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Siebentes Kapitel.
Moralische Beweise

Der gegen Joam Dacosta, genannt Joam Garral, erlassene Haftbefehl war von dem Stellvertreter des Richters Ribeiro ausgefertigt worden, der mit den Obliegenheiten des Oberrichters in der Amazonenprovinz bis zur Ernennung des Nachfolgers betraut war.

Dieser Stellvertreter hieß Vincente Jarriquez.

Das war ein kleiner, sehr barscher Mann, der aber nach einer vierzigjährigen Tätigkeit als Strafrichter nicht eben sehr gut auf die Angeklagten zu sprechen war. Er hatte so viele Fälle dieser Art behandelt, so viele Verbrecher prozessiert und verurteilt, daß die Unschuld eines Schuldiggesprochenen, wer das auch sein mochte, ihm einfach als ein Unding erschien.

Sicherlich urteilte er nicht gegen sein Gewissen, aber sein stark verpanzertes Gewissen ließ sich nicht leicht durch die Ergebnisse des Verhörs oder die Beweisführung der Verteidigung ins Bockhorn jagen. Wie viele Gerichtsvorsitzende suchte er gern die Nachsicht der Jury zu bekämpfen, und wenn ein Angeklagter, der die Verhöre, Untersuchungen und Unterweisungen glücklich überstanden hatte, vor ihn geführt wurde, so lagen in seinen Augen die Dinge immer so, daß dieser Angeklagte zehnmal schuldig war.

Dabei war dieser Jarriquez durchaus kein boshafter Mensch. Nervös, beweglich und gesprächig, genau und scharfsinnig, war er mit seinem großen Kopf auf dem kurzen Körper, dem zerzausten Haar, den tiefliegenden bohrenden Augen, deren Blick erstaunlich scharf und durchdringend war, seiner vorspringenden Nase, mit der er sicher gestikuliert hätte, wenn sie nur beweglich gewesen wäre, mit seinen abstehenden Ohren, die sehr genau auch das hörten, was jenseits des Hörbereichs eines gewöhnlichen Hörorgans gesprochen wurde, mit seinen unaufhörlich auf dem Gerichtstisch trommelnden Fingern, ganz als wäre er ein stumm sich übender Klaviervirtuos, mit seinem für die zu kurzen Beine zu langen Oberleib und mit seinen Füßen, die er immer hin und her übereinander legte, wenn er in seinem Richterstuhl präsidierte – recht merkwürdig anzuschauen.

Im Privatleben ließ der Richter Jarriquez, ein eingefleischter Junggeselle, seine strafrechtlichen Bücher nur im Stich, wenn er zu Tisch ging – ein gutes Mahl verschmähte er nicht – oder wenn er Whist spielen wollte – dieses Spiel schätzte er sehr – oder wenn eine Schachpartie winkte – er war Meister in dieser Kunst, wie er denn auch mit kopfzerbrecherischen Rätseln, Charaden, Rebus, Annagrammen, Logogryphen usw. – gleich manchem seiner europäischen Kollegen – wahre Sphinxe aus Liebhaberei wie aus Beruf – hauptsächlich sich die Zeit vertrieb.

Man sieht, er war ein Original, und man sieht auch, was Joam Dacostas durch den Tod des Richters Ribeiro verloren hatte, indem seine Sache in die Hand dieses nicht sehr angenehmen Beamten überging.

Uebrigens war die Aufgabe des Richters Jarriquez ziemlich einfach. Er hatte keine Vernehmungen und Untersuchungen anzustellen, keine Debatten zu führen, keinen Wahrspruch zu fordern, keine Paragraphen des Strafgesetzbuchs heranzuziehen und schließlich kein Urteil zu fällen.

All diese Formalitäten kamen bei dem Fazendero Iquitos unglücklicherweise in Wegfall. Joam Dacosta war vor 23 Jahren wegen des Verbrechens von Tijuco verhaftet, prozessiert und verurteilt worden, das Verbrechen war nicht verjährt, ein Antrag auf Strafabänderung konnte nicht vorgebracht werden, ein Gnadengesuch war nicht zulässig.

Es handelte sich im großen und ganzen also nur darum, die Identität festzustellen, und wenn dann der Vollstreckungsbefehl von Rio de Janeiro einlief, mußte die Justiz ihres Amtes walten.

