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Achtes Kapitel

Johanna war in den vier Tagen, die zwischen der Brederoder Unterredung und dem Ableben des alten Klim lagen, zwar nicht zu einer Klärung ihrer schwer umdrängten Seele gekommen, hatte sich aber an der unzerbrechlichen Ruhe ihres Mannes bis an die Höhe ihres alten Vertrauens herangeschoben und hielt ihren sehnlichsten Wunsch für erfüllbar, daß die Zeit nicht nur die wilden Gespenster aus dem Kopf ihres Mannes vertreiben, sondern auch die Kluft überbrücken werde, die sich zwischen ihrem Vater und allen aufgetan hatte, welche auf dem Sintlingerhofe lebten. Vor allem beruhigte sie der geheime Vorsatz, bei dem ersten freundlichen Anzeichen, das aus dem Brederoder Auszugshause gegen ihren Hügel herüberschimmern würde, sich aufzumachen und mit Liebe jene Aussöhnung herbeizuführen, die der Hartnäckigkeit der Männer nicht gelungen war.

Am Abend des Tages, der dem alten Klim den Atem für immer lächelnd aus der Brust gelockt hatte, lehnten die beiden am Zaun des kleinen Blumengartens hinter der Scheuer und sahen durch das glasige Verfinstern die endlose Reihe der Getreidepuppen wie eine Prozession Vermummter über die Hügel schwanken. Da stand unvermutet Trine, die alte Wirtschafterin, wie lautlos von dem Dunkel hergetragen, neben den beiden. Das Kopftuch war ihr in den Nacken gefallen, die schweißverklebten Haare hingen über die Stirn. Sie rang nach Worten, brachte es aber zu nichts als zu einem Strom von Tränen und hob endlich ihre gerungenen Hände zur Höhe. »Komm herein, Trine«, sagte der Sintlinger, nahm sie am Ärmel und führte die Alte, die leise zu schluchzen fortfuhr, über den verdunkelten Hof in die große Gesindestube. Sie war leer, denn die ermüdeten Dienstleute hatten schon die Kammern aufgesucht oder saßen auf der Bank unter den Torlinden. Der Bauer setzte die Greisin hinter den Tisch, und während er die kleine Schirmlampe anzündete, kam auch Johanna herein.

Weiß wie Papier, steif, lautlos ging sie über die Diele, nahm neben Trine Platz und sah unverwandt auf ihre Hände, die gefaltet auf dem Schoß lagen. Andreas schloß die Tür zum Schlafzimmer, wo Helene in ihrem Bettchen ruhte, und sagte dann: »Na, Trine, jetzt erzähl', wie's gekommen ist.«

Er stellte sich den beiden Frauen gegenüber an die andere Seite des Tisches, stützte die Hand mit eingeknickten Fingern auf die Platte und sah aufmerksam die greise Wirtschafterin an. Die taumelte erst mit halben Worten durch eine Reihe unzusammenhängender Ausrufe und Beteuerungen, und als sie auf diese Weise die Last ihres Schmerzes etwas erleichtert hatte, gelang es ihr nach und nach, sich in der Erinnerung zurechtzufinden, und sie erzählte umständlich, sogar bis auf jeden Blick und halben Seufzer, genau die Not, von der der Greis durch seine letzten Tage gehetzt worden war. Johanna bewegte keine Fiber und tat scheinbar keinen Atemzug. Nur bei der Erzählung von der stummen Sehnsucht, mit der ihr Vater immerfort wartend auf die Tür geschaut hatte, entfuhr ihr ein fast tierischer Laut von Weh. Dann saß sie wieder regungslos, ohne jede Träne. Sie sank nur mehr und mehr in sich zusammen und rutschte endlich lautlos unter den Tisch, als sie die Beschreibung des Glanzes hörte, mit dem ihr Vater aus dem Leben geblendet worden war.

Den Bemühungen der beiden gelang es, sie der Ohnmacht zu entreißen, und als sie die Augen aufschlug, traten ihr die ersten Tränen hervor. Sie flossen still, ohne Schluchzen über ihre blassen Wangen und an dem geschlossenen, verfärbten Mund vorbei. So sah Johanna ihren Mann mit Blicken an, die fast wie verzehrend sich in sein Tiefstes hineingruben, bis der verzweifelte Schmerz ihres Gesichtes in ein solches Grauen verwandelt wurde, daß sie den Anblick ihres Mannes nicht mehr aushielt. Sie schloß die Augen und kehrte sich auf der Bank, wohin man sie gelegt hatte, gegen die Wand. So verharrte sie lange mit Atemzügen, die klangen, als würde ihr Leib aus allen Fugen gerissen.

