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Das Lateinexamen.

Bis zum Lateinexamen ging alles vortrefflich. Der Gymnasiast mit der Binde war der Erste, Ssemenow der Zweite, ich der Dritte. Ich fing sogar schon an, stolz zu werden und ganz im Ernst zu glauben, daß ich trotz meiner Jugend ein tüchtiger Kerl sei.

Schon vom ersten Examentage an hatten alle mit Zittern vom Lateinprofessor erzählt, der gradezu ein reißendes Tier sei und Genuß finde an dem Verderben junger Leute, besonders solcher, die auf eigene Kosten studierten, und daß er angeblich nur lateinisch oder griechisch spreche. St. Jérôme, der mein Lateinlehrer gewesen war, suchte mir Mut einzuflößen, und auch mir selbst schien es, daß ich nicht schlechter vorbereitet sei als die andern, da ich Cicero und einige Oden von Horaz ohne Wörterbuch übersetzen konnte und den Zumpt vortrefflich kannte; aber es kam anders. Den ganzen Vormittag hörte man von nichts anderem, als von dem Unglück derer, die vor mir an die Reihe gekommen waren: dem einen hatte der Professor eine Null gegeben, dem andern eine Eins, den dritten hatte er gescholten und ihm gedroht, ihn hinauszujagen und so weiter. Nur Ssemjonow und der erste Gymnasiast gingen ruhig wie immer vor und kamen jeder mit einer Fünf zurück. Mir ahnte schon Unglück, als ich gleichzeitig mit Ikonin an das Tischchen gerufen wurde, an welchem der gefürchtete Professor ganz allein saß; dieser gefürchtete Professor war ein kleiner, magerer Mensch, von gelblicher Gesichtsfarbe, mit langen, öligen Haaren und einem sehr nachdenklichen Gesichtsausdrucke.

Er reichte Ikonin einen Band der Reden Ciceros und forderte ihn auf, zu übersetzen.

Zu meinem großen Erstaunen las Ikonin nicht bloß, sondern übersetzte auch einige Zeilen mit Hilfe des Professors, der ihm einzelne Worte vorsprach. Da ich meine Überlegenheit über einen so schwachen Nebenbuhler fühlte, konnte ich ein Lächeln, und sogar ein etwas verächtliches Lächeln, nicht unterdrücken, als es zur Analyse kam und Ikonin nach früherer Art in ein augenscheinlich endloses Schweigen verfiel. Mit diesem klugen, ein wenig spöttischen Lächeln wollte ich dem Professor gefallen, aber grade das Gegenteil geschah.

»Sie wissen es wahrscheinlich besser, weil Sie lächeln?« sagte der Professor zu mir in schlechtem Russisch, »nun, wir wollen ja sehen, sagen Sie es.«

Später erfuhr ich, daß der Lateinprofessor Ikonin protegierte und daß Ikonin sogar bei ihm wohnte. Ich beantwortete sofort die Frage aus der Syntax, die Ikonin gestellt worden war, doch der Professor machte ein betrübtes Gesicht und wandte sich von mir ab.

»Gut, auch Sie werden an die Reihe kommen, dann werden wir ja sehen, was Sie wissen,« sprach er, ohne mich anzublicken, und begann Ikonin zu erklären, was er ihn gefragt hatte.

»Gehen Sie,« schloß er, und ich sah, daß er im Zensurbuch Ikonin eine Vier stellte. »Na,« dachte ich, »er ist ja gar nicht so streng, wie sie behaupten.« Nachdem Ikonin fortgegangen war, beschäftigte sich der Professor wohl fünf Minuten lang, die mir wie fünf Stunden erschienen, mit dem Fortlegen der Bücher, der Fragezettel, dem Zurechtrücken des Sessels, auf dem er sich drehte und reckte, dann schneuzte er sich, blickte sich im Saale um, schaute überall hin, nur nicht auf mich. Doch das alles erschien ihm noch nicht genügend; er schlug ein Buch auf und stellte sich, als ob er lese, so als wäre ich überhaupt nicht da. Ich trat ein wenig näher heran und räusperte mich.

»Ach ja, Sie sind auch noch da! Nun übersetzen Sie mal irgend etwas,« sprach er, indem er mir ein Buch reichte, »oder nein, lieber dieses hier.« Er blätterte in dem Bande Horaz und schlug eine Stelle auf, die, wie mir schien, niemals und von niemand übersetzt werden konnte.

»Dies hier habe ich nicht vorbereitet,« sagte ich.