Aber ohne Zweifel würde Joam Dacosta seine Unschuld beteuern und sagen, daß er ungerecht verurteilt sei. Die Pflicht des Beamten war, ihn anzuhören, welche Meinung zur Sache er auch haben mochte. Da war nur die eine Frage, was der Verurteilte an Beweisen für seine Behauptungen vorzubringen hatte. Wenn er aber schon in der ersten Instanz keine Beweise hatte erbringen können, würde er das jetzt imstande sein?

Hierauf beschränkte sich die Vernehmung.

Der Fall, daß ein Verurteilter, der glücklich und in Sicherheit im Auslande lebte und nun freiwillig alles verließ, um der Justiz gegenüber zu treten, die zu fürchten die Vergangenheit ihn gelehrt hatte, war allerdings, das mußte er sich gestehen, merkwürdig, einzig in seiner Art und wohl geeignet, selbst einen gegen alle Wechselfälle einer Gerichtsverhandlung blasierten Justizbeamten zu interessieren.

Lag bei diesem Verurteilten von Tijuco Ueberdruß am Leben, verbohrte Albernheit oder die Regung des Gewissens vor, das um jeden Preis nach Ruhe verlangte? Das Rätsel war nicht so einfach.

An dem Tage nach der Verhaftung Joam Dacostas begab sich der Richter Jarriquez nach dem Gefängnis in der Straße Gottes des Sohnes, wo der Gefangene in Haft war.

Dieses Gefängnis war ein ehemaliges Kloster der Missionare am Rande eines der Hauptkanäle der Stadt. Auf die freiwilligen Kerkerbrüder von ehemals waren in diesem, seiner neuen Bestimmung kaum genügenden Gebäude die unfreiwilligen Gefangenen von heutzutage gefolgt.

Die Kammer, in die Joam Dacosta gebracht worden war, war durchaus nicht eine jener traurigen Zellen, wie sie das Strafsystem der Neuzeit hat. Es war ein ehemaliges Mönchsgemach mit einem Fenster, das keinen Laden hatte, aber vergittert war und auf ein weites ödes Land hinaussah, mit einer Bank in einer Ecke, einer Art Pritsche in einer andern und einigen plumpen Gebrauchsgegenständen.

An diesem Tage, dem 25. August, wurde Joam Dacosta gegen 11 Uhr vormittags aus diesem Zimmer geführt und in das Vernehmungs-Kabinett gebracht, die ehemalige, gemeinsame Halle des Klosters.

Hier vor seinem Schreibtisch, auf seinem hohen Stuhle, saß der Richter Jarriquez, mit dem Rücken nach dem Fenster, damit sein Gesicht im Schatten blieb, während das des Verurteilten voll ins Licht gerückt war.

Sein Schreiber saß am Ende des Tisches, die Feder hinterm Ohr, mit der Gleichgiltigkeit, die diese Gerichtsbeamten charakterisiert, die stets in Bereitschaft sind, alle Fragen und Antworten genau zu Protokoll zu nehmen.

Joam Dacosta wurde in das Kabinett geführt, und auf einen Wink entfernten sich die Wärter, die ihn begleitet hatten.

Der Richter Jarriquez betrachtete den Verurteilten lange. Dieser hatte sich vor ihm verneigt und bewahrte eine schickliche Haltung, weder unverschämt, noch unterwürfig: mit Würde erwartete er, daß er befragt würde und antworten sollte.

»Ihr Name?« fragte der Richter Jarriquez.

»Joam Dacosta.«

»Ihr Alter?«

»52 Jahre.«

»Sie wohnen?«

»In Peru, bei der Ortschaft Iquitos.«

»Unter welchem Namen?«

»Unter dem Namen Garral, dem Namen meiner Mutter.«

»Und weshalb führten Sie diesen Namen?«

»Weil ich mich 23 Jahre lang den Verfolgungen der brasilianischen Justiz habe entziehen wollen.«

Die Antworten waren so klar und bekundeten so deutlich, daß Joam Dacosta entschlossen war, über Vergangenheit und Gegenwart volle Rechenschaft zu geben, daß der Richter Jarriquez, der diese Art zu verfahren nicht gewöhnt war, seine Nase steiler aufrichtete, als sonst.

