.

Also, wenn du nicht weiter, wie du sagst, Staub in dir sein willst, so mußt du nun ein zweites Mal und jetzt mit eigenen Kräften erwerben, was du durch dein heiliges Kind besessen hast. Denn ich glaube selbst, dein Lenlein war ein heiliger Mensch. Deswegen sei nicht mehr traurig und mutlos. Alles Leben in und außer uns muß immerfort verschwinden, da es die Art der Welle ist, zu kommen und zu gehen. Doch das Meer bleibt, wie du selbst in deinen Aufzeichnungen geschrieben hast. Wir Menschen aber, solange wir auf den Strömen dieser tanzenden Erde fahren, müssen mit immer reinerem Geist und Willen uns immer höher bauen, wir, die Lichtschatten Gottes, von unserer Seele her.«

Über diesen Worten waren sie aus dem Walde gekommen und wieder am Hause angelangt. Der Sintlinger stand gesenkten Hauptes da, während Faber sich schon anschickte, die Stufen zur Altane emporzusteigen.

Es sah aus, als wolle der Heiligenbauer, von neuem Gram übermannt, nicht schlafen gehen, sondern wieder in den Wald entweichen.

Deswegen nahm Faber seine Hand und sagte liebreich: »Nein, Sintlinger, nun gleich ins Bett! Glaube mir, du schläfst mit deinem größten Glück Wand an Wand. Morgen will ich weiter mit dir sprechen und dann davongehen.«

Allein der Heiligenhofbauer wurde doch von der alten Friedlosigkeit und Zerstörung überfallen, und als Faber die Tür hinter sich geschlossen hatte, verließ er den Garten und lief in den Wald, wo er mit seinem bösen Geiste rang bis an den Morgen.

Es schien ihm, als habe Faber nun erst recht sein ganzes Leben durch die Forderung zertreten, daß er sich sogar von dem Geiste des verstorbenen Lenleins wie von einer Torheit fernhalten solle.

Doch als nach langen Stunden der Nacht endlich über den Baumwipfeln das erste Silbergrau der Frühe aufwachte, begann ihn das Wühlen der Widersetzlichkeit gegen Faber zu verlassen, und es ging ihm auf, daß er all die Stunden wie in den langen vorher sich eigentlich gegen den Sinn gebäumt hatte, den er in verletztem Stolze den Worten Fabers eigenmächtig untergelegt hatte. Wie hätte der große Mann sonst von Helene als von einem heiligen Menschen reden können! Er faßte sich mit festem Griffe, daß es ihm nicht wieder geschehe, durch die Irre auf einen Gipfel zu kommen.

Er machte sich frei von der Eitelkeit seines Geistes und der Selbstverliebtheit des Herzens und sah ein, daß die Wahrheit nicht wahr sei, weil sie jemand spricht, sondern weil es die Wahrheit ist, und daß sie von Anbeginn in jedem Menschen sein muß, da sie sonst nie von jemand hätte erkannt werden können.

Als der Heiligenbauer aus dem Walde trat, sah er sein Haus verklärt in dem ersten Glanze des Morgens liegen.

Er faßte das als eine trostreiche Verheißung auf, und die Handvoll Schlaf, die ihm noch blieb, erquickte ihn so tief wie der Friede von ruhigen Jahren, und aus dem Zusammensein der beiden Männer an diesem letzten Tage wurde dann ein hohes, denkwürdiges Fest der Seele.

Faber merkte glückvoll die reine Aufgeschlossenheit und Freiheit, die ihm Sintlinger entgegenbrachte, und redete mit ihm über alle Geheimnisse seines und des Lebens aller Menschen.

Am Nachmittage drängte Faber zum Aufbruche, denn er wollte vor seiner Abreise aus der Gegend noch einen Abend in Querhoven bei dem Weber Staupitz im Kreise der armen Walddörfler zubringen, die er wunderbare Menschen nannte.

Alle Bitten des Sintlingers, noch länger zu bleiben, wies er mit herzlichem Dank zurück. Denn er dürfe sich keine Ruhe gönnen. Lächelnd stand er auf und ging, beglückt über die Liebe des Heiligenbauers und seiner Johanna, ein paarmal in der Stube hin und her. Zuletzt trat er an das Fenster und schaute lange über den Garten in die Landschaft, durch die er einst als, Verfemter bei Nacht in der Not geflüchtet war, und jetzt, nach zwanzig Jahren, weilte er hier als Friedensbringer.

