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Drittes Buch

Erstes Kapitel

Von dem Tage, an welchem der Sintlinger durch die Begebenheit mit dem schwarzen Huhn unabwendbar in die Jenseitigkeit des Lebens seines Kindes und der Welt geführt worden war, löste sich leise, unmerklich der Weg Johannas, seines Weibes, von der Bahn los, auf der der Heiligenbauer und Helene ins Ungewisse gingen. Nicht, daß die Bäuerin sich dem Wesen ihrer beiden geliebtesten Menschen durch offenes Widersprechen entgegenstellte: die einfache, gütig-tüchtige Seele war nur nicht fähig, in dem glänzenden Gewölk von der Erde sich in raumlose Welten wie ihr Mann und ihr Kind zu verlieren, sondern nahm das Davonschweben der beiden als eine Prüfung Gottes hin und band sich fester denn je an die tausend Pflichten hausmütterlicher Tätigkeit, um der Auflösung entgegenzuwirken, die sie ahnte, und den beiden einen gesicherten Boden zu erhalten, auf den sie sich am bitteren Ende aus dem unwirklich-bunten Treiben retten konnten. Kaum daß je ihr ernstes, schleierloses Auge noch mit einer vorwurfsvollen Frage ihrem Andreas begegnete, kaum daß sie wieder einmal die Hand mahnend auf seinen Arm legte, als der Zulauf allerhand neugieriger und wundersüchtiger Menschen auf den Heiligenhof aufs neue stärker begann, fast so stark wie in der Zeit, da die Nachricht von der unbegreiflichen Blindheit Helenens das erstemal die ganze Umgegend aufgeregt hatte. Und wie in jenen Wochen neben vielen Unnützen manche ehrlich ergriffenen Herzen von dem Drang zu helfen und zu trösten auf den Hübel getrieben worden waren, so fanden sich auch nun auf der Sintlingerschen Bauernburg gar viele Menschen ein, die, von Nöten des Leibes oder der Seele beladen, wirklich ein außerirdisches Licht über dem Dach spielen sahen, unter dem Helene wohnte. Aber gerade diese, die mit »großen Brennaugen« oder der sichtbaren Inbrunst nach den Schauern einer Wunderheilung durch das Tor des Sintlingerhofes kamen, wurden auf eine ruhige Art abgewiesen, indem man ihnen bedeutete, daß hier so wenig ein Wallfahrtsort als die Wohnung eines Doktors sei. Das Gesinde machte mit solchen Bresthaften kurzen Prozeß, die Bäuerin hieß sie bestimmt wieder gehen, und auch der Sintlinger führte alle schonend den Weg über den Hübel hinunter, die mit einem geheimen Anliegen sich einfanden, etwa, Helene möge das Fläschlein in die Hand nehmen, in das sie ihr Wasser gefüllt hatten, ihr erkranktes Bein berühren oder doch wenigstens das Licht ihrer wundersamen Augen eine Weile auf ihnen ruhen lassen. Denn darin waren der Bauer und seine Frau einig, daß durch ein solches Treiben ihr Kind sicher an verstiegene Eitelkeit, wenn nicht an Schlimmeres verlorengehen müsse. Alle aber, denen nur an einem Stück Brot, einem Napf Suppe oder einem Notpfennig gelegen war, klopften nicht umsonst an die Tür des Heiligenhofes. Um sie leichter zu übersehen und jene auszuscheiden, die es nur auf die Wunderkraft des hübelheiligen Mädchens abgesehen hatten, richtete man den Raum als Speisestube der Armen ein, der auf dem unteren Flur der Küche gegenüberlag und bisher als Unterrichtszimmer Helenens gedient hatte. Dort wurde ein langer Tisch vor einer Bank aufgestellt für alle Landfahrer und Strauchvögel, die Hunger, Not und wohl auch Neugier auf den Sintlingerhof zogen.

Da ereignete es sich denn oft, daß zwei oder drei an einem Abend zugleich die Gastfreundschaft des Heiligenbauers genossen und, ein sicheres Dach über dem Schopf, saubere Fenster vor den Augen, eine gedrungene Mahlzeit im Leibe, sich von dem Geist dieses sonderbaren Hofes wie geborgen vorkamen und von ihrem vergangenen Leben zu erzählen begannen.

Es konnte auch nicht fehlen, daß der Sintlinger selbst manchem dieser Bekenntnisse zuhörte. Aber nun geschah es aus einem anderen Grunde als früher, da er zu seiner eigenen Beruhigung sehnsüchtig als Vater einer Blinden nach der Not der anderen gelangt hatte, in ihren Leiden Trost zu suchen. Jetzt war er aus seinen Daseinsschmerzen ganz hinausgeführt und saß, in höherer Art ein Bruder dieser Erdverwiesenen, unter den Männern, die ihre Entgleisungen, ihre wilden Vergehen oder ihr dumpfes Verschulden auf eine tiefere, sinnvolle Weise erlebten, sobald sie es dem Heiligenbauer erzählen konnten, und oft ihr Leben fast wie eine ehrwürdige Angelegenheit göttlicher Fügung fühlten. Ja, manch einer dieser Gestrauchelten, wenn er wieder in dem Dunkel allgemeiner Mißachtung der Leute drunten seine Vergangenheit als Schande empfand, sah nach Wochen und Monden in seinem Erinnern den Heiligenhof wie ein lichtes Mirakulum auf einsamer Höhe liegen und bemühte sich vergebens, herauszubekommen, auf welche Weise ihm Köstliches und Wundersames von dem Sintlinger geschenkt worden war, da der Bauer doch nichts getan als zugehört hatte.