»Und weshalb,« fuhr er fort, »konnte die brasilianische Justiz Sie verfolgen?«

»Weil ich im Jahre 1826 in der Diamanten-Angelegenheit von Tijuco zum Tode verurteilt worden war.«

»Sie geben also zu, Joam Dacosta zu sein?«

»Ich bin Joam Dacosta.«

All dies wurde mit großer Ruhe geantwortet, als handle es sich um die einfachste Sache von der Welt. Die kleinen Augen des Richters erweiterten sich und schienen zu sagen: »Das Ding geht ja von ganz allein.«

Allein es kam der Augenblick, daß die unvermeidliche Frage gestellt wurde und die unvermeidliche Antwort aller Angeklagten jeder Kategorie erfolgte – nämlich die Beteuerung der Unschuld.

»Joam Dacosta,« fragte er, »was machen Sie in Iquitos?«

»Ich bin Fazendero und bewirtschafte eine bedeutende Ansiedlung.«

»Geht sie gut?«

»Ganz ausgezeichnet.«

»Und seit wann haben Sie die Fazenda verlassen?«

»Seit etwa neun Wochen.«

»Aus welchem Grunde?«

»Hier, Herr Richter, habe ich einen Vorwand gebraucht,« antwortete Joam Dacosta, »aber in Wahrheit hatte ich einen Grund.«

»Welches war der Vorwand?«

»Einen ganzen Schleppzug von Holz und eine Ladung verschiedener Produkte des Amazonas nach Para zu bringen.«

»Ah!« machte der Richter Jarriquez, »und welches war der wirkliche Grund Ihrer Abreise?«

Und als er diese Frage stellte, sagte er sich:

»Jetzt kommen wir endlich auf das Gebiet der Verneinungen und Lügen!«

»Der wahre Beweggrund,« antwortete mit fester Stimme Joam Dacosta, »war mein fester Entschluß, mich der Justiz meines Vaterlandes zu überliefern!«

»Sich zu überliefern!« rief der Richter, sich auf seinem Stuhle in die Höhe richtend. »Sich zu überliefern? – Aus freien Stücken!«

»Aus freien Stücken!«

»Und weshalb?«

»Weil ich genug hatte, weil ich sattsam genug hatte von diesem lügenhaften Leben, von diesem Zwang, unter falschem Namen zu leben, von dieser Unmöglichkeit, meiner Frau und meinen Kindern den Namen wiederzugeben, der ihnen gebührt, schließlich, mein Herr, weil ich ...«

»Weil Sie ...?«

»Unschuldig bin!«

»Das habe ich erwartet,« sagte der Richter Jarriquez beiseite.

Und während seine Finger einen schon etwas tonreicheren Marsch trommelten, machte er eine Kopfbewegung nach Joam Dacosta, die deutlich besagte:

»Weiter! Erzählen Sie Ihre Geschichte, sie ist mir zwar bekannt, aber ich will Sie nicht hindern, dieselbe in Ihrer Lesart vorzubringen.«

Joam Dacosta, der sich zwar über diese wenig ermutigende Veranlagung des Beamten nicht täuschte, wollte dies dennoch nicht bemerken. Er erzählte daher die ganze Geschichte seines Lebens, er sprach nüchtern, ohne die Ruhe zu verlieren, die er sich auferlegt hatte, ohne einen der Umstände auszulassen, die seiner Verurteilung vorausgegangen oder gefolgt waren.

Im übrigen rühmte er sich nicht des ehrbaren und an Ehren reichen Lebens, das er seit seiner Flucht geführt hatte, noch seiner Verdienste als Familienhaupt, Gatte und Vater, die er so würdevoll erworben. Nur einen Umstand hob er besonders hervor – daß er nach Manaos gekommen sei, eine Revision seines Prozesses herbeizuführen und die Wiederherstellung seiner Ehre erlangen wolle – ohne daß etwas ihn dazu tatsächlich gezwungen hätte.

Naturgemäß gegen jeden Angeklagten voreingenommen, unterbrach der Richter Jarriquez ihn nicht. Er beschränkte sich darauf, die Augen auf und zu zu machen, wie jemand, der eine Geschichte zum hundertsten Male hört; und als Joam Dacosta den Bericht, den er selber geschrieben hatte, auf den Tisch legte, machte er keine Bewegung, ihn zur Hand zu nehmen.

