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Dieses Gespräch fand statt, als wir im Phaeton nach Kunzowo fuhren. Dmitrij hatte mir abgeraten, am Vormittage einen Besuch bei seiner Mutter zu machen, und holte mich am Nachmittage ab, um mich für den ganzen Abend und sogar über Nacht in das Landhaus mitzunehmen, das von den Seinen bewohnt wurde. Erst als wir die Stadt verlassen hatten und die schmutzig-bunten Straßen und der unerträgliche, betäubende Lärm des Pflasters der freien Weite der Felder und dem leisen Knarren der Räder auf der staubigen Landstraße gewichen waren, als die duftige Frühlingsluft mich von allen Seiten umfing, und der freie Fernblick auf mich einwirkte, da erst erholte ich mich ein wenig von den vielen neuen Eindrücken und dem Bewußtsein meiner Freiheit, die mich in diesen zwei Tagen ganz verwirrt gemacht hatten. Dmitrij war in mitteilsamer und sanfter Stimmung, rückte nicht mit dem Kopfe seine Halsbinde zurecht, blinzelte nicht nervös und kniff die Augen nicht zu; ich war befriedigt von den edlen Gefühlen, denen ich ihm gegenüber Ausdruck gegeben hatte, und nahm an, er werde mir dafür die beschämende Affäre mit Kolpikow völlig verzeihen und mich ihretwegen nicht verachten, und wir plauderten freundschaftlich über allerhand Vertrauliches, das man einander für gewöhnlich nicht mitteilt. Dmitrij erzählte mir von den Seinen, die ich noch nicht kannte, von seiner Mutter, seiner Schwester und seiner Tante, und von der, die von Wolodja und Dubkow für die »Flamme« meines Freundes gehalten und »die Rothaarige« genannt wurde. Von der Mutter sprach er mit einem gewissermaßen kalten und feierlichen Lobe, als wollte er jedem Widerspruch zuvorkommen, und von der Tante mit Entzücken, aber zugleich mit einer gewissen Herablassung, von der Schwester sehr wenig und als schämte er sich, mir von ihr zu erzählen; von der »Rothaarigen« aber, die eigentlich Ljubow Ssergejewna hieß und ein alterndes Mädchen war, das irgend welcher Familienbeziehungen halber im Hause der Nechljudows lebte, sprach er mit Begeisterung.
»Ja, sie ist ein bewundernswertes Mädchen,« sagte er, schamhaft errötend, aber mit um so größerer Kühnheit mir in die Augen blickend; »sie ist ja kein junges Mädel mehr, eher sogar alt, und auch gar nicht hübsch, aber ist es denn nicht eine Torheit, ein Unsinn, eine Schönheit zu lieben? Das ist so dumm, daß ich es gar nicht begreifen kann (er sagte das so, als habe er eben erst eine völlig neue und ungewöhnliche Wahrheit entdeckt), und mit einem solchen Herzen, einer solchen Seele, solchen Grundsätzen –, ich bin überzeugt, man findet in der heutigen Welt keine Zweite mehr wie sie!« (Ich weiß nicht, von wem Dmitrij die Gewohnheit angenommen hatte zu behaupten, daß alles Gute heutzutage in der Welt selten zu finden sei; er liebte es, diesen Ausspruch zu wiederholen, der in gewissem Sinne auch zu seinem Wesen paßte.)