Auf solche Art wuchs der Ruf des Sintlingers und seines Kindes in immer weitere Kreise, und das gerade durch eine Einrichtung, die diesen Wunderstrom eindämmen sollte.

An dem Heiligenbauer selbst zog das absonderliche, gar oft schmerzhafte Geräusch so vieler gestrandeter, zerbrochener Lebensläufte nicht spurlos vorüber. Nicht, wie feindliche Spötter behaupteten, daß er im Anhören solch verwilderter Ausschweifungen eine verheimlichte Gier beruhigte und sich am Fuseldunst der Trinker den Ekel vor dem alten Laster immer wieder auffrischen müsse, um der nur mühsam unterdrückten Sucht nach Rausch und Toben eine unschädliche Befriedigung zu gewähren. Ach nein! Doch pirschten auch diese Wildschützen des guten Rufes, ohne es freilich zu ahnen, in der Nähe des Wesens umher, wie es zu jener Zeit in dem Heiligenbauer blühte. Denn wirklich, wie ja in des Menschen Leben nie etwas Neues kommt, sondern nur neue Formen auftauchen, soviel sich auch ereignen mag, so schweifte das Sinnen des Sintlingers in jenen langen Monaten in Gegenden, durch die ihn sein Rausch getrieben hatte.

Es war ihm ja wohl auch damals immer gewesen, daß es ihn außerhalb des Lebens zwischen Himmel und Erde umherwirbele, und jetzt, da er aus der Seelenstille, in der er mit Helene lebte, auf das unbegreifliche Dasein dieser Verirrten sah, war es ihm manchmal, als betrachte er in ihren Verfehlungen seine eigenen hilflosen Versuche von damals, nicht nur, allen Strudeln der Tollheit zu entrinnen, sondern damit zugleich über die allgemeine Dumpfheit in das Leben außergewöhnlicher Schönheit und Kraft zu kommen. Kaum einer dieser Männer, der etwa als Bock meckerte, war als Bock geboren. Es hatte in jedem dieser entgleisten Leben eine Zeit gegeben, da es brünstig, wie nur das Heiliger, nach der höchsten Daseinsverklärung gerungen hatte, und wenn der Heiligenbauer recht zusah, war er vor dem hoffnungslosen Versinken nur durch den ererbten Wohlstand bewahrt worden. Denn wo wäre er gelandet, wenn sich zu den Fiebern seiner Leidenschaften plötzlich eines Tages die Not, der Hunger, die Verachtung gesellt hätten, dagegen in welches Klingen, welches Licht wäre gar mancher von diesen Stromern endlich gestiegen, wenn ihn nicht mitten im Leiden an sich und der Welt die gemeinste Not noch vollends zerbrochen hätte!

Es müßte der Armut gesteuert und den Besitzlosen der Kampf ums Durchkommen erleichtert werden, sagte der Heiligenbauer zu sich, wenn er, erschüttert von dem Schicksal eines solchen Vagabunden, aufstand und aus der Armenstube sinnend um den Hof ging. Und das sagte er so oft, bis er es nicht nur glaubte, sondern in der ihm eigenen Energie auch danach zu handeln begann. Freilich lief er nicht, wie es die Art der meisten Volksbeglücker ist, mit der Maultrommel vor sich her und dazu auf Wegen, die noch erst gebaut werden sollen. Er arbeitete sich erst sinnend in ein Gebiet hinein, das eigentlich seinem innersten Wesen zuwider war, was er auch selbst gespürt haben muß, denn es finden sich in seinen Aufzeichnungen aus jener Zeit eine Reihe von Betrachtungen über die Hilfe an Bedrängten, von denen die merkwürdigste lautet: »Der Mensch, der eine Hilfe mit Geringschätzung verbindet, gleicht dem Manne, der dem Hungernden das Brot mit der Faust in den Mund schlägt, daß ihm die Zähne wackeln.«

Aber er begnügte sich mit dieser bloßen Gemütsbewegung nicht. Der Sintlinger begann dazumal ein unruhiges Streifen durch alle Ortschaften der Umgegend, natürlich ohne irgend etwas von seinen Absichten zu verraten. Bald saß er zu Hiesfeld bei einem armen Bäuerlein am Raine und unterhielt sich mit ihm über die beste Art, wie dem kleinen Besitzer, dem Hufner und Kätner, geholfen werden könne, ohne die Macht der Magnaten zu stärken und den Hauptvorteil in die Taschen der Großen zu leiten. Dann erschien er in Dinslaken und Walsum unter den Fuhrleuten. Er hielt sich auch oft in Holthausen und Vörde auf, begann alte Bekanntschaften, wenn auch nicht auf die alte Weise, aufklingen zu lassen, nahm Anteil, wo man es nicht vermutete, erwies Freundlichkeit ohne Hinterhältigkeit und spendete Vertrauen, auch wenn ihm keine Aufgeschlossenheit entgegenkam.

