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So erfuhr in kurzer Zeit jedes Haus von Hemsterhus Umgegend durch die ergreifenden Lieder der Schwerdtner-Josefa etwas von dem Begegnis, das sie mit dem Sintlingerlenlein gehabt hatte. Die Bewohner des Heiligenhofes, besonders der Bauer und seine Frau, sahen andere Folgen dieser Unterredung aus ihrem Kinde herauswachsen. Helene war plötzlich von einem unhörbaren Ruck aus der lauten Meixnerschen Derbheit wieder in die pflanzenstille, sanfte Verwunschenheit zurückgedreht worden und ging wie früher in heiterer Verlorenheit mit der alten Trine die alten Wege. Begegnete sie dem Gottlieb, so krümmte sich wohl ihre Lippe zu einem Lächeln, und sie antwortete auch seinen gespaßigen Zurufen und Neckereien, allein nie mehr flog sie wie sonst dem Burschen mit einem Jauchzer in die Arme, und wenn er sie fragte, ob ihr nicht bald wieder ein schönes Liedlein gefällig sei, schüttelte das blinde Kind heftig den Kopf und sagte: »Nein, nie mehr, nie, nie mehr mag ich deine Harmonika hören.«
Anfangs lachte der Gottlieb zwar zu der Weigerung des Lenleins und ging, wenn er eine Weile neckend an ihr herumgequält hatte, mit dem Ausruf bäuerlicher Überlegenheit davon: »Wer nicht will, der hat schon.«
Nach ein paar Tagen aber, als Meixner sah, daß Helene nicht bloß aus spaßhafter Hartnäckigkeit von seinem Spiel nichts mehr wissen wollte, sondern jedesmal wirklich wie schmerzhaft zusammenfuhr und eiligst davonlief, wenn er ihr mit seiner Harmonikakunst zu nahe kam, beschloß er, an die dummen Schrullen des Kindes nicht mehr zu denken und sich wieder in einsamem Selbstgefallen wie in Querhoven daheim mit seinem Instrument allein zu vergnügen. Er machte sich also im Abenddämmern an den fernen Waldrand davon, zwischen abgelegene Felderbreiten oder in den Buchengrund, und nachdem die Harmonika fast gegen seinen Willen ein paarmal wie in Sehnsucht laut aufgeschrien hatte, war er bemüht, ihre Stimmen in ein verträumtes Quirilieren, in ein himmlisches Trödeln zu lenken, das er so liebte. Allein, es gelang ihm nicht; kaum daß er einige bunte Verwandlungen aus dem Kästchen gesogen hatte, so verfiel er unversehens in das Polterwerk abgegriffener Tanzstücke und kam erst daraus hervor, wenn er, wie in einem leeren Branntweintaumel alle Wirtshaushopser, die er kannte, heruntergerasselt hatte. Dann ging er mißmutig nach Hause, lag lange wach im Bett und spuckte immerfort verächtlich aus. Es war, als sei dem Burschen irgendwas aus dem Kopf oder der Brust gestohlen worden.
Nichts, aber auch gar nichts von dem bunten, raumlosen Verschieben stieg aus seinem Instrumente und trug ihn in jenes Ungewisse, das einfachen Herzen als höchstes Glück erscheint. Er mochte tun, was er wollte, sich in die einsame, grüne Finsternis des Waldes setzen; im hohen Grase ein Lager suchen, daß er durch den Schleier herübergebogener Halme den Himmel mit seinem weißen Wolkenspiegel fremd, entrückt, doppelt geheimnisvoll sah; sich mitten unter dem Gesinde mit Schweigsamkeit kasteien oder mit tausend Purzelbäumen schnackischer Einfälle sich peitschen: seine Harmonika blieb ein Prasselkasten. – Wenn er sie nur anrührte, polterte sie los wie ein Bretterwagen. Er hielt sie auf dem Rücken liegend über sich, damit das Spiel der leichten Sonnenluft sie zum Wohllaut sänftige, er preßte sie zwischen die gespreizten Beine, hob sie in Brusthöhe, erschreckte sie mit unerwarteten Pressungen, wie man eingeschlafene Gliedmaßen wieder zurechtstampft: keine Peinigungen nutzten, jede Überrumpelung prallte ab, alle Zärtlichkeit war umsonst. Das Instrument wieherte wie ein Trunkener oder plärrte endlos wie ein geschwätziger Narr. Dazu wurden ihm nach und nach die gewohntesten Handgriffe fremd, und manche verloren sich gar von ihm. Sein Fleiß machte ihm Mühe, und seine Arbeit wehrte sich gegen ihn wie ein störrisches Pferd. Sein großes hügeliges Gesicht magerte ab und wurde sandgelb, seine kleinen schwarzen Augen standen keinen Augenblick in den geräumigen Höhlen still, und oft flackerten sie aus der Tiefe auf, als wollten sie aus dem Kopfe springen.