Endlich wandte sie sich wieder herum.

»Du kannst heute nicht hier bleiben«, sagte der Sintlinger. Sie schüttelte den Kopf.

Dann wartete der Bauer ernst auf Antwort. Aber sie sah an ihm vorbei zur Decke und schwieg.

»Hm, hm«, sprach er nach einigem Sinnen. »Du mußt zur Totenwache hinüber, ich weiß ... ich weiß alles.«

Und ohne auf eine Erwiderung zu warten, ging er und schirrte die Pferde an, und der alte Knecht kutschierte die Frauen den Hügel hinunter durch die schummerig schwere Sommernacht nach Brederode hinüber.

*

Drei Tage und zwei Nächte blieb Johanna bei ihrem toten Vater und rang mit sich. Manchmal überfiel es sie, Andreas hat meinen Vater ins Grab gestoßen. Dann fühlte sie das Grauen wie ein Frosthäutchen über ihre Augen laufen, und ihr Blick wurde aus dem Kopf herausgedreht. Ihre Füße ergriffen die Flucht, und sie fand sich, aus einem Kreisen aufwachend, tief in den Haseln des Abhangs oder an einem Baum im Felde. Manchmal auch hatte sie die Empfindung, nicht selbst zu reden, zu sehen, zu denken, zu gehen und zu ruhen. Es war ihr, als bediene sich eine Gewalt, deren Wesen und Absicht nicht zu erforschen war, ihres Willens und Lebens. Denn die Unterredung zwischen ihrem Vater und Andreas, die sie und ihn hatte von den Schatten befreien sollen, war zu einem Weg geworden, der sie nur tiefer in Finsternisse geführt hatte.

Aus diesen Verfinsterungen eilte sie an die Bahre des Toten, sank unter stillem Weinen in die Knie und fragte den Gestorbenen, ob sie oder Andreas ihn aus der Welt gestoßen habe, ob er ihr zürne. Sie könne doch nicht dafür, und er möge ihr doch wenigstens aus der Ewigkeit helfen, daß sie nicht verzagen müsse. Aber wenn sie sich von solch leidenschaftlichen Klagen erhob und dem Toten ins Gesicht sah, überkam sie Scham, daß sie seine Ruhe gestört hatte. Denn die Schönheit, in die sich der Greis hinübergeträumt hatte, blühte noch auf seinem Antlitz, und er lag nicht da wie ein Gestorbener, sondern wie einer, der sich auf das Ruhebett gestreckt hat, um bei geschlossenen Augen den tiefen Sinn einer wundersamen Geschichte nachzugenießen, die eben vor seinen Ohren verklungen ist.

So beruhigte sich das peinvolle Flackern ihres Gemütes immer von neuem. Aber wenn sie im Begriff war, ihre Füße auf den Weg nach dem Heiligenhof zu stellen, wurde sie von innen her in Verzagen und heimliches Grauen zurückgewendet.

Als am Abend des dritten Tages der Sintlinger in Brederode erschien, weil am nächsten Morgen die Beerdigung stattfinden sollte, traf er sein Weib entgegen einer geheimen Befürchtung zwar nicht mehr von so schweren Schatten umschanzt, wie sie ihn verlassen hatte, allein ihr Blick trieb sich noch immer verstört in den Augen umher, sie sah ihn furchtsam von der Seite an, und während die beiden das tagelange Fortbleiben Johannas wie etwas ganz Selbstverständliches behandelten und über den Stand der Hauswirtschaft, das Ergehen Helenens und den Fortgang der Ernte redeten, fühlte er, wie sie den Klang seiner Stimme schmerzvoll lange in ihrem Ohre wog, auf sein Ausschreiten achtete und fast vorwurfsvoll die Ruhe prüfte, mit der er unter den Bäumen neben ihr der Schwelle des Trauerhauses zuschritt.

So traten sie miteinander in die nur von einem Nachtlicht erhellte Stube, wo der alte Klim aufgebahrt lag. Johanna begann sogleich leise zu weinen, bewegte die Lippen und besprengte den Toten mit Weihwasser.

Plötzlich fragte sie mit verschleierter Stimme:

»Wo wird mein Vater jetzt sein?« und wendete ihr blasses, bebendes Gesicht zu ihm auf.