Am meisten beschäftigte ihn freilich seine nächste Nachbarschaft, Brederode und Hemsterhus, vor allem aber Querhoven. Für die armen Teufel dieses Walddorfes entbrannte seine Teilnahme am lebhaftesten, und aus Berechnungen und Aufstellungen, die sich nachher in seinen Papieren fanden, ist zu ersehen, daß er ernst damit umging, die Zuleitung der Elektrizität in jene Gegend zu betreiben, vor allem um dem kümmerlichen Leben der vielen Spunddreher und Spanhobler dieses heimlichen Ketzernestes durch Aufstellung kleiner Motore aufzuhelfen und ihnen damit den Weg zu lohnenderer Arbeit zu weisen. Der feine Spürsinn, der Bedrängten eigen ist, sobald sie das Wirken einer helfenden Macht um sich fühlen, ließ die Querhovener bald eher als alle anderen die Absichten des Heiligenbauers ahnen. Während die übrigen in seiner Geschäftigkeit nur eine neue Schrulle des wunderlichen Mannes sahen, leiteten sie aus seinen vielfachen Erkundigungen nach ihren Erwerbs- und Lebensverhältnissen das Recht auf bestimmte Erwartungen, und weil dieses Winken in eine schöne Zukunft hinein von ihm, dem Manne, ausging, der durch sein wundertätiges Kind ihrer religiösen Inbrunst neue Anregung gegeben hatte, liefen ihre außerirdischen und irdischen Hoffnungen in einem Strom zusammen, so daß sie das Kühnste für möglich und das Unwahrscheinlichste für natürlich hielten. Nicht lange, und überall verbreitete sich das Gerücht, der Fürst Arenberg wolle Schnitzer aus dem Thüringischen ansiedeln, um eine bessere Ausnützung des Holzes aus seinen Wäldern in die Wege zu leiten; man disputierte über die Anlage einer Drahtseilbahn wie über eine Angelegenheit von morgen; in den bäuerlichen Kreisen ging das Gerücht von der Gründung einer Einkaufsgenossenschaft und der kommunen Erwerbung landwirtschaftlicher Maschinen.

Die Spötter aber, deren es in jener Gegend mehr als irgendwo anders gab, hängten diesen in den Wolken segelnden Projekten eiligst komische Schwänzchen an und verbreiteten die Nachricht, daß einer, der es verstehe, die Kühe mit Maschinen werde melken lassen, und daß man in einer Weile dem Gesinde künstliche Beine anschaffen werde, um das Tempo ihres Fleißes immer nach Gutdünkeln regeln zu können.

Aber das Volk entkleidet ja alle seine höchsten Erwartungen so gern des Ernstes, wohl um sich von vornherein vor den schmerzlichen Rückschlägen der Enttäuschung sicherzustellen. Genug, um die schönen Anläufe des Sintlingers zu einem Volksfreunde schäumte ein bunter, krauser Wirbel, noch ehe eine seiner Ideen feste Formen angenommen hatte. Den Heiligenbauer störte dies lächerliche Treiben nicht sonderlich, er schrieb auf seine Blätter den Satz: »Wer nicht vorher im Traume auf dem Pferde gesessen hat, der fällt sicher beim ersten wachen Ritt unter die Hufe«, und hing neben seinem Tagewerk unbeirrt und tapfer weiter den Gedanken nach, wie den Menschen, besonders den Armen, geholfen werden könne. Da ergab es sich denn von selbst, daß aus dem Gedanken an die Änderung und Veredelung der Querhovener Erwerbstätigkeit Erwägungen entstanden über eine gerade und bessere Verbindung der ganzen Gegend mit dem nächsten Ort am Rheine. Dieses Projekt bot sich auch deswegen zu leicht und dringend an, weil, solange der Sintlinger eigentlich zurückdenken konnte, alle Männer des Umkreises den Gedanken an die Herstellung einer kürzeren Verbindung mit dem nahen Strome niemals ganz hatten zur Ruhe kommen lassen. Nun hatte der Heiligenbauer vor, erst den Bau dieser Straße energisch zu betreiben, all seine anderen Pläne aber im Hintergrunde zu halten und ihre Verwirklichung gleichsam nur als notwendige Folge der Veränderungen anzubieten, die durch die Erreichung jenes Zieles sich von selbst einstellen mußten. Indem er dieser Überlegung immer näher trat, sah er ein, daß man gut tat, bei Anlage einer neuen Verbindung möglichst alte Wege zu benutzen, um Kosten zu sparen und das Volk schneller mit der neuen Straße auszusöhnen. Nun bestanden schon zwei Verbindungen nach dem Rhein hin: die Chaussee über Brederode und der Grenzweg, der an den Fremdhöfen vorüberführte und dann in die Waldstraße mündete. Der Heiligenbauer fühlte wohl, daß die Allgemeinheit anfänglich sicher für eine Abzweigung von der Brederoder Chaussee sein würde, obwohl eine ganze Reihe Erwägungen dagegen sprachen und er selbst, wenn auch mehr im Gemüt, vor diesem Plane eine richtige Abneigung empfand. Doch hatte er vor, trotzdem diesen Weg selbst in Vorschlag zu bringen und nachträglich so viel Schwierigkeiten und Widriges daran zu entdecken, daß sich die Wahl der Waldstraße von selbst ergab. Denn für nichts setzen sich Bauern leidenschaftlicher ein als für einen Plan, den sie aus purer Widersetzlichkeit anders verwirklichen können, als er von anderen gewünscht worden ist.