Indessen er so stand und versunken hinaussann, trat auch die Bäuerin leise herein und setzte sich geräuschlos zu ihrem Manne an den Tisch. Die beiden hingen mit Blicken der Verehrung an der hohen Gestalt des in sich gekehrten Weisen, bis er sich langsam umwandte und sie mit einem Gesicht anschaute, das von tiefer Seligkeit verschönt war.

»O ja«, sagte er strahlend, »das Leben ist schön! Wie herrlich ist in Wahrheit alles Schwere, wenn wir Menschen es in der rechten Weise empfangen und überwinden!«

Nach diesem Ausruf wurde er von seinem Geist ganz überwältigt und hingerissen und fuhr zu reden fort:

»Seht, ihr beiden lieben, lieben Menschen, ich muß wieder davongehen. Ich bin froh, daß ich bei euch war, und bin doch auch glücklich, daß ich wieder fort muß. Denn mich treibt mein Geist, den Menschen ein neues Evangelium zu bringen, nicht daß ich im Jagen es mir erst erwerben müßte. Nein, ich besitze es. Mitten in den Zerstörungen bin ich selbst unzerstörbar. Es ist ein anderes, als die Menschen bis jetzt geglaubt haben. Denn wer noch von Erlösung redet, redet ausgehülste Worte, lebt in der Sündeneitelkeit, beleidigt Gott und bäckt das Brot seiner Tage im Angstofen des Todes. Auf der Fahne, die ich entfalte, ist kein Tier gemalt und kein Leichnam, sondern das Bild eines glückvollen, lebendigen Menschen. Das ganze Weltall mit seinen unzähligen Gestalten, alle Lehren der Kirchen, die waren und noch sein werden, alle Wahrheiten der Wissenschaften sind nur Sinnbilder seines Wesens, alles an und in ihm, sogar sein häusliches Tun, seine Familien und Staaten und selbst noch seine Sünden. Denn Zeit ist nur in unserer Rede und Raum durch unser Denken. Jedes Wort vom Unterschiede ist nur ein Gleichnis auf Erden.

Das unbezeichenbare Wesen, das den Grund der Welt bildet, es ist auch unser tiefstes Wesen, vor dem ein Halm so groß ist wie ein Berg. Es kennt nicht das Mehr und Weniger, nicht groß und klein, nicht hier und dort, nicht heute, morgen und gestern. Geburt und Tod sind nur Töne seines ewigen Liedes. Der Tanz der Gestirne verursacht Ebbe und Flut; aber er läutet auch unser kleines Herz. Und alles zusammen ist doch nicht mehr als der Hin- und Widergang der Uhr an der Wand im Hause des Menschen.

So tief ist das ewige Wesen, das wir in uns Seele, außer uns Gott nennen.

Nach dem Tode sind wir ungeteilt. Hier, in dem Zustande, den wir Leben nennen oder Dasein, wird uns alles verschleiert durch den Geist und sein Denken, daß wir es verkehrt sehen, wie die Bilder im Spiegel des Teiches oder im Sterne unseres Auges.

Doch schon hier, gefesselt durch die Trugbilder von Raum und Zeit, können wir dahin gelangen, in jenes Haus ohne Mauern, das einige das Jenseits heißen, andere den Himmel und noch andere das Nichts, weil es das All ist.

Wenn ein Vogel auf der Spitze des äußersten Baumzweiges sitzt, so erlebt er nur die Bewegungen dieses Zweiges. Rückt er tiefer hinein auf den Ast, so umfaßt er die Bewegungen von hundert Zweigen und schwankt doch nur wenig. Wählt er aber seinen Platz im Kroneninnern, hart am Stamm, so erlebt er die Bewegungen des ganzen Baumes und wird selbst nicht mehr erschüttert.

Noch mehr wie diesem Vogel geschieht einem Menschen, der bis in die Tiefe seiner Seele sinkt. Denn dort erlebt er alles Leben, das ganze Weltall, den ganzen Gott mit all seinen Geheimnissen, weil dieser unser Grund auch der Grund Gottes ist

Wer aber dieses weiß, von dem ist jede Trauer genommen und das Vergängliche vor dem Unvergänglichen verschwunden.

Jubelt! Da ist der Friede, das Glück, das Licht, die Schönheit, die niemand euch mehr nehmen kann.

Das schenke ich euch zum Abschiede. Bedenkt es in eurem Herzen, wenn ich fort bin, und handelt danach in Wachsamkeit und Treue. Lebt wohl!«

Als Faber so geredet hatte, trat er zu dem Bauer und der Bäuerin, ergriff ihre Hände, schüttelte sie stürmisch und verließ sie dann mit seinen schnell zusammengerafften Sachen, eilig, fast flüchtend.