So regierte es den Gottlieb das ganze Frühjahr, und das Sintlingerlenlein wurde indes immer weiter von ihm entfernt, und es war, als rieche es gar seinen Schatten schon von weitem.
Endlich hielt es der Bursche nicht mehr aus. Beim Heuaufladen gegen Sommers Anfang kam es über ihn. Der Großknecht stand auf dem Fuder und lud. Gottlieb reichte das von den Mägden zusammengeschobene Heu mit der Gabel hinauf.
Da er eben drauf und dran war, einen mit der Gabel sorgfältig zusammengestochenen Wocken Heu über die Wagenleitern hinaufzulangen, fiel das wilde Gemütslodern der Querhovener unbezwingbar in die Zündmasse seines Innern. Es fiel so plötzlich über den Knecht her, daß er wie von einer Starre erfaßt den riesigen Heubuschen auf der langen Gabel gerade über sich hielt und mit verfärbtem Gesicht gerade in den Himmel glotzte.
»Na los, da lang's schon endlich rüber«, rief ihm der Großknecht auf dem Fuder zu und versuchte das Heu auf der Gabel herüberzureißen. Aber Meixner traf keine Anstalt, es ihm hinzuneigen. Er stand breitbeinig, von der Last, die er hielt, zusammengestoßen, am ganzen Leibe zitternd, die Arme schlotternd, das Gesicht verzerrt und war wie geistesabwesend.
»Verflucht, dich fickt's wohl. Gottlieb, he!« schrie jetzt der Großknecht aus voller Lunge.
Da fuhren die Augen Meixners wie von einem Pfriem gestochen in die Höhlen zurück, die Starre wich von ihm, mit einem Fluch schmetterte er den Heubuschen zur Erde, riß die Gabel heraus und begann wie toll damit auf das schuldlose Heu einzuschlagen, als sei es ein lang gehaßter Feind. Dabei schrie er knirschend: »Jawohl, alle is – ich werd's euch beweisen – bin ich denn ein – ein – ein...? Und das heute noch– jetze –gleich–« An seinem Losbruch war er immer stiller geworden. Die letzten Worte sagte er leise, ruhig, nüchtern und schaute dabei dem Gesinde, Magd und Knecht, die nichts anderes dachten, als der Harmonika-Meixner sei auf einmal verrückt geworden, ins Gesicht, ließ endlich den Stiel der Gabel fallen und setzte sich langsam nach dem Heiligenhofe zu in Bewegung, ohne mehr ein Wort zu sprechen. Man schrie ihm nach, aber er schüttelte bloß den Kopf und ging, ohne sich umzuwenden, weiter.
Der Zufall wollte es, daß er das Lenlein vor dem Feldausgange des Blumengartens sitzen sah. Nach einem kurzen, überraschten Stutzen und einigen instinktiven Schritten nach dem Kinde hin blieb er einen Augenblick wie angewurzelt stehen, prüfte, ob ihn das Kind gewahr geworden sei, und lief dann mit langen, geräuschlosen Sprüngen in den Hof, verschwand in die Siedekammer und war im nächsten Moment mit der Harmonika unter dem Arm zum Hinterpförtchen hinaus im Blumengarten.
Die Blinde spielte noch immer; sie hielt ein Sommerkäferlein in der Hand, kostete von Zeit zu Zeit mit den Fingerspitzen den Körper und die zierlichen Bewegungen des Tierchens, sprach mit ihm und verfiel dann in ein abgründiges, seliges Vertauschtsein ihres Gemüts.
Da hörte sie Gottliebs Schritt den Blumengarten her auf sie zukommen. Sie fühlte, daß er auf bebenden Füßen ging. Ein heißes Rauschen drang aus seinem Leibe, den sie ganz dünn auseinander gezogen wahrnahm, und oben darauf schwankte sein Gesicht, flach und in vielen Buckeln unerträglich gespannt. Indem er behutsam näher kam, spürte sie, wie der Ausdruck seines Gesichtes sich mehr und mehr des ihrigen als ein schmerzhafter Griff bemächtigte. Nun war er bei ihr und ließ sich neben ihr nieder. Das Mädchen bebte in atembeklemmter Furcht:
»Warum packst du mich ins Gesicht, Gottlieb?« fragte sie stammelnd.