So lief denn der Sintlinger die alte, löcherige Waldstraße auf und nieder, entweder früh, ehe er den Gang übers Gut antrat, oder gegen Abend nach Beendigung des Tagewerks. Denn es gab da zwei Stellen, die die Verwirklichung des Projekts gefährden konnten: die Kurve, die notwendig war, um die neue Straße unter Vermeidung der jetzigen übermäßigen Steigung auf das Niveau der Waldstraße zu heben, und der steile Abhang tief im Walde an der Silberlehne, an jener Stelle, wo man über niedrigen, versäuerten Fichtenbestand den ruhigen, dunklen Spiegel des Buchteiches sehen kann. An beiden Orten mußten die notwendigen Kurven zum größten Teil auf Brindeisenersches Gebiet gelegt werden. Und wenn der Sintlinger unter der Hohen Kippe seines Gutes an jenem Punkte des Grenzweges stand, von wo aus die neue Chaussee im Bogen durch eines der schönsten Gewende Brindeiseners schneiden mußte, um in mäßiger Steigung am Rande des Sintlingerschen Waldes über der Faberwiese in die Waldstraße geführt zu werden, gab er zu, daß diese Linie den Zorn seines mißtrauischen Nachbars geradezu herausforderte. Denn sie konnte leicht von dem bäuerlichen Finsterling als absichtliche, böswillige Schädigung aufgefaßt werden. Aber gerade die Aussicht auf so viele Hemmnisse lockte den Heiligenbauer immer tiefer in den festen Willen hinein, diesen, nur diesen Plan mit allen Mitteln zu betreiben.

Eigentümlich war nur das eine, daß seine vorauseilenden Überlegungen, wenn sie Woge um Woge widerstreitender Kombinationen überwunden und geschlichtet hatten, in einen leeren, lichttoten Umkreis gerieten, der zwar sehr fern lag, aber deswegen um so mehr belastete, weil alle jene Sachen unserer Seele am nächsten wohnen, die weitab von unserem Leben liegen und so fein und unwirklich sind, als ständen sie im Licht von Sternen, die unseren Augen nicht erreichbar sind. Der Heiligenbauer, nachdem er sich einigemal auf diese Weise ins Pfadlose gesonnen hatte, drang sich den Glauben auf, wenn ihn schon das Planen so hinter das Leben führe, würden die Menschen, auf die es abzielte, auch nicht in dem alten, engen, Dasein verharren können, sobald sie sich in den Genuß der Verwirklichung seiner Bemühungen setzten.

Doch seltsam war es, daß diese trostreiche Erklärung ihn auch nicht befriedigte, und daß er, um einer tiefinnerlichsten Entzweiung zu entgehen, am Ende alles Grübeln und Graben beiseiteschob und, war es am Morgen, dem Nebel zusah, wie er aus der Waldstraße in tausend wunderlichen Gestalten ins frühe Wipfellicht hinaufstieg, oder, schlang der Abend solch unlösbare Knoten, den traumhaft leisen Flügellauten lauschte, mit denen der Wald sich zur Nachtruhe vorbereitet. Das ging dann immer eine schöne Weile ganz nach Wunsch, bis irgendein unvorgesehener Vorfall ihn aufschreckte: das grelle, wiehernde Gelächter des Spechtes, das Aufschrecken eines Rehbockes oder auch nur das schwerfällige Bäumen eines großen Vogels. Alle solche Vorgänge wirkten in dieser Gemütsverfassung auf den Sintlinger so, als berühre ihn jemand körperlich und spräche warnend: Sei auf der Hut! oder: Paß auf! Und immer, wenn solch unerwartete Vorgänge ihn jäh aus der Versunkenheit rissen, sah er sich um oder blieb stehen und blickte betroffen in die Tiefe des Waldes, als säß' da irgendwer, der mit ihm etwas vorhabe. Ja, manchmal war es ihm, als tauche aus dem Dunkel ein Gesicht auf, dessen Züge er nicht zu erkennen vermochte, nicht einmal seine Umrisse, nur fühlte er ein stetes, großes Schauen aus dem Finstern auf sich gerichtet. Und jedesmal, wenn sich das ereignet hatte, ertappte er sich dabei, entweder daß er in Bedachtsamkeit geriet, als habe er einen tiefsinnigen Rat erhalten, oder daß er im Weiterschreiten gar bestätigend mit dem Kopfe nickte.

