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Als ich am folgenden Morgen erwachte, galt mein erster Gedanke meinem Erlebnis mit Kolpikow; ich brüllte gradezu, rannte im Zimmer hin und her, aber die Sache ließ sich nicht ändern; überdies war heute der letzte Tag, den ich in Moskau zubrachte, und ich mußte auf Papas Befehl Visiten machen; er selbst hatte sie mir auf einem Zettel aufgeschrieben. Papas Sorgfalt für uns galt weniger unserer Gesittung und Bildung, als unseren gesellschaftlichen Beziehungen. Auf dem Zettel stand in seiner eckigen, flüchtigen Schrift: 1. zum Fürsten Iwan Iwanowitsch unbedingt; 2. zu Iwins unbedingt; 3. zum Fürsten Michael; 4. zur Fürstin Nechljudow und zu Frau Walachin, wenn die Zeit reicht; und selbstverständlich zum Kurator, zum Rektor und zu den Professoren.
Von den letzteren Besuchen riet Dmitrij mir ab, da er meinte, sie wären nicht nur unnütz, sondern sogar ungeziemend; die übrigen aber mußte ich alle heute noch abmachen. Besonders bangte mir vor den ersten beiden Visiten, neben denen das »unbedingt« stand. Fürst Iwan Iwanowitsch war General en chef, alt, reich und alleinstehend; wenn Papa also wünschte, daß ich ihn besuchte, so mußte es zwischen dem alten Herrn und mir irgend welche direkte Beziehungen geben, welche – wie mir ahnte – für mich nicht besonders schmeichelhaft sein konnten. Auch die Iwins waren reiche Leute, und der Vater war irgend ein hoher Zivilbeamter mit Generalsrang, der nur ein einziges Mal, noch zu Großmamas Lebzeiten, bei uns gewesen war. Nach Großmamas Tode aber hatte ich bemerkt, daß der jüngste Iwin uns aus dem Wege ging und eine gewisse Wichtigtuerei an den Tag legte. Der älteste hatte, wie ich vom Hörensagen wußte, seine juristischen Studien bereits beendet und eine Anstellung in Petersburg gefunden; der zweite, Sserjoscha, für den ich einst geschwärmt hatte, war ebenfalls in Petersburg, und zwar als großer und dicker Kadett im Pagenkorps.
In meiner Jugend war mir der Verkehr mit Menschen, die sich für mehr hielten als ich, nicht nur unangenehm, sondern sogar unerträglich qualvoll, da ich beständig fürchtete, beleidigt zu werden, und alle meine geistigen Kräfte anstrengte, um meine Selbständigkeit zu beweisen. Allein wenn ich schon Papas Befehle in Betreff der letzten Besuche nicht ausführte, so mußte ich meine Schuld durch Gehorsam in Bezug auf die ersten gut machen. Ich ging im Zimmer auf und ab, betrachtete die auf Stühlen umherliegenden Kleidungsstücke, den Degen und den Hut, und wollte mich eben zum Aufbruch rüsten, als der alte Grapp und Ilinka erschienen, um mir zu gratulieren. Grapp senior war ein russifizierter Deutscher, unerträglich süßlich, schmeichlerisch und sehr häufig angeheitert; er pflegte hauptsächlich dann zu uns zu kommen, wenn er um etwas bitten wollte, und Papa empfing ihn zwar zuweilen in seinem Arbeitszimmer, lud ihn aber niemals ein, mit uns zu speisen. Sein demütiges, bettelhaftes Wesen war mit einer gewissen äußeren Gutmütigkeit und der Gewöhnung an unser Haus so verschmolzen, daß man ihm seine angebliche Anhänglichkeit an uns alle hoch anrechnete, aber ich mochte ihn nicht, ich weiß nicht warum, und wenn er sprach, schämte ich mich immer für ihn.
