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Fünftes Kapitel.
Im ersten Augenblick

Die Piroge, die Joam Garral oder vielmehr Joam Dacosta wegführte – dieser Name muß ihm wieder gegeben werden – war kaum verschwunden, da trat Benito auf Manuel zu.

»Was weißt du?« fragte er ihn.

»Ich weiß, daß dein Vater unschuldig ist! Ja, unschuldig!« wiederholte Manuel, »und daß er vor 23 Jahren wegen eines Verbrechens, das er gar nicht begangen hat, zum Tode verurteilt worden ist.«

»Er hat dir alles gesagt, Manuel?«

»Alles, Benito!« antwortete der junge Mann. »Der ehrenwerte Fazendero wollte nicht, daß irgend etwas von seiner Vergangenheit dem verborgen bliebe, der sein zweiter Sohn werden sollte, indem er seine Tochter heiratete.«

»Und kann mein Vater endlich den Beweis für seine Unschuld an den Tag bringen?«

»Dieser Beweis, Benito, liegt allein in diesen 23 Jahren eines ehrenwerten und mit Ehren geschmückten Lebens, allein in dem Schritt Joam Dacostas, sich an die Justizverwaltung zu wenden und zu sagen: Hier bin ich! Ich mag dieses falsche Dasein nicht mehr! Ich will mich nicht länger unter einem Namen verstecken, der nicht mein wahrer Name ist. Sie haben einen Unschuldigen verurteilt! Stellen Sie seine Ehre wieder her!«

»Und als mein Vater so zu dir sprach, hast du nicht einen Augenblick gezaudert, ihm zu glauben?« rief Benito.

»Nicht einen Augenblick, mein Bruder!« antwortete Manuel.

Die beiden jungen Männer drückten sich herzlich die Hand.

Dann ging Benito zu Padre Passanha.

»Padre,« sagte er zu ihm, »führen Sie meine Mutter und meine Schwester in ihre Zimmer! Verlassen Sie sie den ganzen Tag über nicht! Hier zweifelt niemand an der Unschuld meines Vaters – niemand, das wissen Sie. Morgen werde ich mit meiner Mutter den Polizeichef aufsuchen. Der Zutritt zum Gefängnis wird uns nicht verweigert werden! Nein! das wäre zu grausam. Wir werden meinen Vater wiedersehen und uns darüber entscheiden, welche Schritte zu machen sind, um ihn wieder zu Ehren zu bringen.«

Yaquita war fast ganz unfähig, etwas zu beginnen. Aber die tapfere Frau, die von diesem plötzlichen Schlag zuerst niedergeschmettert worden war, richtete sich bald wieder auf.

Yaquita Dacosta wollte dieselbe sein wie Yaquita Garral. Sie zweifelte nicht an der Unschuld ihres Mannes. Es kam ihr nicht einmal der Gedanke, Joam Dacosta zum Vorwurf zu machen, daß er sie unter falschem Namen geheiratet hatte.

Sie dachte nur an dieses ganze Leben voller Glück, das sie diesem ehrbaren, unschuldig getroffenen Manne verdankte. Ja! am folgenden Tage wollte sie an der Tür des Gefängnisses sein und nicht eher gehen, als bis ihr geöffnet würde.

Padre Passanha führte sie und ihre Tochter weg, die den Tränen nicht wehren konnte, und alle drei schlossen sich in das Haus ein.

Die beiden jungen Männer waren allein.

»Und jetzt, Manuel,« sagte Benito, »muß ich alles wissen, was mein Vater dir gesagt hat.«

»Ich habe dir nichts zu verbergen, Benito.«

»Was hat Torres an Bord der Jangada vorgehabt?«

»Er hat Joam Dacosta das Geheimnis seiner Vergangenheit verkaufen wollen.«

»Als wir also diesem Torres in den Wäldern von Iquitos begegneten, war sein Plan, sich mit meinem Vater in Verbindung zu setzen, bereits gefaßt?«

»Daran ist nicht zu zweifeln,« antwortete Manuel. »Der Elende hat damals auf die Fazenda kommen wollen in der Absicht, ein von langer Hand vorbereitetes schändliches Schachergeschäft abzuschließen.«

»Und da wir ihm mitgeteilt haben,« sagte Benito, »daß mein Vater und seine ganze Familie sich zu einer Reise über die Grenze rüsteten, hat er sofort seinen Plan geändert?«

»Jawohl, Benito, weil Joam Dacosta auf brasilianischem Boden noch mehr seiner Gnade überantwortet sein mußte, als jenseits der peruanischen Grenze. Daher trafen wir Torres in Tabatinga, wo er wartete, wo er auf unsere Ankunft lauerte.«

»Und ich mußte ihm anbieten, auf der Jangada mitzufahren!« rief Benito mit einem Aufwallen der Verzweiflung.