An einem Abend, als er wieder einmal von dem unvorstellbaren Gesicht gemustert worden war – und im Weiterschreiten sich einem versunkenen Nachdenken überließ, was das doch wäre, das in solch rätselhafter Weise immer um ihn auftauche, kam er auf der Straße an eine der tief ausgefahrenen Stellen. Er geriet unversehens an das Wegeloch, daß er sich gewaltsam zurückreißen mußte, um nicht hineinzugeraten, und wie es die Art aller Menschen ist, die stolpern oder straucheln, nachdem er dem kleinen Unfall entronnen war, sah er sich um, ob jemand seine Ungeschicklichkeit bemerkt habe. Der Abend war noch früh, kaum bis zum Stumpfwerden aller Farben gediehen, und das Blau des Himmels hatte das Welke und die Müdigkeit überarbeiteter Augen. Die Schatten des Waldes schwelten als graues Hauchen über den Weg, dessen eben übersehbares Stück bergan ging und in der Ferne, in die halben Wipfel gehoben, im Unbestimmten abzubrechen schien. Drei- bis vierhundert Meter vor ihm schritt ein ungewöhnlich großer Mann, einfach wie ein Hausierer gekleidet, mit sehr kurzen Hosen, die ihm kaum an die Knöchel reichten, und einem langen, feierlichen Gang. In der linken Hand trug er ein Bündel, das er indes bald darauf in die Rechte nahm und nach einer Weile bald über die eine, bald die andere Achsel warf, um es danach wieder lange in der Linken zu tragen. Und jedesmal, ehe er sein Bündel an einen anderen Ort schwang, kam eine Unruhe über die Würde seines Ganges, eine Art grotesken Sprunges oder nur ein Trittwechsel, der Sintlinger konnte es nicht genau sehen, und als er sich dann vornahm, scharf achtzugeben, stand der Fremde plötzlich still, schaute überlegend in den Wald, und da eben das Zucken wieder in seinen Leib fuhr, sprang er mit einem konvulsivischen Satze über den Graben und verschwand im Dickicht, so, als geschähe es nicht ganz mit seinem Willen, sondern als würde er von einem Krampf ins Dunkel gerissen.

Der Heiligenbauer lächelte leicht über das komische Gebaren des Unbekannten, dachte jedoch bald wieder an die rätselhafte Entzweiung seines Innern und dieses noch unerklärlichere Herschauen eines unvorstellbaren Gesichtes. Vielleicht ist es das Antlitz des Meisters in mir, und ich bin dem Tore des Jenseits in der Welt schon ganz nahe gekommen, weswegen ich sehe, was meine Sinne nicht zu erfassen vermögen, dachte der Heiligendauer.

Und nicht lange, so befand sich sein Sinnen schon wieder in dem schimmernden Mahlgange weltferner Erwägungen. Da trat er aus seinem Walde heraus und sah hinter dem Buckel der Hohen Kippe das riesige, altersgraue Geviert seines Hofes heraufragen, überlaufen von dem blinden Schimmer der fast versunkenen Sonne.

Er schritt den Abhang der Waldstraße hinunter bis zu der Stelle, wo sie zum Grenzweg sich verwandelte und wo zugleich sein Wirtschaftsweg abzweigte. Ehe er indes in seine Felder einbog, tat er noch einen Blick an dem Saum des Waldes hin über die Faberwiese. Da erblickte er denselben Fremden, der so krampfig in den Wald gehupft war. Er storchte nun gemächlich im hohen Grase seiner Wiese umher, lugte so eigen ins Grüne, als habe er Rohre vor den Augen, griff dann und wann vorsichtig zwischen die Halme und schaute lange auf das, was er gefunden hatte. Der Sintlinger konnte nicht sehen, war es ein Pilz, eine Blume oder ein Käfer. Deswegen ging er gemächlich das Stück hinunter, stellte sich an den Grabenrand und schaute hinüber. Da erkannte er denn bald, daß der Fremde, übrigens ein tief ergrauter Mann, Blüten, wohl zu Tee, sammelte, und zwar hatte er es auf die roten Wiesenflockblumen abgesehen, die von den Landleuten jener Gegend, wegen des knollig aufgetriebenen Blütenbodens, Roßkopf genannt werden. Der Mann war von seiner Tätigkeit ganz hingenommen, die er auf eine ungewöhnliche Weise betrieb. Denn nicht jede Blüte fand er des Sammelns würdig; aber sobald er eine ihm zusagende entdeckt hatte, hob er sie dicht an seine Augen, hielt sie dann gegen den Himmel, und dem Sintlinger war, als rede er dann jedesmal irgend etwas in die Luft, so, als bespreche er sie, wie die Leute sagen. Der Heiligenbauer sprang über den Graben und näherte sich dem seltsamen Manne, der hin und wieder einen mißbilligenden, sichernden Blick nach dem heranwandelnden Bauern sandte, im übrigen aber ungestört in seiner wunderlichen Arbeit fortfuhr. Plötzlich, als der Sintlinger noch etwa drei, vier Schritt von ihm entfernt war, machte er Miene, in den Wald zu flüchten, raffte sich aber zusammen, ging direkt auf den Heiligenbauer zu, pflanzte sich in drohender Ängstlichkeit vor ihm auf und betrachtete ihn in einer Art idiotischer Betroffenheit lange, ohne ein Wort zu sagen.

