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Einen Tag vor dieser offiziellen Mitteilung wußten alle im Hause bereits davon und urteilten verschieden darüber. Mimi saß den ganzen Tag weinend in ihrem Zimmer. Katjenka blieb bei ihr und erschien nur zu Mittag, und zwar mit einem gewissen beleidigten Gesichtsausdruck, den sie offenbar ihrer Mutter abgesehen hatte; Ljubotschka dagegen war sehr heiter und sagte beim Mittagessen, sie wisse ein herrliches Geheimnis, das sie jedoch niemand verraten werde.
»An deinem Geheimnis ist nichts Herrliches,« sagte Wolodja, der ihre Freude nicht teilte, »wenn du über eine Sache ernsthaft nachdenken könntest, würdest du begreifen, daß es im Gegenteil sehr schlimm ist.«
Ljubotschka sah ihn verwundert und aufmerksam an und verstummte.
Nach dem Essen wollte Wolodja mich bei der Hand nehmen, fürchtete aber wohl, daß das einer Zärtlichkeit ähnlich sehen könnte, stieß mich nur mit dem Ellbogen an und machte mir ein Zeichen mit dem Kopfe, in den Saal zu kommen.
»Du weißt, von welchem Geheimnis Ljubotschka sprach?« sagte er, sobald er sich überzeugt hatte, daß wir allein waren.
Wolodja und ich sprachen selten unter vier Augen von ernsthaften Dingen, so daß wir, wenn es einmal vorkam, beide eine gewisse Verlegenheit empfanden und in unsern Augen »die Männlein tanzten«, wie Wolodja zu sagen pflegte; aber diesmal blickte er in Erwiderung der Verlegenheit, die sich in meinen Augen verriet, mir fest und ernst ins Auge, als wollte er sagen: »Es ist kein Grund zur Verlegenheit; wir sind doch Brüder und müssen über eine wichtige Familienangelegenheit beraten.« Ich verstand ihn und er sprach weiter:
»Papa heiratet die Epifanow, du weißt?«
Ich nickte, denn ich hatte schon davon gehört.
»Das ist sehr schlimm,« fuhr Wolodja fort.
»Warum das?«
»Warum?« antwortete er ärgerlich, »es ist wohl sehr angenehm, einen solchen Onkel Stotterer zu bekommen, und diese ganze Verwandtschaft! Und sie selbst scheint auch nur jetzt so gut und nett, aber wer weiß, wie sie später wird. Uns kann's freilich gleich sein, Ljubotschka aber muß nun bald in die Gesellschaft eingeführt werden. Mit einer solchen belle-mère ist das nicht sehr angenehm; sie spricht ja sogar schlecht französisch, und was für ein Benehmen kann sie ihr beibringen? Ein Marktweib, nichts anderes! Vielleicht eine gute Person, aber doch ein Marktweib!« schloß Wolodja, sichtlich befriedigt von seinem Einfall.
So seltsam es mich berührte, daß Wolodja Papas Wahl so ruhig kritisierte, schien es mir doch, daß er recht habe.
»Warum heiratet Papa denn?« fragte ich.
»Weiß Gott, das ist eine dunkle Geschichte; ich weiß nur, daß Peter Wassiljewitsch ihm zu der Heirat zugeredet, ihn gedrängt hat, daß Papa zuerst nicht wollte, bis ihn eine Laune, so eine ritterliche Anwandlung überkam. Ich habe erst jetzt angefangen, unsern Vater zu begreifen,« fuhr Wolodja fort (daß er »Vater« sagte und nicht »Papa«, tat mir sehr weh), »er ist ein prächtiger Mensch, gut und klug, aber so leichtsinnig und flatterhaft! Zum Erstaunen!«
In diesem Augenblick trat Ljubotschka zu uns herein. »Ihr wißt also?« fragte sie mit frohem Gesichte.
»Ja,« antwortete Wolodja, »ich wundere mich nur, Ljubotschka: du bist doch kein Wickelkind mehr, wie kannst du dich so darüber freuen, daß Papa irgendeine lumpige Person heiratet?«
Ljubotschka wurde plötzlich ernst und dachte nach.
»Wolodja! Wieso eine lumpige Person? Wie kannst du's wagen, so von Awdotja Wassiljewna zu sprechen? Wenn Papa sie heiratet, ist sie wohl keine lumpige Person.«
»Ja, ja, keine lumpige Person, das sagte ich nur so, aber dennoch –«
»Hier gibt's kein dennoch!« unterbrach ihn Ljubotschka hitzig; »ich hab' auch nie gesagt, daß das Fräulein, in welches du verliebt bist, eine lumpige Person sei; wie kannst du so von Papa und von einer vortrefflichen Frau sprechen? Wenn du auch mein älterer Bruder bist, so sprich nicht so zu mir, du darfst so nicht sprechen!«
»Ja warum sollte man nicht urteilen dürfen über –«
»Man darf nicht urteilen!« unterbrach ihn Ljubotschka zum zweitenmal: »über einen Vater wie den unsrigen darf man nicht urteilen. Mimi kann es tun, aber nicht du, der älteste Bruder!«
»Nein, du verstehst noch immer nichts,« sagte Wolodja verächtlich; »begreife doch! Ist's vielleicht schön, daß irgend eine Dunitschka Epifanow an Stelle deiner seligen Mama treten wird?«
Ljubotschka schwieg einen Augenblick, und plötzlich traten ihr Tränen in die Augen.
