Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Endlich kam das erste Examen heran, Differential- und Integralrechnung, ich aber befand mich immer noch in einem seltsamen Rausche und gab mir keine klare Rechenschaft von dem, was mich erwartete. Abends nach den Zusammenkünften mit Suchin und den anderen Kameraden überkam mich oft der Gedanke, daß ich etwas an meinen Überzeugungen ändern müsse, daß irgend etwas an ihnen nicht richtig und nicht gut sei, aber des Morgens bei Sonnenlicht fühlte ich mich wieder comme il faut, war sehr befriedigt darüber und wünschte keinerlei Veränderung an mir.
In solcher Stimmung fuhr ich zum ersten Examen. Ich wählte mir einen Platz auf der Seite, wo die Fürsten, Grafen und Barone saßen, begann mit ihnen ein französisches Gespräch, und (so seltsam es klingen mag) es fiel mir nicht einmal ein, daß ich sofort aus einem Gegenstande geprüft werden sollte, den ich gar nicht kannte. Ich blickte kaltblütig auf die Kameraden, die an den Prüfungstisch herantraten, und erlaubte mir sogar, über einige von ihnen zu spötteln.
»Was ist, Grapp?« sagte ich zu Ilinka, als er von dem Tisch zurückkehrte, »haben Sie Angst ausgestanden?«
»Wir wollen sehen, wie Sie's machen werden,« antwortete Ilinka, der seit seinem Eintritt in die Universität sich vollständig gegen meinen Einfluß aufgelehnt hatte, nicht mehr lächelte, wenn ich mit ihm sprach, und gegen mich unfreundlich gesinnt war.
Ich lächelte verächtlich zu seiner Antwort, obgleich der Zweifel, den er ausgesprochen hatte, mich für einen Augenblick erschreckte. Aber ein Rausch umnebelte wieder diese Empfindung, und ich war wieder zerstreut und gleichgültig, so daß ich sogar versprach, nach der Prüfung (als wenn das für mich die allerunbedeutendste Sache wäre) mit dem Baron S. zu Matern zum Frühstück zu gehen. Als man mich gemeinsam mit Ikonin aufrief, ordnete ich die Falten meiner Uniform und trat höchst kaltblütig an den Prüfungstisch heran.
Ein leichter Schauer der Angst überlief mich erst dann, als der junge Professor, – derselbe, der mich beim Aufnahmeexamen geprüft hatte, – mir gerade ins Gesicht sah, und als ich das Postpapier berührte, auf dem die Fragen geschrieben waren. Obgleich Ikonin seinen Fragezettel mit derselben schaukelnden Bewegung des ganzen Körpers nahm, wie bei den früheren Prüfungen, antwortete er doch irgend etwas, wenn auch sehr schlecht; ich aber machte es so, wie er es bei der ersten Prüfung gemacht hatte, ja ich machte es sogar noch schlechter, denn ich zog einen zweiten Zettel und antwortete auch auf diesen zweiten kein Wort. Der Professor sah mich mitleidig an und sagte mit leiser, aber fester Stimme:
»Sie werden nicht in den zweiten Kurs kommen, Herr Irtenjew, gehen Sie lieber gar nicht zum Examen vor; die Fakultät muß gesäubert werden. Und auch Sie, Herr Ikonin,« fügte er hinzu.
Ikonin bettelte wie um ein Almosen um die Erlaubnis, noch einmal geprüft zu werden, aber der Professor antwortete ihm, er werde doch in zwei Tagen nicht das leisten können, was er während des ganzes Jahres nicht geleistet hatte, und er könne auf keinen Fall in den zweiten Kurs eintreten. Ikonin bat wieder kläglich und demütig, aber der Professor wies ihn wieder zurück.
»Sie können gehen, meine Herren,« sagte er mit derselben nicht lauten, aber festen Stimme.
Da erst entschloß ich mich, vom Tische zurückzutreten, und ich schämte mich, daß ich durch meine wortlose Anwesenheit an den demütigen Bitten Ikonins gleichsam teilgenommen hatte. Ich weiß nicht, wie ich durch den Saal an den Studenten vorüberschritt, was ich auf ihre Fragen antwortete, wie ich in den Flur geriet und wie ich nach Hause kam. Ich fühlte mich beleidigt, gedemütigt und wahrhaft unglücklich.