Sie sah, wie ihr Mann die Lippen rührte, aber er antwortete nicht, sondern schaute sie nur in tiefen Gedanken an und legte zum Abschied die Hand auf die kalte Stirn des Gestorbenen.

Dabei sagte er die unbegreiflichen Worte: »Das Meer hat sich zurückgezogen.«

Dann stiegen sie schweigend ihrem Hofe zu.

Vielleicht dachte der Sintlinger bei sich: Sie ist wie ein Mensch, der, in einem weiten Walde plötzlich von der Furcht überfallen, nach allen Richtungen rennt. Wenn ich nun zu rufen anfange, um sie auf meinen rechten Weg zu leiten, wer weiß, verkehrt ihre Angst den Klang meiner Stimme so, daß sie darin nur eine neue Gefahr wittert, und anstatt sich zu mir zu finden, nur noch tiefer in die Irre läuft. So oder ähnlich muß sich doch der Sintlinger gefaßt haben. Denn weder an diesem Abend rührte er mit einem erhellenden Wort an ihre Seele, noch kam er ihr am folgenden Morgen anders zu Hilfe als nur durch die Tatsache seiner unzerbrechlichen Sicherheit.

Fest und frei, ernst, aber ganz unbewölkt stand er neben ihr vor dem offenen Grabe, dem Hemsterhuser Pfarrer gegenüber, der mit orgelnder Stimme die Responsorien betete. Die weinerliche Glocke der kleinen Brederoder Filialkirche ließ unausgesetzt ihr Geläut in die graue Luft irren, und die Hügel zogen rundum erschöpft in trostlosen Weiten.

Johanna hatte die Hände unter der Brust gefaltet und hob den Blick nicht von dem Erdwall, der um das Grab herum aufgehäuft war. Es sah aus, als bemühe sie sich, mit den Augen den Sinn ihres Schicksals aus dem Boden zu wühlen. In dieser Stellung verharrte sie auch während der Leichenrede des Pfarrers, der damit begann, von der Fülle des hohen Sommers, von der Trauer des Himmels und dem jähen Aufschrecken der Sonne aus dem Gewölk zu sprechen. Dann redete er von der reifen Frucht eines Menschenlebens, das der Tod hier ruhig eingeerntet habe. Deswegen zieme es allen, die noch von dem festen Glauben an den Lohn durch die jenseitigen Ewigkeitsfreuden erfüllt seien, voll von, wenn auch schmerzlicher, Freude zu sein. Denn wenn es für unser schwaches Begreifen hier auf Erden eine Sicherheit gäbe, so sei es die, daß dem Verstorbenen, der ihm selbst ein Freund, ja fast ein väterlicher Bruder gewesen, die Pforte der Seligkeit sich willig und weit erschlossen habe.

Die rot behaarten, großen Hände des Geistlichen zitterten, sooft er sie segnend erhob oder ausstreckte, und mehreremal stockte seine Stimme sogar vor Rührung.

Da und dort wimmerte es leise aus dem Grabgeleit. Die Männer machten finstere Gesichter, weil sie nicht weinen wollten. Johanna stand tief gebückt, und ihre Tränen flossen lautlos. Unauffällig streifte sie den Sintlinger mit einem Blick, um sich zu überzeugen, ob auch ihn die Trauer ergriffen habe. Allein er hatte noch mit keiner Gebärde seine aufrechte Haltung versehrt. Wenn auch blassen Gesichtes, sah er geraden Auges wie in große Fernen. Mit heimlichem Erschauern kehrte sie wieder in ihren Schmerz zurück. Ja, aus ihrer Haltung sprach sogar etwas wie Hoffnungslosigkeit.

Der Pfarrer hatte eine Pause eintreten lassen und schickte, die Fortsetzung überdenkend, seine Blicke rundum.

Es ist wahrscheinlich, daß ihn der Sintlinger, der steif und ungerührt dastand, kränkte, vielleicht wurde er auch nur von der Eitelkeit so vieler Grabredner erfaßt, die den Wert ihrer oratorischen Leistungen nur in der Wildheit der Trauer suchen, die sie entfesseln. Unvermittelt begann er über das Los jener Beklagenswerten zu sprechen, die in der Verblendung des Stolzes die Schicksale des Lebens nicht auf sich nehmen, sondern, um der Reue über ihre Sünden zu entgehen, an dem Wesen Gottes sich vergreifen, mit aberwitzigen Gedanken und allerhand frechen Deutungen der ewigen Fügung. Aber damit begnügte er sich nicht. Einmal in Schwung geraten, trieb es ihn immer tiefer in das düstere Kreisen, und er schilderte mit allen Farben fanatischer, ausschweifender Phantasie das Ende der Gottlosen.