»Ich wußte, daß du hochmütig bist, aber ich hätte nie gedacht, daß du so schlecht sein kannst,« sagte sie und ging hinaus.
»Kuchen!« sagte Wolodja, indem er ein komisch-ernstes Gesicht und trübe Augen machte; »da hat man's, sprich mit ihnen!« fügte er hinzu, als machte er sich Vorwürfe, daß er sich herabgelassen, mit Ljubotschka ein Gespräch zu führen.
Am nächsten Tage war schlechtes Wetter, und weder Papa noch die Damen waren zum Tee erschienen, als ich in den Salon trat. In der Nacht war kalter Herbstregen gefallen, am Himmel zogen noch die Reste der Wetterwolke hin, durch welche die bereits recht hoch stehende, durch einen Lichtkreis kenntliche Sonne nur trübe durchschimmerte. Es war windig, feucht und kalt. Die Tür zum Garten stand offen; auf dem von Feuchtigkeit schwarzen Fußboden der Terrasse trockneten die Pfützen des Nachtregens. Der Wind suchte die geöffnete Tür von dem eisernen Stützhaken loszureißen; die Gartenwege waren feucht und schmutzig; die alten Birken mit den entblätterten weißen Ästen, die Sträucher und Gräser, die Nesseln, die Johannisbeer- und Holunderbüsche, deren Blätter die weiße Seite nach oben kehrten, wurden hin- und hergepeitscht, und schienen sich von ihren Wurzeln losreißen zu wollen; aus der Lindenallee kamen, sich drehend und einander überholend, gelbe, runde Blätter geflogen und legten sich durchnäßt auf den feuchten Weg und auf das feuchte, dunkelgrüne Herbstgras der Wiese. Meine Gedanken beschäftigten sich mit der bevorstehenden Heirat unseres Vaters, von Wolodjas Standpunkt aus betrachtet. Unsere Zukunft sowie die Zukunft meiner Schwester und meines Vaters erschien mir nicht in günstigem Lichte. Mich empörte der Gedanke, daß eine fremde, gleichgültige und vor allem junge Frau, die gar kein Recht dazu besaß, plötzlich in mancher Hinsicht an die Stelle – ja, an wessen Stelle treten sollte? Ein gewöhnliches, junges Fräulein – und sollte an die Stelle unserer seligen Mama treten! Ich war traurig, und der Vater erschien mir immer mehr und mehr schuldig. In diesem Augenblick hörte ich ihn in der Offiziantenstube mit Wolodja sprechen. Ich wollte ihn jetzt nicht sehen und entfernte mich von der Tür, aber Ljubotschka holte mich ein und sagte, daß Papa mich rufen lasse.
Er stand im Salon, mit der Hand aufs Klavier gestützt, und blickte mir ungeduldig und zugleich feierlich entgegen. Sein Gesicht trug nicht mehr den Ausdruck von Jugend und Glück, den ich die ganze Zeit über an ihm beobachtet hatte. Er war traurig. Wolodja ging, die Pfeife in der Hand, im Zimmer auf und ab. Ich trat an den Vater heran und wünschte ihm einen guten Morgen.
»Nun, meine Freunde,« sagte Papa entschlossen und in dem besonderen, schnellen Ton, in dem man unangenehme Dinge sagt, über die zu beraten bereits zu spät ist; »ich denke, ihr wißt schon, daß ich Awdotja Wassiljewna heirate.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich wollte nach dem Tode eurer maman nicht wieder heiraten, aber –« er schwieg wieder einen Moment, »aber – es scheint Bestimmung zu sein. Dunitschka ist ein gutes, liebes Mädchen und nicht mehr ganz jung; ich hoffe, ihr werdet sie lieb gewinnen, Kinder, denn sie liebt euch schon von Herzen, sie ist so gut. Für euch,« sagte er, sich zu mir und Wolodja wendend und sehr schnell sprechend, als wollte er uns daran hindern, ihn zu unterbrechen, »für euch ist's Zeit, abzureisen, ich aber werde bis Neujahr hier bleiben und dann mit –« er stockte wieder, »mit meiner Frau und Ljubotschka nach Moskau kommen.« Mir tat es weh, unsern Vater so zu sehen: fast schüchtern und als fühlte er sich vor uns schuldig; ich trat näher an ihn heran, Wolodja aber ging mit gesenktem Kopf und immer noch rauchend im Zimmer auf und nieder.
»Da seht ihr, meine Freunde, was eurem Alten in den Sinn gekommen ist!« schloß Papa errötend, hüstelte und reichte Wolodja und mir die Hand. In seinen Augen standen Tränen, als er das sagte, und die Hand, die er Wolodja, welcher grade am andern Ende des Zimmers war, entgegenstreckte, zitterte ein wenig, wie ich bemerkte. Der Anblick dieser zitternden Hand tat mir weh, und mir schoß der sonderbare Gedanke durch den Kopf, daß Papa im Jahre 1812 gedient hatte und, wie bekannt, ein tapferer Offizier gewesen war. Ich hielt seine große, sehnige Hand fest und küßte sie. Er drückte die meine kräftig, schluchzte plötzlich auf, faßte mit beiden Händen Ljubotschkas dunkles Köpfchen und küßte sie auf die Augen. Wolodja stellte sich, als wäre ihm die Pfeife entfallen, bückte sich, rieb sich die Augen mit der Faust und ging vorsichtig, damit man ihn nicht bemerke, aus dem Zimmer.