»Ich fürchte nur,« fuhr er ruhig fort, nachdem er die Menschen, die so dumm waren, eine Schönheit zu lieben, durch sein Urteil vollständig vernichtet hatte, »ich fürchte, du wirst sie nicht gleich verstehen und erkennen: sie ist bescheiden, ja sogar verschlossen, und liebt es nicht, ihre herrlichen, bewundernswerten Eigenschaften zu zeigen. Meine Mutter zum Beispiel, die eine prächtige, gescheite Frau ist, wie du sehen wirst, kennt Ljubow Ssergejewna schon seit mehreren Jahren, aber sie kann und will sie nicht verstehen. Gestern erst – – – ich will dir sagen, warum ich verstimmt war. Vorgestern hatte Ljubow Ssergejewna gewünscht, daß ich mit ihr zu Iwan Jakowlewitsch fahre, – du hast gewiß von Iwan Jakowlewitsch gehört, von dem es heißt, er sei verrückt, der aber in Wirklichkeit ein bedeutender Mann ist. Ljubow Ssergejewna ist sehr religiös, mußt du wissen, und versteht Iwan Jakowlewitsch vollständig. Sie ist eine bewundernswerte Frau, du wirst's ja sehen. Nun, ich fuhr also mit ihr zu Iwan Jakowlewitsch und bin ihr sehr dankbar, daß ich diesen vortrefflichen Mann kennen lernen konnte. Mama aber will das durchaus nicht verstehen und sieht darin nur Aberglauben. Und gestern hatte ich mit Mama zum erstenmal in meinem Leben einen Streit, und zwar einen recht heftigen,« schloß er, indem er eine krampfhafte Halsbewegung machte, als erinnere er sich des Gefühles, das er bei diesem Streit empfunden hatte.
»Nun, und was denkst du? das heißt, wenn du dir vorstellst, was werden soll? Sprichst du mit ihr, was werden soll und womit eure Liebe oder eure Freundschaft enden soll?« fragte ich in der Absicht, ihn von der unangenehmen Erinnerung abzulenken.
»Du meinst, ob ich sie zu heiraten gedenke?« fragte er zurück, wobei er wieder errötete, sich aber kühn mir zuwandte und mir ins Gesicht blickte.
»Nun, in der Tat,« dachte ich, mich selbst beruhigend, »wir können ja darüber reden, wir sind erwachsen, sind zwei Freunde, fahren im Phaeton und stellen Betrachtungen über unsere Zukunft an. Jedermann hätte ein Vergnügen daran, uns heimlich zuzuhören und uns zu beobachten.«
»Warum nicht?« fuhr Dmitrij nach meiner bejahenden Antwort fort; »mein Ziel ist doch, wie das eines jeden vernünftigen Menschen, so glücklich und so gut zu sein wie nur möglich; und mit ihr werde ich, wenn sie nur will und wenn ich ganz unabhängig bin, mit ihr werde ich glücklicher und besser sein als mit der ersten Schönheit der Welt.«
In solche Gespräche vertieft hatten wir weder bemerkt, daß wir uns Kunzowo näherten, noch auch, daß der Himmel sich verdüstert hatte und es nach Regen aussah. Die Sonne stand schon niedrig über den alten Bäumen des Gartens von Kunzowo, und die Hälfte der glänzenden, roten Scheibe war von einer grauen, matt durchleuchteten Wetterwolke bedeckt; aus der andern Hälfte sprühten noch fein zerteilte Feuerstrahlen und beleuchteten auffallend hell die alten Bäume des Gartens, die mit ihren dichten, grünen Wipfeln sich unbeweglich von dem noch hellen, leuchtend blauen Teil des Himmelsgewölbes abhoben. Der Glanz und das Licht dieses Himmelsrandes stach grell von der schweren violetten Gewitterwolke ab, die vor uns über dem jungen Birkenwäldchen lagerte, das am Horizonte zu sehen war.
Etwas weiter nach rechts schimmerten schon hinter dem Sträuchern und Bäumen die bunten Dächer der Landhäuser, deren einige die glänzenden Sonnenstrahlen zurückwarfen, während andere den düsteren Charakter der andern Himmelsseite angenommen hatten. Links unten, dunkelte ein stiller Weiher, umgeben von blaßgrünen Silberweiden, die sich dunkel auf seiner matten, gleichsam gewölbten Fläche widerspiegelten. Hinter dem Weiher, den Hügel hinan, breitete sich das schwärzlich schimmernde Brachfeld aus, und die gerade Linie der hellgrünen Furche, die es durchschnitt, verlor sich in der Ferne und schien mit dem bleifarbenen, drohenden Horizont zusammenzuhängen. Zu beiden Seiten des weichen Weges, über den der Wagen langsam dahinschwankte, grünte der saftige, dichte Roggen, der hier und da bereits Halme zu treiben begann. Die Luft war ganz still und duftete frisch; das Grün der Bäume, der Blätter und des Roggens war unbeweglich, ungemein rein und hell. Es war, als lebte jedes Blatt, jeder Grashalm sein eigenes volles und glückliches Leben. Neben dem Wege bemerkte ich einen schwärzlichen Fußpfad, der sich zwischen dem dunkelgrünen, schon mehr als bis zur Viertelhöhe emporgeschossenen Roggen dahinwand, und dieser Pfad erinnerte mich, ich weiß nicht weshalb, äußerst lebhaft an unser Dorf und infolgedessen, dank einer seltsamen Ideenverbindung, an Ssonitschka und daran, daß ich in sie verliebt war.