»Was sucht Ihr denn hier?« fragte endlich der Sintlinger und sah an dem langen Alten hinauf, von den großen Füßen, die in abgeschnittenen Langschäftern steckten, über die zehnmal geflickte Zeughose, die Weste, die sich nur mit dem obersten und untersten Knopf zusammenhielt, bis in sein grau überstoppeltes Gesicht, das, aus Säckchen und tiefen Falten zusammengesetzt, durch etwas wirkte, was aussah wie eine tiefe und inbrünstige, aber zwecklose Zerstörung. Seine großen grauen Augen leuchteten noch, wenn auch wie das vergessene Licht in einem einsamen Hause, aber ruhig, unbeirrt, voll einer dringenden, wenn auch unpersönlichen Macht.

»Wo seid Ihr denn her?« fragte der Sintlinger abermals, weil er auf die erste Frage keine Antwort erhalten hatte.

Der Gefragte preßte seine Lippen nur noch fester aufeinander, hielt die Blume, die er gepflückt hatte, unbeweglich weiter in der Hand, sah dann in die Höhe, schüttelte den Kopf und ließ sie enttäuscht fallen.

»Du – Sie – Ihr –«, sagte er dann mit leiser Stimme, betrachtete den Heiligenbauer noch schärfer und brach in ein fast lautloses Gelächter aus. Darauf wandte er sich um, schwang seinen Kräutersack auf die Achsel und setzte sich, ohne etwas weiter zu sagen, nach dem Walde zu in Bewegung.

Der Sintlinger war sicher, daß er es mindestens mit einem Wirrsinnigen zu tun habe, und folgte dem Armen mit den Blicken.

Aber unvermutet kehrte der Mann zurück, und nachdem er sich wieder mit derselben drohenden Ängstlichkeit aufgepflanzt hatte, begann er: »Du – Sie – Ihr – ich weiß schon. Was habt Ihr auf meiner Wiese zu suchen? Zertrampelt das Gras und reißt die Blumen ab! – Weiß ich alles, braucht niemand erst zu sagen, denn ich habe Augen und Ohren. Gott sei Dank, und Gott dankt mir's. Denn was nutzt Gott sein Gottsein, wenn es keine rechten Menschen gibt. He. Nich wahr: Sie – Ihr – du?« Und wieder folgte das fast lautlose, spöttische Gelächter.

Da bemerkte der Sintlinger, daß der Mann eine sehr hohe Stirn und einen fast eingesägten Mund habe, und war davon auf unbegreifliche Weise betroffen.

»Seid Ihr das erstemal auf dieser Wiese?« fragte er.

Der Fremde musterte ihn mit seinen dringenden, unpersönlichen Augen, nahm das Kinn überlegend in seine Hand, schüttelte aber am Ende abweisend den Kopf und fuhr so zu reden fort, als habe ihn niemand unterbrochen.

»Ja, am Walde sind nämlich die Blumen ruhiger, stiller, meine ich, in ihre Seele hinein. Denn sie haben es nicht notwendig, hoch hinaus zu wollen, weil sie die Bäume ja immer in der Nähe haben. Und das gerade brauche ich, denn sie liegt im Schreifieber, hat Hitze wie ein Siedekessel. Ach, sie is jung, jung und dumm, und den sie möchte, der speit fast auf sie. Kennen Sie den Kinastbauer in Schmalenbach? Nicht? Auch gut. Sehn Sie, deswegen nehme ich Blumen hier vom Walde, am Abende, aus dem Schatten, von einer windstillen Wiese. Das wird über sie kommen wie eine linde, sanfte Hand.

Aber die Blumen von der Sonnenwiese draußen, die sind von der Sucht in die hohe Luft rein wie tolle und blühen deswegen so wild, als wenn Menschen etwan schrein vor Brunst. Ha, und wenn ich den Tee von dort nehm, da zerreißt es das arme, junge, dumme Ding vollends, für die er is.

Deswegen bin ich hier, versteh« Sie mich? Sie – du – Ihr! Hahahaha.«

»Wie heißt Ihr denn eigentlich?« fragte der Heiligenbauer, als das lautlose Hohngelächter verklungen war.

Der Verrückte schüttelte den Kopf und sagte: »Das tut nichts zur Sache. Oder meinst du – Ihr – Sie, wenn man seinen Namen sagt, man weiß dann, wer man is? – Gute Nacht!«

Lachend und in großen Sprüngen verschwand der Kräutersammler im Walde.