Drei Tage verließ ich mein Zimmer nicht, sah niemand, fand, wie in meiner Kindheit, Genuß an Tränen und weinte viel. Ich dachte, daß Ilinka Grapp mir ins Gesicht speien würde, wenn er mir begegnete, und daß er damit ganz recht täte; daß Operow sich über mein Unglück freute und es allen erzählte; daß Kolpikow vollkommen recht gehabt hätte, als er mich bei Jar beleidigte; daß meine dummen Reden mit der Fürstin Kornakow keine anderen Folgen haben konnten und so weiter. Alle drückenden, für die Eigenliebe peinlichen Augenblicke meines Lebens kamen mir einer nach dem andern in den Sinn. Ich suchte irgend jemand die Schuld an meinem Unglück zu geben, meinte, jemand habe das alles absichtlich angestiftet, ich erfand eine ganze Intrige gegen mich, murrte gegen die Professoren, die Kameraden, gegen Wolodja und Dmitrij, gegen Papa, weil er mich auf die Universität geschickt hatte, ich murrte gegen die Vorsehung, weil sie mich eine solche Schmach erleben ließ. Da ich meinte, daß ich in den Augen aller meiner Bekannten für ewige Zeiten gerichtet war, bat ich schließlich Papa um die Erlaubnis, zu den Husaren oder nach dem Kaukasus zu gehen. Papa war unzufrieden mit mir, als er aber meinen großen Kummer sah, tröstete er mich und sagte, so unangenehm die Sache auch sei, so ließe sich doch noch alles gut machen, wenn ich zu einer andern Fakultät überginge. Wolodja, der ebenfalls in meinem Unglück nichts Schreckliches sah, meinte, in der andern Fakultät würde ich mich wenigstens vor den neuen Kameraden nicht zu schämen brauchen.
Unsere Damen verstanden überhaupt nicht, das heißt sie wollten oder konnten nicht verstehen, was ein Examen bedeute, was es heißt, nicht in den andern Kurs hinüberzukommen, und bedauerten mich nur, weil sie meinen Kummer sahen.
Dmitrij besuchte mich täglich und war die ganze Zeit über außerordentlich zart und sanft; aber grade deshalb schien es mir, als sei er kühler gegen mich geworden. Es erschien mir immer schmerzlich und kränkend, wenn er zu mir heraufkam und sich schweigend ganz nahe zu mir setzte, ungefähr mit dem Ausdruck, mit dem der Arzt sich an das Bett des Schwerkranken setzt. Sofia Iwanowna und Warenka schickten mir durch ihn Bücher, die ich früher zu lesen gewünscht hatte, und baten, ich möge sie besuchen; aber grade in diesen Aufmerksamkeiten sah ich eine stolze, mich kränkende Herablassung zu einem Menschen, der sehr tief gesunken war. Nach drei Tagen beruhigte ich mich ein wenig, aber bis zu unserer Abreise aufs Land ging ich nicht aus dem Haus, dachte immer an meinen Gram, schleppte mich beschäftigungslos aus einem Zimmer ins andere, bemüht, allen Hausgenossen auszuweichen.
Ich sann und sann, und endlich eines Abends spät, als ich allein unten saß und einem Walzer von Awdotja Wassiljewna lauschte, sprang ich plötzlich auf, lief nach oben, suchte das Heft hervor, das die Aufschrift trug »Lebensregeln«, schlug es auf, und mich überkam ein Augenblick der Reue und des moralischen Aufschwunges. Ich weinte, aber nicht mehr Tränen der Verzweiflung. Als ich zu mir gekommen war, beschloß ich, die Niederschrift der Lebensregeln fortzusetzen, und war fest überzeugt, daß ich nie wieder etwas Schlechtes tun würde, nie auch nur eine Minute müßig sein und nie meinen Grundsätzen untreu werden würde.
Ob dieser moralische Aufschwung lange währte, worin er bestand und welche neue Grundlage er meiner sittlichen Entwicklung gab, werde ich in einem späteren, glücklicheren Teil meiner Jugendzeit erzählen.