»Sind Sie fertig?« fragte er.

»Jawohl, mein Herr.«

»Und Sie bleiben bei Ihrer Behauptung, Iquitos aus keinem andern Grunde verlassen zu haben, als um die Revision Ihres Urteils zu erlangen?«

»Ich hatte keinen andern Grund.«

»Und wo ist der Beweis dafür? Wo ist der Beweis, daß Sie ohne die Denunziation, die zu Ihrer Verhaftung führte, sich überliefert hätten?«

»Zuvörderst in diesem Bericht,« antwortete Joam Dacosta.

»Dieser Bericht war in Ihren Händen, und nichts bezeugt, daß Sie den Gebrauch, den Sie angeben, davon gemacht hätten, wenn Sie nicht verhaftet worden wären.«

»Es existiert aber wenigstens ein Schriftstück, Herr Richter, das nicht mehr in meinen Händen ist und dessen Urheberschaft nicht anzuzweifeln ist.«

»Was für eines?«

»Der Brief, den ich Ihrem Vorgänger, dem Richter Ribeiro, geschrieben habe und worin ich ihm von meiner bevorstehenden Ankunft Mitteilung machte.«

»Ah! Sie hatten ihm geschrieben?«

»Ja, und dieser Brief, der an seine Adresse gelangt sein muß, muß auch sogleich Ihnen übergeben worden sein.«

»Wirklich!« sagte der Richter Jarriquez in etwas ungläubigem Tone. »Sie hatten an den Richter Ribeiro geschrieben?«

»Ehe der Richter Ribeiro Oberrichter dieser Provinz wurde,« antwortete Joam Dacosta, »war er Advokat in Villa Rica. Bei dem Prozeß von Tijuco hat er mich verteidigt. Er zweifelte nicht daran, daß meine Sache gut wäre. Er hat alles getan, um mich zu retten. Als er zwanzig Jahre später zum ersten Gerichtsherrn in Manaos ernannt worden war, teilte ich ihm mit, unter welchem Namen und wo ich lebte und was ich vorhatte. Seine Ueberzeugung in meiner Sache war noch die gleiche, und auf seinen Rat hin habe ich die Fazenda verlassen und bin selber hergekommen, um meine Ehre wieder herzustellen. Aber unvermutet hat ihn der Tod abgerufen, und ich bin vielleicht verloren, wenn ich in dem Richter Jarriquez nicht das finde, was mir der Richter Ribeiro war!«

Der Beamte, in dieser Weise direkt herangezogen, sah sich trotz aller richterlichen Gepflogenheiten versucht, emporzuspringen, aber er beruhigte sich und murmelte nur:

»Sehr stark, wahrhaftig sehr stark!«

Der Richter Jarriquez hatte scheinbar, da wo bei andern das Herz sitzt, bloß Knorpel, und war gegen jede Ueberraschung gefeit.

In diesem Augenblick trat ein Wärter herein und legte ein versiegeltes Kuvert vor den Beamten.

Dieser erbrach das Siegel und entnahm der Hülle einen Brief. Er öffnete ihn und las ihn, wobei sich seine Brauen zusammenzogen.

Dann sagte er:

»Ich habe keinen Grund, Joam Dacosta, Ihnen zu verheimlichen, daß hier der erwähnte Brief an den Richter Ribeiro angekommen und mir übergeben worden ist. Es liegt also keine Ursache mehr vor, das, was Sie inbetreff dieses Briefes gesagt haben, zu bezweifeln.«

»Ebenso wenig Ursache, wie all das zu bezweifeln,« antwortete Joam Dacosta, »was ich über alle Verhältnisse und Umstände meines Lebens Ihnen mitgeteilt habe!«

»Eh, Joam Dacosta!« erwiderte lebhaft der Richter Jarriquez, »Sie beteuern Ihre Unschuld – aber das tun alle Angeklagten. Alles in allem bringen Sie nur moralische Beweise vor. Haben Sie denn jetzt einen faktischen Beweis?«

»Vielleicht, Herr Richter,« antwortete Joam Dacosta.

Nach diesen Worten verließ der Richter Jarriquez seinen Platz. Das ging ihm über die Hutschnur, und er mußte erst ein paarmal das Zimmer durchqueren, ehe er die nötige Ruhe wiedergewonnen hatte.


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