Der Heiligenbauer und seine Frau waren von dem unvermutet losgebrochenen Strome der Faberschen Weisheit betäubt wie von einem Gewitter, geblendet, als seien ihre Augen von der hohen Sonne versengt worden, dergestalt, daß sie wohl den Handdruck des Abscheidenden erwiderten, auch Worte sprachen, sich sogar einige Schritte ihm nach bewegten und doch eigentlich nicht wußten, was sie taten.

Als sie aus diesem unirdischen Traume erwachten, fanden sie sich einander gegenüberstehend auf der Schwelle der Tür desselben Zimmers, in dem nun auch das letzte Regen der Worte Fabers verschwunden war. Sie sahen sich an und bemerkten, daß ihre Gesichter ganz blaß waren.

Der Sintlinger trat zurück und begann langsam die Stube hin zu schreiten. Johanna eilte hinaus, die Altane hinab in den Garten und rief immerfort laut Fabers Namen, um ihn womöglich noch einmal zum Zurückkommen zu bewegen. Der aber war nirgend mehr zu sehen.

Als sie in die Stube zurückkehrte, fand sie ihren Andreas am Fenster stehend, die Stirn an die Scheiben gepreßt. So, daß sein Gesicht nicht zu sehen war, stand er und schaute unbeweglich in die Weite.

Sie trat zu ihm, legte eine Hand auf seine Schulter und blickte auch hinaus, von dem schnellen Lauf und der Aufregung noch immer hoch aufatmend.

Nach einer Weile des Hinschauens sagte der Heiligenbauer leise:

»Siehst du, nun steigt er über die Querhovener Hügel hinauf.«

Und Johanna erspähte Faber jetzt auch, wie er, den Hut in der Hand, rüstigen Ganges die Anhöhe emporstieg. Sein Haar und sein Bart wehten weiß um sein mächtiges Haupt.

Nun war er auf der Höhe angelangt, schaute einen Augenblick nach ihrem Hause zurück und verschwand dann im Lichte der untergehenden Sonne zwischen den Fichten. Als sich der Heiligenbauer zurückwandte, bemerkte Johanna, daß seine Augen noch von Tränen überschimmert waren.

Er rührte aber mit keinem Wort an seine tiefe Ergriffenheit, sondern sagte lächelnd:

»Nun hat Faber ja mein Geschriebenes mitgenommen. Und dann habe ich auch vergessen, ihn nach seinem Leben zu fragen.«

Dabei ging er, ließ sich sinnend auf einen Stuhl am Tisch nieder und sagte nach einigem Nachdenken leise zu sich:

»Nun. Ja, ja. Es ist wohl so. Wenn man immerfort bloß an sein eigenes Leben denkt, verliert man's, und wenn man's gibt, kriegt man's. Und ein jeder von uns ist immer nur der Laut der Schritte eines Größeren, der nach uns kommt.«

*

Nach dem Besuch Fabers trat der Heiligenbauer in seine letzte Verwandlung.

Er schloß sich in immer größerer Liebe und Güte allen Menschen auf. Auch den Querhovenern näherte er sich mehr und mehr und förderte die Walddörfler auf jede Weise innerlich und äußerlich. Gottlieb Meixner aber liebte er wie seinen eigenen Sohn, und das Meierlein, die seine Ehefrau geworden war, wie seine Schwiegertochter, seit er erfahren hatte, daß die beiden in der Nacht vor dem Sehendwerden Helenens von seinem Kinde gleichsam zusammengegeben und gesegnet worden waren. Und als den beiden das erste Kind, ein Knabe, geboren wurde, war es ihm, als blühe ein Teil seines und Lenleins Wesen, auch das Herz seines lieben Weibes, weiter auf dem Hofe seiner Väter.

Trotzdem verlangte ihn je und je nach seinem gestorbenen Kinde, und er läutete die Glocke seines Hauses weiter, damit die Stimme des Lenleins erwache und es zwischen Himmel und Erde zu seiner Seele rede. Aber niemals mehr kam das wilde, heisere Toben über die Glocke in dem Heiligenwinkel. Sie tönte von nun an immer heiter wie die Stimme eines Kindes, und jetzt, wenn sich ihr Ton lieblich durch die Täler über die Hügel schwingt, sagen die Leute in den Stuben zueinander: »Horcht, das Heiligenlenlein singt«, hören auf zu sprechen, treten vor die Haustür und lauschen bewegt, bis die Glocke verklungen ist.


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