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Grade um jene Zeit hing meine Freundschaft mit Dmitrij an einem Haar. Ich hatte schon seit zu langer Zeit angefangen, ihn objektiv zu beurteilen, um blind gegen seine Mängel zu bleiben, und in der ersten Jugend lieben wir nur mit Leidenschaft und daher nur vollkommene Menschen. Sobald aber der Nebel der Leidenschaftlichkeit sich langsam verzieht oder die hellen Strahlen der Urteilskraft ihn unwillkürlich durchdringen und wir den Gegenstand unserer Leidenschaft in seiner wahren Gestalt erblicken, mit Vorzügen und Mängeln, – fallen uns nur die Mängel wie etwas Unerwartetes grell und stark vergrößert in die Augen, die Sehnsucht nach Neuem, die Hoffnung, daß die Vollkommenheit bei einem anderen Menschen nichts Unmögliches sei, treibt uns nicht nur zur Gleichgültigkeit, sondern auch zur Abneigung gegen den bisherigen Gegenstand unserer Leidenschaft, und wir geben ihn ohne Bedauern auf und eilen weiter, neue Vollkommenheiten zu suchen. Wenn dies bei mir in Bezug auf Dmitrij nicht geschah, so verdanke ich das nur seiner beharrlichen, pedantischen, mehr verstandesmäßigen als herzlichen Zuneigung, gegen die verräterisch zu handeln ich mich zu sehr geschämt hätte. Überdies verband uns unser seltsamer Grundsatz der gegenseitigen Offenheit. Bei einer Trennung hätte jeder von uns sich zu sehr davor gefürchtet, die anvertrauten unrühmlichen moralischen Geheimnisse in der Gewalt des andern zu lassen, übrigens wurde unser Offenheitsgrundsatz schon lange nicht mehr befolgt; er bedrückte uns oft und schuf sonderbare Beziehungen zwischen uns.
Fast jedesmal, wenn ich Dmitrij in jenem Winter besuchte, traf ich bei ihm seinen Kommilitonen, den Studenten Besobedow, mit dem zusammen er arbeitete. Besobedow war ein kleines, pockennarbiges, mageres Männchen mit winzigen, sommersprossigen Händchen und mächtiger, ungekämmter roter Haarmähne; er steckte stets in zerrissenen und schmutzigen Kleidern, war ungebildet und studierte auch mit wenig Erfolg. Dmitrijs Freundschaft für ihn war mir grade so unbegreiflich wie die für Ljubow Ssergejewna. Der einzige Grund, aus welchem er unter allen Kommilitonen grade ihn erwählt und sich mit ihm befreundet hatte, konnte nur der sein, daß es auf der ganzen Universität keinen Studenten mit einem unvorteilhafteren Aussehen gab als Besobedow. Wahrscheinlich gefiel es Dmitrij gerade daher, allen zum Trotz ihm Freundschaft zu bezeugen. In all seinen Beziehungen zu diesem Studenten kam das hochmütige Gefühl zum Ausdruck: »Seht, mir ist's ganz einerlei, wer ihr seid; für mich sind alle gleich; ihn liebe ich, folglich ist er ein guter Mensch.«
Ich wunderte mich, daß es ihm nicht schwer wurde, sich beständig Zwang aufzuerlegen, und daß der unglückselige Besobedow seine unbehagliche Lage ertrug. Diese Freundschaft mißfiel mir ungemein.
Einmal besuchte ich Dmitrij in der Absicht, den Abend mit ihm im Salon seiner Mutter zu verbringen, zu plaudern und Warenka vorlesen oder singen zu hören. Aber Besobedow saß oben bei Dmitrij, der mir in schroffem Tone antwortete, er könne nicht hinunter, da er, wie ich ja sehe, Besuch habe. »Und was gibt's denn dort Lustiges?« fügte er hinzu, »es ist viel gescheiter, wir bleiben hier sitzen und plaudern.«
Obgleich mich der Gedanke, zwei Stunden in Besobedows Gesellschaft zu verbringen, durchaus nicht lockte, entschloß ich mich doch nicht, allein in den Salon hinunterzugehen, und setzte mich voller Ärger über die Absonderlichkeiten meines Freundes in den Schaukelstuhl und begann, mich schweigend zu schaukeln. Ich war sehr böse auf Dmitrij und auf Besobedow, weil sie mich des Vergnügens beraubten, im Salon zu sein; ich wartete, ob Besobedow nicht bald fortgehen werde, und hörte, ihm und Dmitrij grollend, schweigend ihrem Gespräche zu. »Ein sehr angenehmer Gast! Mit dem zu sitzen!« dachte ich, als der Diener den Tee brachte und Dmitrij mindestens fünfmal Besobedow auffordern mußte, ein Glas Tee zu nehmen, weil der schüchterne Gast es beim ersten und zweiten Glase für seine Pflicht hielt, zu danken und zu sagen: »Trinken Sie nur selbst?« Dmitrij tat sich sichtlich Zwang an, um seinen Gast zu unterhalten, und bemühte sich vergebens ein paarmal, mich in das Gespräch hineinzuziehen. Ich schwieg mürrisch.
»Warum sollte ich so tun, als dürfe niemand vermuten, daß ich mich langweile?« wandte ich mich in Gedanken an Dmitrij, während ich mich stumm gleichmäßig hin- und herschaukelte. Immer mehr und mehr entfachte ich in mir mit einem gewissen Vergnügen das Gefühl stillen Hasses gegen meinen Freund. – »So ein Dummkopf!« dachte ich, »könnte den Abend angenehm mit lieben Verwandten verbringen, – aber nein, er sitzt hier mit diesem Rindvieh! Die Zeit vergeht, es wird zu spät werden, in den Salon hinunterzugehen?« Ich blickte hinter dem Stuhlrande hervor nach meinem Freunde. Sowohl seine Hand als seine Stellung, sein Hals und besonders sein Nacken und die Knie erschienen mir so unsympathisch und aufreizend, daß ich ihm in jenem Augenblick mit Vergnügen irgend eine, sogar große Unannehmlichkeit bereitet hätte.