Das Erscheinen dieser Gäste verstimmte mich sehr, und ich gab mir keine Mühe, meine Unzufriedenheit zu verbergen. Ich war so gewöhnt, auf Ilinka von oben herabzusehen, und er war so gewöhnt, uns das Recht dazu einzuräumen, daß es mir einigermaßen unangenehm war, ihn nun als ebensolchen Studenten zu sehen, wie ich selbst einer war. Es schien mir, daß auch er sich wegen dieser Gleichstellung mit mir ein wenig genierte. Ich begrüßte sie kühl, bot ihnen keinen Platz an, denn ich schämte mich, das zu tun, da ich dachte, daß sie sich auch ohne meine Aufforderung setzen konnten, und befahl, meinen Wagen anzuspannen. Ilinka war ein guter, sehr ehrenhafter und durchaus nicht dummer junger Mann, aber er hatte seine Launen; alle Augenblicke und, wie es schien, ohne jeden Grund, überfiel ihn irgend eine extreme Gemütsstimmung: bald Weinerlichkeit, bald Lachlust, bald Empfindlichkeit gegen das Allergeringste; in dieser letzten Stimmung schien er sich heute zu befinden. Er sprach nichts, warf böse Blicke auf mich und auf seinen Vater, und nur wenn man sich direkt an ihn wandte, lächelte er mit seinem ergebenen, gezwungenen Lächeln, hinter dem er schon gewöhnt war, alle seine Gefühle zu verbergen, vor allem das Gefühl der Scham für seinen Vater, das er in unserer Gegenwart empfinden mußte.
»Ja, ja, Nikolaj Petrowitsch,« sagte der Alte, indem er im Zimmer hinter mir herging, während ich mich anzog; dabei drehte er ehrerbietig langsam zwischen seinen dicken Fingern die silberne, ihm einst von Großmama geschenkte Tabaksdose; »sobald ich durch meinen Sohn erfuhr, daß Sie das Examen so glänzend zu bestehen geruht haben – Ihr Geist ist ja bekannt –, eilte ich sofort her, Ihnen zu gratulieren, Väterchen; hab' ich Sie doch auf meiner Schulter umhergetragen, und Gott weiß, daß ich Sie alle liebe wie meine leiblichen Verwandten, und mein Ilinka wollte ja immer zu Ihnen. Auch er hat sich schon an Sie gewöhnt.«
Ilinka saß inzwischen am Fenster, tat als betrachte er meinen Dreimaster, und murmelte kaum hörbar etwas vor sich hin.
»Nun, Nikolaj Petrowitsch, ich wollte Sie fragen,« fuhr der Alte fort, »hat mein Iljuscha das Examen gut bestanden? Er sagt, er werde mit Ihnen zusammen studieren: bitte, lassen Sie ihn also nicht im Stich, schauen Sie ein wenig auf ihn, raten Sie ihm!«
»Er hat ja sehr gut bestanden,« antwortete ich, indem ich zu Ilinka hinübersah, der unter meinem Blick errötete und zu murmeln aufhörte.
»Und könnte er heute den Tag bei Ihnen verbringen?« fragte der Alte mit einem so zaghaften Lächeln, als hätte er große Angst vor mir, aber immer, wohin ich mich auch wandte, sich so nahe zu mir haltend, daß der Branntwein- und Tabaksgeruch, mit dem er förmlich durchtränkt war, mich auch nicht auf eine Sekunde verließ. Ich ärgerte mich, daß er mich in eine so schiefe Lage zu seinem Sohne brachte, und auch, daß er meine Aufmerksamkeit von der für mich damals sehr wichtigen Beschäftigung des Ankleidens ablenkte; vor allem aber machte der mich verfolgende Branntweingeruch mich so nervös, daß ich ihm sehr kühl antwortete, ich könnte nicht mit Ilinka zusammenbleiben. da ich den ganzen Tag außer Hause verbringen werde.
»Sie wollten doch zu Ihrer Schwester gehen, Vater,« sagte Ilinka lächelnd und ohne mich anzusehen, »und auch ich habe einiges vor.«
Ich ärgerte und schämte mich noch mehr, und um meine Absage ein wenig zu mildern, beeilte ich mich zu erzählen, daß ich nicht daheim sein werde, weil ich beim Fürsten Iwan Iwanowitsch, bei der Fürstin Kornakow, bei Iwin – bei demselben Iwin, der eine so hervorragende Stellung einnehme, – Besuche machen müsse und wahrscheinlich bei der Fürstin Nechljudow dinieren werde. Ich glaubte, wenn sie erfuhren, mit welchen vornehmen Persönlichkeiten ich verkehrte, würden sie keine Ansprüche mehr an mich stellen. Als sie aufbrachen, lud ich Ilinka ein, mich ein andermal zu besuchen, aber er brummte nur wieder etwas vor sich hin und lächelte gezwungen. Man merkte es ihm an, daß sein Fuß meine Schwelle nie mehr überschreiten würde.
Gleich nach ihrem Fortgehen trat ich meine Besuchstournee an. Wolodja, den ich schon am Morgen gebeten hatte, mich zu begleiten, damit mir die Sache leichter falle, schlug meine Bitte unter dem Vorwande ab, es wäre doch allzu sentimental, wenn zwei »Brüderchen« zusammen auf einem »Wägelchen« ausführen.