»Bruder,« sagte Manuel, »mache dir keinen Vorwurf. Torres wäre früher oder später doch zu uns gestoßen. Er war nicht der Mann, eine solche Fährte aufzugeben. Wenn er uns in Tabatinga verfehlt hätte, würden wir ihn in Manaos getroffen haben.«

»Ja, Manuel, du hast recht. Aber es handelt sich nicht mehr um die Vergangenheit – sondern um die Gegenwart! Keine unnützen Selbstanklagen! Wir wollen sehen –«

Mit diesen Worten strich sich Benito mit der Hand über die Stirn und suchte sich alle Einzelheiten dieses traurigen Vorganges zurückzurufen.

»Wir wollen sehen,« fuhr er fort, »auf welche Weise Torres hat erfahren können, daß mein Vater vor 23 Jahren wegen dieses abscheulichen Verbrechens von Tijuco verurteilt worden war.«

»Das weiß ich nicht,« erwiderte Manuel »und es spricht auch alles dafür, daß dein Vater es ebenfalls nicht weiß.«

»Und doch kannte Torres den Namen Garral, unter dem sich Joam Dacosta verbarg?«

»Augenscheinlich.«

»Und er wußte, daß während dieser vielen Jahre sich mein Vater in Peru, in Iquitos aufgehalten hat?«

»Das wußte er,« antwortete Manuel. »Aber wie er es erfahren hat, ist mir unbegreiflich!«

»Eine letzte Frage,« sagte Benito. »Was für ein Ansuchen hat Torres während dieser kurzen Unterredung – ehe wir ihn wegjagten – an meinen Vater gestellt?«

»Er hat gedroht, Joam Garral als identisch mit Joam Dacosta zu denunzieren, wenn er sich weigere, sein Schweigen zu erkaufen.«

»Und welchen Preis hat er verlangt?«

»Die Hand seiner Tochter,« antwortete Manuel ohne Stocken, aber bleich vor Zorn.

»Der Elende hat gewagt ...!« rief Benito.

»Du hast gesehen, Benito, welche Antwort dein Vater auf dieses schändliche Verlangen gegeben hat.«

»Ja, Manuel, ja! Die Antwort eines Ehrenmannes, der beleidigt wird! Er hat Torres weggejagt. Aber das genügt nicht. Nein, mir genügt das nicht. Auf die Denunziation von Torres hin ist mein Vater verhaftet worden, nicht wahr?«

»Ja, auf seine Denunziation hin!«

»Gut,« rief Benito, dessen Arm sich drohend nach dem linken Ufer des Stromes richtete, »ich muß Torres wiederfinden. Ich muß wissen, auf welche Weise er in dieses Geheimnis eingedrungen ist! Er muß mir sagen, ob er auch den wahren Urheber des Verbrechens kennt! Er wird sprechen! – und wenn er nicht mit der Sprache heraus will, so weiß ich, was für mich zu tun bleibt!«

»Was zu tun bleibt – für mich wie für dich!« setzte in kühlerm, aber nicht minder entschlossenem Tone Manuel hinzu.

»Nein, Manuel, nein! Für mich allein!«

»Wir sind Brüder, Benito,« antwortete Manuel, »und diese Rache gehört uns allen beiden!«

Benito antwortete nicht. Augenscheinlich stand in diesem Punkte sein Entschluß unerschütterlich fest.

In diesem Augenblick trat der Lotse Araujo, der den Stand des Stromes beobachtet hatte, zu den beiden jungen Männern.

»Haben Sie sich entschieden,« fragte er, »ob die Jangada an der Insel Muras liegen bleiben oder in den Hafen von Manaos einfahren soll?«

Diese Frage mußte vor Einbruch der Nacht erledigt und genau erwogen werden.

Die Nachricht von der Verhaftung Joam Dacostas hatte sich schon in der Stadt verbreitet. Daß sie die Neugierde der Bevölkerung von Manaos in hohem Grade erregen mußte, war selbstverständlich. Wer konnte sie nicht auch mehr als bloße Neugierde gegen den Verurteilten, den Haupturheber jenes Verbrechens von Tijuco erwecken, das vor Jahren so großes Aufsehen gemacht und alle Welt erschüttert hatte?

Konnte man nicht eine Volksbewegung fürchten auf Grund jener bisher noch ungesühnten Bluttat? Wäre es angesichts dieser Möglichkeit nicht besser, die Jangada am rechten Ufer bei der Insel Muras, einige Meilen von Manaos entfernt, vor Anker zu lassen?