Der Sintlinger aber schnitt plötzlich mit einem Hustenstoß, der wie Hohngelächter klang, diesen heidnischen Tumult mitten durch, so daß der Pfarrer verstummte, als sei ihm ein Stein in den Mund geflogen.

Der Heiligenbauer achtete aber nicht auf die Wirkung seiner Entrüstung: er neigte sich zu seinem Weibe, flüsterte ihr gütig etwas ins Ohr und berührte beschwichtigend ihre Achsel mit der Hand, Johanna wandte ihm das zuckende, überströmte Gesicht zu und sah ihn betrübt an. Und in der Meinung, sein Weib sei deswegen von der Verzweiflung so überwältigt, weil sie glaubte, er setze sich aus Feindseligkeit über den Tod ihres Vaters hinweg, beugte er sich nieder, brach einige rote Blumen neben seinen Füßen und warf sie dem Toten statt der Erde auf den Sarg.

Doch Johanna war so im Taumel ihres Schmerzes, daß sie diese Handlung ihres Mannes gar nicht zu bemerken schien; sie griff mit stumpfen Fingern in der frischen Erde herum und warf sie auf den Sarg. Dabei sagte sie fast laut und wie drohend: »Gott gebe dir die ewige Ruhe.«

Als das Grabgeleit zu den beiden herzutrat, um mit den üblichen kurzen Worten ihnen das Beileid auszudrücken, war ihr Gemüt noch immer so verstört, daß sie offenbar nicht ganz begriff, was alle diese Leute damit bezweckten, ihre Hand zu ergreifen und auf sie einzureden. Sie sah auf die Menschen, die vor ihr standen, nicht anders als ein Läufer, der unvermutet vor einer Mauer steht; eine dumpfe Ratlosigkeit war in ihrem Blick. Der Sintlinger wußte überall die Prozedur abzukürzen, und so gelang es ihm immerhin ziemlich schnell, sich mit Johanna durch die Menge dem Ausgang zuzuwinden. Freilich mußte er seine Frau mehr tragen, denn kaum daß ihr ein neuer Zuspruch wie gewaltsam den Kopf gehoben hatte, sank ihr Gesicht wieder zur Erde, und es war, als hänge ihr Leben davon ab, etwas zwischen den Füßen der anderen zu finden.

Schon standen sie nur etwa sechs Schritt von dem zerbröckelnden Torbogen entfernt, der sich über dem Kirchhofsausgang wölbte, und außer einigen Kleinbauern aus Hemsterhus war nur noch der Brindeisener und seine Familie zu überwinden. Sie lehnten ziemlich zusammengedrückt in dem Mauerwinkel hinter dem Tore, Anton Brindeisener, obwohl leicht gekrümmt, mit dem Kopf fast die Ziegel des Tordächleins berührend, mehr einer riesigen Pyramide ungefügiger Menschenknochen ähnlich, mit unerbittlich kalten Augen unter einer vorgebauten Kastenstirn, das Herannahen des Sintlingerschen Ehepaares belauernd, und, von der hohen Mauer seines Rückens fast verdeckt, sein Weib, mit ihrem großen, ebenen Gesicht und einer schmerzvollen Scheelsucht im Auge, daneben Amalie, ihre Tochter, jene, die am Hochzeitstage der Sintlingerschen im Todesringen gelegen hatte, noch immer blaß, mager, krank.

Etwas wie glückliche Furcht strahlte immer leidenschaftlicher aus den großen, hektisch blanken Augen des Mädchens, da sie den Sintlinger seine vor Trauer wie schlafwandelnde Frau gegen den Ausgang auf sie zuführen sah. Ja, sie geriet förmlich in Verwirrung, lächelte und weinte in einem und begann schon nickend ihre Zustimmung zu bezeugen, als ihr Vater kaum begonnen hatte, mit dem unwirschen Baß den Bedauerungs- und Trostspruch herzusagen.

Allein plötzlich geschah etwas Ungewöhnliches. Johanna fuhr aus der versunkenen Gebücktheit auf, sah entsetzt dem Brindeisener ins Gesicht, riß sich von ihrem Manne los und eilte die Stufen hinunter dem Wege zu. Andreas vermochte sie nicht zurückzurufen, entschuldigte ihr Betragen mit ihrer Aufregung und folgte ihr schnell.


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