»Liebes Lenlein, laß mich vor dir spielen!« bettelte Meixner demütig. »Nur ein einziges Mal noch! Ich kann sonst nicht mehr arbeiten.«
Das Kind hatte vor Angst die Augen geschlossen und rührte sich nicht, als schlafe es. Da begann Gottlieb aufs neue und noch dringender zu bitten: »Liebes Lenlein, mach um Gottes willen bloß die Augen auf und sieh mich an. Du! Dann will ich spielen, wie das Wasser fließt, oder so wie der Vogel singt – weißt du, daß du wieder tanzen kannst, du ...«
Plötzlich war es dem Mädchen, als lege sich der Knecht wie ein Alb auf sie, und mit gellender Stimme schrie sie:
»Nein ...! Nein! Hilfe! Nein! Nein ...«
Der Meixner fuhr zurück, und die Harmonika fiel ihm aus den Händen.
Als er aufsah, stand der Heiligenbauer vor ihm; dessen Gesicht war blaß, und der Knecht sah, daß er die Lippen bewegte, aber in seiner Betroffenheit hörte er kein Wort. Der Sintlinger hob das zitternde Kind auf seine Arme und trug es in den Hof.
Dort wurde es sogleich ins Bett gebracht, weil es danach verlangte. Sein Leib glühte wie im Fieber. Es lag mit großen Augen ganz still und fragte ein übers andere Mal leise, daß es kaum zu verstehen war: »Ist der Gottlieb noch da?« Mit wenigen Worten unterrichtete der Sintlinger sein Weib von dem Vorfall und machte sich dann sofort auf, um von dem Meixner zu erfahren, was es eigentlich gegeben habe.
Als er vor das Blumengärtchen hinauskam, saß der Knecht noch an derselben Stelle, aber jetzt vornübergebeugt, auf die Fäuste gestützt, und stierte unverwandt auf sein Instrument.
Auf des Sintlingers Fragen, was das heißen solle, daß er nicht bei der Arbeit bleibe, sich heranschleiche und hier das Kind erschrecke, rührte er sich noch immer nicht, ließ sogar den Kopf verstockt noch tiefer sinken und schluckte ein paarmal drucksend. Er solle doch wenigstens »Ah« oder »Bah« sagen, ermahnte ihn der Heiligenbauer gütig und berührte seine Schulter.
Da schoß Meixner unvermutet auf und stand im Augenblick dem Sintlinger wie ein weiß glühender Feuerbrand gegenüber. Ja, er wisse schon, daß ihn niemand mehr leiden könne auf dem Hofe, der Bauer sehe ihn nicht mehr an, die Bäuerin drücke sich vor ihm, das Gesinde kehre mit Stallbesen allen Dreck hinter ihm drein, und das Lenlein hätten sie auch verhext, daß es vor ihm wie vor einem Räuber laufe. Das alles stieß er wirr untereinander umher. Sein ganzes Gesicht zuckte, und Tränen liefen ihm über die Backen. »Ach so«, sagte der Heiligenbauer darauf, »hm, hm, was du dir da zusammengebraut hast, ist Narretei. Ich weiß jetzt. Das beste und einzige wird eben sein, du läßt das Harmonikaspielen hier im Hofe überhaupt.«
Und wo solle er denn sonst spielen, fragte der Bursche höhnisch.
»Wo du sonst willst«, antwortete der Sintlinger.
»Etwa im Felde? he? – was? – oder im Walde?« fragte der Knecht aus gespannter Brust heraus, als erwürge er.
»Das mache, wie du magst«, erwiderte der Heiligenbauer nun sehr ernst wegen der ungezähmten Wildheit des Burschen, »nur während der Arbeit und vor dem Kinde nicht mehr.«
»So ist's am besten, ich spiele so damit«, schrie der Knecht plötzlich unnatürlich gequält auf, als zerriß es ihm die Brust, bückte sich dann, hob die Harmonika auf, aber nur, um sie von neuem zu Boden zu schleudern, daß sie auseinander barst, und trat noch den Unglückskasten mit den Füßen kurz und klein.
Dazu schnob er, mehr als er sprach, in Wut und Verzweiflung, in Schmerz und Haß fortwährend nur das eine Wort: »So ... so ... so ... so ...«, bis nur noch kleine Splitter den Boden bedeckten.
»Ja freilich«, antwortete der Heiligenbauer kühl, als der Knecht die Vernichtung seines Instruments beendet hatte und blaß und bebend dastand, »das ist allerdings das beste für mich und dich, und hier ist dein Lohn für die Arbeit an deiner Harmonika und für deinen Dienst auf dem Hofe. Denn daß du damit Neujahr gemacht hast, siehst du wohl selber ein.« Damit warf der Heiligenbauer zehn Mark in zwei Fünfmarkstücken zu den Trümmern und kehrte ruhig in den Hof zurück.