Das Für und Wider der Frage wurde erwogen.

»Nein!« rief Benito. »Wenn wir hier bleiben, erwecken wir den Anschein, als geben wir unsern Vater auf und zweifeln an seiner Unschuld! Das sähe so aus, als fürchteten wir uns, gemeinsame Sache mit ihm zu machen. Wir müssen nach Manaos und zwar unverzüglich!«

»Tu hast recht, Benito!« antwortete Manuel. »Also hinüber!«

Araujo nickte mit dem Kopfe und traf seine Anordnungen, um die Insel zu verlassen.

Das erforderte große Umsicht. Der durch den Rio Negro verstärkte Strom des Amazonas mußte schräg durchschnitten und Kurs auf die Mündung dieses Nebenflusses genommen werden.

Die Taue wurden gelöst, durch die das Floß an der Insel gehalten wurde. Die Jangada begann, in das Flußbett zurückgeworfen, diagonal abzutreiben. Araujo benutzte geschickt die durch die vorspringenden Punkte des Ufers veranlaßten Biegungen der Strömung und konnte mit Hilfe der langen Stangen seiner Mannschaft das riesige Floß in der gewollten Richtung vorwärtsbringen.

Zwei Stunden später war die Jangada am andern Ufer des Amazonenstromes, und um fünf Uhr abends legte sie längs dieses Ufers an, allerdings nicht im Hafen von Manaos, den sie gegen den reißenden Strom nicht hätte erreichen können, sondern eine kleine Meile unterhalb.

Der Holzschleppzug ruhte jetzt auf dem schwarzen Wasser des Rio Negro an einem ziemlich hohen Ufer.

Hier gingen ein paar Städter hin und her. Ohne Zweifel hatte die Neugierde sie an den Ankerplatz der Jangada gelockt. Die Verhaftung Joam Dacostas war rasch ruchbar geworden; aber die Neugierde der Leute ging nicht bis zur Zudringlichkeit, und sie hielten sich abseits.

Benito hatte die Absicht, noch am Abend an Land zu gehen. Manuel riet davon ab.

»Warte bis morgen,« sagte er zu ihm. »Es ist bald Nacht, und da müssen wir auf der Jangada sein.«

In diesem Augenblick kam Yaquita mit ihrer Tochter und Padre Passanha aus dem Hause.

Wenn Minha noch weinte, zeigte Yaquitas Gesicht keine Spur mehr von Tränen. Ihr ganzes Wesen war voll Energie und Entschlossenheit. Man fühlte, daß diese Frau zu allem bereit war, bereit, ihre Pflicht zu erfüllen wie ihr Recht geltend zu machen.

Yaquita trat langsam zu Manuel heran.

»Manuel,« sagte sie, »hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe, denn ich werde sprechen, wie mein Gewissen es mir befiehlt.«

»Ich höre,« antwortete Manuel.

Yaquita sah ihm fest ins Gesicht.

»Gestern,« sagte sie, »sind Sie nach der Unterredung – die Sie mit Joam Dacosta, meinem Manne hatten, zu mir gekommen und haben mich Ihre Mutter genannt. Sie haben die Hand Minhas ergriffen und zu ihr gesagt: meine Frau! Sie wußten da alles, und die Vergangenheit Joam Dacostas war Ihnen enthüllt.«

»Ja!« antwortete Manuel, »und möge Gott mich strafen, wenn meinerseits ein Zaudern –«

»Gut, Manuel,« fuhr Yaquita fort, »aber da war Joam Dacosta noch nicht verhaftet. Jetzt ist die Situation nicht mehr die gleiche. Wenn mein Mann noch so unschuldig ist, er ist in den Händen der Justiz, seine Vergangenheit wird auch vor der Oeffentlichkeit enthüllt werden; Minha ist die Tochter eines zum Tode Verurteilten.«

»Ob Minha Dacosta oder Minha Garral, was gilt es mir!« rief Manuel, der nicht länger an sich halten konnte.

»Manuel!« murmelte das junge Mädchen.

Sie wäre sicher gefallen, wenn Lina sie nicht in den Armen aufgefangen hätte.

»Mutter, wenn Sie sie nicht töten wollen,« sagte Manuel, »nennen Sie mich Ihren Sohn!«

»Mein Sohn! Mein Kind!«

Weiter vermochte Yaquita nichts zu antworten. Die Tränen, die sie mit solcher Mühe zurückgehalten hatte, entströmten ihren Augen.

Alle traten in das Haus.

Aber in dieser langen Nacht gab es für diese ehrbare, so grausam geprüfte Familie keine Stunde Schlafes.


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