Während der Sintlinger dann nach Hause ging, schon im tieferen Eindunkeln, und über das eben Erlebte nachdachte, verschwanden alle komischen, grotesken Sonderbarkeiten dieses Mannes, ja selbst das Unschöne der leisen Stimme und das Meckern des Lachens, und er empfand die schmerzvolle, verborgene Schönheit dieses merkwürdigen Fremden, und jetzt, da er sich seiner Worte erinnerte: »Was nutzt Gott sein Gottsein, wenn es keinen rechten Menschen gibt?«, hörte er ihn sogar neben sich sprechen, doch nun mit einem tiefen, wohllautenden Baß, und er sah deutlich sein Gesicht vor sich im Dunkel und bemerkte, wie er eben mit der Hand an sein Kinn fuhr, und das in einer Gebärde, als habe da früher ein umfänglicher Vollbart gestanden.

Und als der Heiligenbauer dies sah, verband es sich sofort mit dem Gedanken an seine unbewußte Frage, ob der Fremde das erstemal auf dieser Wiese sei, und wie ein Blitz riß es durch ihn, daß am Ende dieser verrückte Kräutersammler der Faber-Rebell gewesen sei, der, an seinem Leben gestrauchelt, schnell vergreist und von wirrem Geiste umgetrieben, als verzerrter Schatten seines früheren Wesens wieder die Straßen seiner Vergangenheit geführt werde. Und während er diese über allen Bergen segelnden Kombinationen zusammenschob, mußte er zugleich über seine Einfälle lächeln, konnte jedoch nicht verhindern, daß der tiefe Baß um ihn herum immerfort redete, in ruhigem, gesammeltem Rhythmus, so wie der Wind rauscht, ob ich auf ihn höre oder nicht.

Ja, der Wohllaut dieser sonoren, sicheren Stimme war noch um ihn, auch als er schon wieder in Gang geraten war. Der Takt ihres Klanges paßte sich sogar allmählich dem Rhythmus seines Schrittes an. Und plötzlich sagte sie ganz deutlich: »Du bist in der schwarzen Mühle ...«

Und dann fuhr es in derselben Art zu reden fort: »Das Denken ohne Bewußtsein erlebt die Bewegungen des Weltalls, und das Gefühl, das sich nicht kennt, die Empfindungen Gottes.«

So sprach es genau auf den Laut, Worte, die der Faber-Rebell vor zwei Jahren in jener Nacht auf der Wiese zu ihm gesprochen hatte und die dem Sintlinger wieder abhanden gekommen waren, weil er sie nicht anders als dem ungefähren Sinn nach verstanden hatte.

Der Heiligenbauer schritt wie mit gierig horchenden Beinen, und als das Reden um ihn abriß, tauchte er wie aus einem Taumel auf und meinte, das Vorkommnis nicht anders erklären zu können, als daß der Fremde wirklich der schnell verkommene Faber-Rebell gewesen sei.

Als er zu Hause angekommen war, ging er in seine Schreibstube und suchte sich das Blatt, auf dem die Betrachtungen standen, durch die er damals die Worte Fabers widerlegt hatte. Es war die Betrachtung von dem Geläut. Sie erschien ihm jetzt unbedeutend, falsch, unecht, gemacht. Ihn faßte eine solche Erregung, daß er das Papier in der Hand zu einer Kugel knüllte und in die Ecke warf.

Nach dem Herunterkommen fand er die große Stube schon finster, den ganzen Hof totenstill. Nur um das Haus wogte gedämpft das Baumrauschen, und außerhalb, weit draußen, empfand er das unhörbare Tosen, mit dem die Sterne durch die blaue Ewigkeit ziehen.

Vielleicht, sann der Heiligenbauer, hat der Faber doch recht, und ich gehe mit meinem Menschenhelfen in die Irre, so wie er vor die Hunde gekommen ist, daß er sich um Leute gekümmert hat, die nichts von ihm wußten und wissen wollten.

Dann trat er in die Schlafstube und fand merkwürdigerweise Helene noch wach, still, mit weiten Augen, im Bett liegend. Johanna schlief schon fest.

Der Heiligenbauer beugte sich über sein Kind, und nachdem er es geküßt hatte, sagte er:

»Lenlein, bist du noch wach?«

»Ja, Vaterlein, ich bin noch wach«, antwortete die Blinde.

»Kannst du auch noch ganz genau sehen?«

Helene wartete ein wenig und sagte dann: »Ja.«

»Nun«, sprach der Heiligenbauer, »sieh einmal auf die Waldwiese hinter der Hohen Kippe.«

»Was soll ich denn da, Vaterlein?«

»Siehst du da niemand?«

»Nein, bloß Blumen und Wald.«

»Gute Nacht, Lenlein«, sagte der Heiligenbauer.