Ungeachtet meiner Freundschaft zu Dmitrij und des Vergnügens, das mir seine Offenheit bereitete, wollte ich nichts mehr von seinen Gefühlen und Absichten in Bezug auf Ljubow Ssergejewna wissen, ich sehnte mich vielmehr danach, ihm von meiner Liebe zu Ssonitschka zu erzählen, die mir eine Liebe weit höherer Art zu sein schien. Aber ich konnte mich nicht entschließen, ihm offen meine Ansicht darüber auszusprechen, wie schön es sein werde, wenn ich Ssonitschka heirate und mit ihr auf dem Lande lebe, und wie ich kleine Kinder haben werde, die auf der Erde herumkriechen und mich Papa nennen, und welche Freude es mir machen wird, wenn er und seine Frau, Ljubow Ssergejewna, in Reisekleidern angefahren kommen, um uns zu besuchen, – statt alles dessen sagte ich, auf die sinkende Sonne deutend: »Dmitrij, sieh nur, welche Pracht!«
Dmitrij antwortete mir nicht; er war sichtlich verstimmt, weil ich sein Geständnis, das ihm wahrscheinlich schwer geworden war, mit einem Hinweis auf die Natur beantwortete, die ihn im allgemeinen kalt ließ. Die Natur wirkte auf ihn ganz anders als auf mich: weniger durch ihre Schönheit als durch ihre Anziehungskraft, – er liebte sie mehr mit dem Verstande als mit dem Gefühl.
»Ich bin sehr glücklich,« sagte ich ihm gleich darauf, ohne darauf zu achten, daß er offenbar mit seinen Gedanken beschäftigt war und für das, was ich ihm sagen wollte, gar kein Interesse hatte. »Weißt du, ich habe dir doch von einer jungen Dame erzählt, in die ich als Knabe verliebt war; ich hab' sie heute wiedergesehen,« fuhr ich begeistert fort, »und bin jetzt entschieden in sie verliebt.«
Und ohne mich um sein gleichgültiges Gesicht zu kümmern, erzählte ich ihm von meiner »Liebe« und meinen Träumen von künftigem Eheglück. Und seltsam: kaum hatte ich genau die ganze Kraft meines Gefühls geschildert, als ich auch schon empfand, wie dieses Gefühl schwächer wurde.
Der Regen ereilte uns, als wir schon in die zur Villa führende Birkenallee eingebogen waren. Er machte uns jedoch nicht naß. Ich merkte ihn nur daran, daß mir einige Tropfen auf Nase und Hand fielen, und daß es in den jungen und klebrigen Blättern der Birken rauschte; die dichten Zweige hingen unbeweglich nieder und nahmen – wie es schien – mit besonderer Wonne, die sie durch einen starken, die ganze Allee füllenden Duft ausdruckten, diese reinen, durchsichtigen Tropfen auf.
Wir verließen den Wagen, um durch den Garten schnell ins Haus zu eilen. An der Eingangstür stießen wir mit vier Damen zusammen, von denen zwei mit Handarbeiten versehen waren, während die dritte mit einem Buche und die vierte mit einem Hündchen auf dem Arm raschen Schrittes von der anderen Seite herbeikamen. Dmitrij stellte mich hier gleich seiner Mutter, seiner Tante, seiner Schwester und Ljubow Ssergejewna vor. Sie blieben einen Augenblick stehen, doch die Regentropfen fielen immer dichter.
»Kommt in die Galerie, dort kannst du ihn nochmals vorstellen,« sagte die Dame, die ich für Dmitrijs Mutter hielt, und wir stiegen alle zusammen die Treppe hinauf.