Endlich stand Besobedow auf, aber Dmitrij konnte einen so angenehmen Gast nicht gleich fortlassen: er lud ihn ein, über Nacht zu bleiben; Besobedow nahm die Einladung zum Glück nicht an und ging hinaus.
Dmitrij begleitete ihn ins Vorzimmer, kam dann zurück, rieb sich die Hände und lächelte selbstgefällig – wahrscheinlich sowohl deshalb, weil er trotz allem standhaft geblieben war, als auch aus Freude über die endliche Erlösung von der Langweile – und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei er mir hier und da einen Blick zuwarf. Er wurde mir noch unsympathischer. »Wie darf er's wagen, auf und ab zu gehen und zu lächeln?« dachte ich.
»Warum bist du böse?« fragte er plötzlich, vor mir stehen bleibend.
»Ich bin durchaus nicht böse,« antwortete ich, wie man in solchen Fällen immer zu antworten pflegt, »es ärgert mich nur, daß du dich sowohl vor mir und Besobedow als vor dir selber verstellst.«
»Was für ein Unsinn! Ich verstelle mich nie und vor niemand.«
»Ich vergesse unsern Grundsatz der Aufrichtigkeit nicht, ich spreche offen mit dir,« sagte ich; »ich bin überzeugt, dieser Besobedow ist dir ebenso unausstehlich wie mir, denn er ist dumm und weiß Gott was, es gefällt dir aber, dich vor ihm wichtig zu machen.«
»Das ist nicht wahr! Erstens: Besobedow ist ein prächtiger Mensch –«
»Und ich sage, es ist wahr. Ich sage dir sogar, auch deine Freundschaft für Ljubow Ssergejewna beruht nur darauf, daß sie dich vergöttert.«
»Ich sage dir doch: nein!«
»Und ich sage: ja, denn ich kenne das aus eigener Erfahrung,« erwiderte ich mit dem Eifer des unterdrückten Ärgers und in der Hoffnung, ihn durch meine Aufrichtigkeit zu entwaffnen: »ich habe dir schon gesagt und ich wiederhole es, daß ich die Menschen liebe, die mir etwas Angenehmes zu sagen pflegen, und wenn ich mich gründlich prüfe, finde ich, daß die wahre Zuneigung fehlt.«
»Nein,« fuhr Dmitrij fort, mit ärgerlicher Kopfbewegung seine Halsbinde zurechtrückend, »wenn ich liebe, so kann weder Lob noch Tadel mich in meinem Gefühle schwankend machen.«
»Das ist nicht wahr. Ich hab' dir doch eingestanden, daß ich einmal, als Papa mich einen Nichtsnutz genannt hatte, ihn einige Zeit hindurch haßte und seinen Tod wünschte; und du ebenfalls –«
»Sprich nur von dir. Es ist sehr bedauerlich, wenn du so bist –«
»Im Gegenteil!« schrie ich auf, indem ich vom Stuhle aufsprang und ihm mit verzweifeltem Mut ins Auge sah, »das, was du sagst, ist nicht schön! Hast du mir nicht von meinem Bruder gesagt – ich will dich nicht daran erinnern, weil das unehrenhaft wäre – hast du mir nicht erzählt – aber ich will dir sagen, wie ich dich jetzt verstehe –«
Und um ihn noch empfindlicher zu treffen als er mich, bemühte ich mich ihm zu beweisen, daß er niemand liebte, und sagte ihm alles das ins Gesicht, woraus ich ihm, wie ich glaubte, mit Recht einen Vorwurf machen konnte. Ich war sehr befriedigt, daß ich so offen mit ihm gesprochen hatte, und vergaß völlig, daß der einzig mögliche Zweck dieser Offenheit – der darin bestehen mußte, daß Dmitrij sich zu den ihm vorgeworfenen Fehlern bekannt hätte – in jenem Augenblick, in dem er in zorniger Erregung war, nicht erreicht werden konnte. Wenn er sich in ruhigem Zustande befand, so daß er sein Unrecht hätte einsehen können, hatte ich nie so zu ihm gesprochen.
Der Zwist artete schon in einen Streit aus, als Dmitrij plötzlich schwieg und ins andere Zimmer ging. Ich folgte ihm und wollte weitersprechen, aber er antwortete mir nicht. Ich wußte, daß auf der Liste seiner Fehler auch der Jähzorn stand, und daß er sich jetzt selbst bezwang. Ich verwünschte alle seine Aufzeichnungen.
Das also war die Folge unseres Prinzips, einander alle unsere Empfindungen mitzuteilen und nie einem dritten etwas von dem andern zu erzählen! Wir hatten uns zuweilen von dem Wunsche der Aufrichtigkeit zu den beschämendsten Geständnissen hinreißen lassen, indem wir eine Voraussetzung, eine Phantasie zu unsrer eigenen Schande für einen Wunsch, ein Gefühl ausgegeben hatten, wie z. B. das, was ich ihm eben gesagt hatte; und solche Geständnisse dienten nicht nur nicht zur Befestigung unserer Freundschaft, sondern töteten das Gefühl selbst und traten trennend zwischen uns; jetzt aber hinderte ihn die Eigenliebe plötzlich, das unbedeutendste Geständnis zu machen, und in der Hitze des Streites bedienten wir uns der Waffen, die wir früher einander ausgeliefert hatten und die sehr, sehr schmerzhaft verwundeten.