Am anderen Tage erfuhr der Sintlinger zufällig Näheres über die Person des Kräutersammlers, den er getroffen hatte. Von Zeit zu Zeit fand sich nämlich auch der ehemalige Aktuar Knöttner auf dem Heiligenhofe ein, der immer noch, wie in den Tagen seiner Gerichtswürde, mit dem blauen Aktendeckel unter dem Arm durch die Welt reiste, auf stets bedeutsam gesetzten Beinen, als steuere er überall geradeswegs auf die breite Freitreppe eines Rathauses zu. Und doch spulte er seit etwa fünfzehn Jahren in einem Schock Dörfer nur den Zwirn von Feindschaften auf, förderte Verdächtigungen und fahndete überall nach widrigen Geschichten, um mit seiner Rechtshilfe die Verwirrung zu vergrößern.

Von diesem schier allwissenden Bösling erfuhr der Heiligenbauer, daß der seltsame Kräutersammler der Teejörge mit dem eigentlichen Namen Georg Hunatay aus Schmalenbach gewesen sei, ehemals ein reicher, selten kluger Bauerssohn, der sogar mit seinem Kopfe den Weg tief ins Lateinische hinein gefunden habe. Sein einziger Fehler, ein zu zartes, scheues Gemüt, ein Herz, empfindlich wie ein schalenloses Ei, sei sein Unglück geworden. Das gehe ja auf dieser Welt leider Gottes immer so zu. Denn als er sich nach langem Bangen und Wählen verliebte, und das gleich wie ein Lamm in den Mond, sei ihm sein Bräutchen von einem kecken Draufgänger mit wilden Worten richtig trunken und endlich abspenstig gemacht worden. Ehe sie aus ihrer Betäubung erwachen konnte, war sie schon das Weib dieses wüsten Ausbundes, eines wahrhaftigen Rasselbauern. Der Jörg wurde so mager, daß ihm fast die Kleider vom Leibe fielen, und seine Augen krochen so tief in den Kopf, als wollten sie sich dort vergraben. Und doch hörten die Auseinandergerissenen nicht auf, sich in der alten entrückten Art zu lieben. Dann, als durch des Mannes Verschwendung das Elend der Ungetreuen immer offenbarer geworden, sei der betrogene Jörg sogar als Knecht auf den Hof seines Rivalen gezogen, um die Wirtschaft vor dem völligen Ruin und die Bäuerin vor den Mißhandlungen ihres Mannes zu bewahren. So habe er wohl an die zwanzig Jahre gedient, von einer Hoffnung erfüllt, über die er zu niemand, nicht einmal mit den Augen gesprochen habe. Der plötzliche Ludertod des Bauers führte ihn endlich aus diesem finstern Winkel und brachte einen furchtsamen Schimmer in sein Leben, denn nun war doch der Weg zu seinen alten Hoffnungen frei. Aber kaum, daß er die ersten Schritte auf die Geliebte zu getan hatte, wurde die gealterte Bäuerin ihm abermals von einem heißen Strudel entrissen. Diesmal verfing sie sich gar in den Netzen ihres jüngsten Knechtes. Damit wurde wie mit einem Hammerschlage dem armen Jörg für immer der Kopf in die Nacht eines weltabgewandten, spukhaften Tiefsinns genagelt.

Er verschwand in dem Auszugsstübchen seiner Väterei, als zöge er sich bei lebendigem Leibe in seinen Sarg zurück, und grübele seitdem über Büchern, die er niemand sehen lasse.

Nur von Zeit zu Zeit gerate er in die Unruhe eines monatelangen Umherirrens, das aber keinem Menschen beschwerlich werde. Dann sammele er auf geheimnisvolle Weise Tee, und, sonderbar, immer für Menschen, die zur Zeit noch gesund und frisch umhergehen. Ob es wahr sei, wisse er ja nicht, aber die Leute behaupten, daß alle kurze Zeit danach stürben, auf die der Teejörg mit seinem hexenhaften Heilbestreben ziele, und es errege darum jedesmal ein Grausen, wenn er seine Stube zu einer neuen Streife verlasse, weil dann niemand sicher wisse, ob es diesmal nicht seinen Tod bedeute.

Dies war die Erzählung des Aktuars Knöttner, und als er beschenkt davongegangen war, saß der Heiligenbauer lange in tiefes Sinnen versunken und sah von Zeit zu Zeit achtsam auf die Stelle, wo der Erzähler gesessen hatte. Dann ging er in seine Schreibstube und suchte nach der zerknüllten, weggeworfenen Betrachtung. Er fand die Papierkugel noch in derselben Ecke liegen, wohin er sie am Abend des gestrigen Tages geschleudert hatte, hob sie auf, glättete das Blatt sorgfältig und schrieb nach einigem Überlegen folgenden Nachsatz hinzu: »Für einen Menschen, der auf dem rechten Wege ist, haben auch Irrtümer ihren tiefen Sinn. Es sind Bekannte, die mit fremden Gesichtern an einem vorbeigehen.«

Seit diesem Vorkommnis verloren sich die volksbeglückerischen Pläne ganz aus dem Leben des Heiligenbauers.


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