»Sie möchten wohl das beantworten, was Sie auswendig gelernt haben? Sehr gut! Nein, übersetzen Sie nur dieses hier.«

Ich bemühte mich, so gut es ging, den Sinn zu erraten, aber der Professor schüttelte bei jedem meiner fragenden Blicke den Kopf und antwortete seufzend nur: »Nein.« Endlich schlug er das Buch mit so nervöser Eile zu, daß sein Finger zwischen den Blättern eingeklemmt wurde; er zog ihn ärgerlich heraus, gab mir einen Fragezettel aus der Grammatik, warf sich in den Sessel zurück und verfiel in unheildrohendes Schweigen. Ich begann zu antworten, aber der Ausdruck seines Gesichtes lähmte meine Zunge, und alles, was ich sagte, erschien mir falsch.

»Falsch, falsch, ganz falsch!« sagte er plötzlich mit seiner häßlichen Aussprache, indem er schnell die Stellung veränderte, sich mit dem Ellbogen auf den Tisch stützte und mit dem goldenen Ringe spielte, der lose an dem mageren Finger seiner linken Hand saß. »Meine Herrschaften, so bereitet man sich nicht für eine höhere Lehranstalt vor; Sie möchten immer nur die Uniform mit dem blauen Kragen haben. Sie schnappen etwas auf und bilden sich ein, daß Sie Studenten sein können; nein, meine Herrschaften, man muß einen Gegenstand gründlich studieren!« und so weiter.

Während dieser ganzen Rede, die er radebrechend hersagte, blickte ich mit stumpfer Aufmerksamkeit auf seine zu Boden gesenkten Augen. Zuerst quälte mich die Enttäuschung, daß ich nicht mehr der Dritte sein sollte, dann die Furcht, daß ich das Examen überhaupt nicht bestehen würde, und schließlich gesellte sich zu diesem Gefühle das Bewußtsein der Ungerechtigkeit, der gekränkten Eitelkeit und der unverdienten Demütigung; überdies stachelte die Verachtung gegen den Professor, weil er nach meinen Begriffen nicht zu den Menschen comme il faut zählte, – was ich entdeckte, als ich seine kurzen, starken und runden Fingernägel betrachtete, – mich noch mehr auf und vergiftete alle diese Gefühle. Als er mich anblickte und meine zitternden Lippen und tränenfeuchten Augen bemerkte, hielt er wahrscheinlich meine Aufregung für die Bitte, mir eine bessere Note zu geben, und sich gleichsam meiner erbarmend, sprach er (und das noch vor einem anderen Professor, der gerade herzutrat):

»Gut, ich will Ihnen eine genügende Note geben (das hieß also eine Zwei), obgleich Sie sie nicht verdienen, und zwar nur in Anbetracht Ihrer Jugend und in der Hoffnung, daß Sie an der Universität nicht mehr so leichtsinnig sein werden.«

Der letzte Satz, in Gegenwart des fremden Professors gesprochen, der mich ansah, als wenn er ebenfalls sagen wollte: »Ja sehen Sie, junger Mann!« verwirrte mich vollständig. Es kam ein Augenblick, wo es mir vor den Augen dunkelte: es schien mir, als ob der schreckliche Professor mit seinem Tisch irgendwo in weiter Ferne säße, und mit entsetzlicher Klarheit kam mir der ungeheuerliche Gedanke: »Wie nun, wenn ...? Was wäre dann?« Aber ich tat es doch nicht, sondern im Gegenteil, ich verbeugte mich unwillkürlich besonders ehrerbietig vor den beiden Professoren und schritt mit einem leichten Lächeln, ich glaube mit demselben Lächeln, das Ikonin zu zeigen pflegte, vom Tische fort.

Die Ungerechtigkeit wirkte damals in so hohem Grade auf mich, daß ich, wäre ich in meinen Handlungen frei gewesen, nicht weiter zum Examen gegangen wäre. Ich verlor allen Ehrgeiz (es war gar nicht mehr daran zu denken, daß ich der Dritte sein könnte) und ließ die übrigen Prüfungen ohne jede Aufregung und ohne jede Anstrengung meinerseits an mir vorübergehen. Meine Durchschnittsnummer war trotzdem über Vier, aber das interessierte mich gar nicht mehr; ich war mit mir einig und bewies es mir sehr klar, daß es äußerst töricht und sogar mauvais genre wäre, der Erste sein zu wollen, und daß man sich nur bemühen müsse, so wie Wolodja, weder zu schlecht noch zu gut zu stehen. Ich beschloß, mich auch in Zukunft an der Universität daran zu halten, obgleich ich in diesem Falle zum ersten Male anderer Meinung war als mein Freund.

Ich dachte nur noch an die Uniform, an den Dreimaster, an die eigene Droschke, das eigene Zimmer und vor allem an die eigene Freiheit.


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