Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Was war geschehen? Ein rein physischer Vorgang, der sich folgendermaßen erklärte.
Das Kanonenboot des Staates, die Santa Ana, nach Manaos bestimmt, hatte auf ihrer Fahrt den Amazonas hinauf den Damm im Wasser überschritten. Kurz vor der Mündung des Rio Negro hatte es die Farben gehißt und die brasilianische Flagge mit einem Salutschuß begrüßt. Bei diesem Knall war eine vibrierende Bewegung der Wasserfläche erfolgt, die sich in die Tiefe fortgesetzt und genügt hatte, den infolge der schon beginnenden Zersetzung und Ausdehnung des Zellengewebes leichter gewordenen Leichnam Torres emporzuheben.
Ganz natürlich stieg der Körper des Ertrunkenen an die Oberfläche des Amazonenstromes.
Dieses wohlbekannte Phänomen erklärte das Auftauchen des Leichnams, aber es muß wohl zugegeben werden, daß das Eintreffen der Santa Ana auf dem Schauplatz dieser Nachforschungen ein sehr glücklicher Zufall war.
Auf einen Schrei Manuels hin, den all seine Gefährten wiederholten, war eine der Pirogen sofort nach der Leiche hin gefahren, während der Taucher zum Floß emporgezogen wurde.
Aber wer beschreibt Manuels Erschütterung, als Benito auf das Floß niedergelegt wurde in einem Zustande völliger Regungslosigkeit und Ohnmacht.
Keine Bewegung verriet mehr, daß noch Leben in ihm sei.
Hatten die Fluten des Amazonas hier einen zweiten Leichnam hergegeben?
So rasch wie möglich wurde dem Taucher der Skaphander-Anzug herunter gezogen.
Benito hatte unter den wuchtigen Schlägen des Gymnoten völlig das Bewußtsein verloren.
Außer sich vor Angst, rief ihn Manuel beim Namen. Dann horchte er auf die Schläge des Herzens.
»Es schlägt! es schlägt!« rief er.
Ja! Benitos Herz schlug noch, und in wenigen Minuten hatten die Bemühungen Manuels ihn ins Leben zurückgerufen.
»Der Leichnam! Der Leichnam!«
Das waren die ersten Worte, die einzigen, die sich Benitos Lippen entrangen.
»Da liegt er!« antwortete Fragoso und deutete auf die Piroge, die mit Torres Leiche auf das Floß zukam.
»Aber was ist dir zugestoßen, Benito?« fragte Manuel. »War es der Mangel an Luft?«
»Nein!« sagte Benito. »Ein Gymnote hatte sich auf mich geworfen! Aber dieser Lärm – dieser Krach!«
»Ein Kanonenschuß!« antwortete Manuel. »Ein Kanonenschuß hat den Leichnam zur Oberfläche emporgetrieben!«
In diesem Augenblick legte die Piroge an dem Floß an. Der Leichnam Torres', den die Indianer hereingenommen hatten, lag am Boden. Noch hatte das Wasser ihn nicht entstellt. Er war leicht wiederzuerkennen. Es war kein Zweifel möglich.
Fragoso, der in der Piroge kniete, hatte schon begonnen, die Kleider des Ertrunkenen abzustreifen, die in Fetzen hingen.
In diesem Augenblick zog der entblößte rechte Arm des Abenteurers seine Aufmerksamkeit auf sich. Auf diesem Arm zeigte sich deutlich die Narbe einer alten Wunde, die von einem Messerstoß herrühren mußte.
»Diese Narbe!« rief Fragoso. »Aber ... ganz richtig! ... Jetzt erinnere ich mich.«
»Was ist denn?« fragte Manuel.
»Ein Streit! – ja! ein Kampf, der in der Provinz Madeira vor meinen Augen stattfand. – Drei Jahre ist es her! – Wie habe ich das vergessen können! – Dieser Torres gehörte damals zu der Truppe der Buschhauptleute! – Ah, ich wußte doch gleich, daß ich diesen Elenden schon einmal gesehen hatte!«
»Nebensache momentan!« rief Benito. »Das Etui! – Das Etui! – Ist es noch bei ihm?«
Und Benito wollte die letzten Kleider von dem Leichnam herunterreißen, um sie zu durchsuchen.
Manuel hielt ihn zurück.
»Einen Augenblick, Benito,« sagte er.
Dann wandte er sich nach den Arbeitern, die nicht zum Personal der Jangada gehörten und deren Zeugenschaft später nicht beanstandet werden konnte.
»Gebt wohl acht, meine Freunde,« sagte er zu ihnen, »auf alles, was wir hier tun, damit Ihr vor der Behörde bezeugen könnt, wie sich alles zugetragen hat.«
Die Männer traten an die Piroge heran.
Fragoso löste jetzt den Gürtel, der Torres' Leib unter dem zerrissenen Puncho umschlang und durchsuchte die Tasche des Wamses.
»Das Etui!« rief er.
Ein Freudenschrei entrann Benito. Er wollte das Etui ergreifen, um es zu öffnen, um zu sehen, was es enthielt.
»Nein,« sagte Manuel abermals, den die Kaltblütigkeit nicht verließ, »die Behörde darf nicht den mindesten Zweifel haben. Unbeteiligte Zeugen müssen bestätigen können, daß dieses Etui bei der Leiche Torres' gefunden wurde!«
»Tu hast recht!« antwortete Benito.
»Mein Freund,« fuhr Manuel fort und wandte sich an den Werkführer, »durchsuchen Sie selbst die Tasche dieses Wamses.«
Der Werkführer gehorchte. Er zog ein metallnes Etui hervor, dessen Deckel hermetisch geschlossen war und das durch das Wasser noch nicht im mindesten gelitten zu haben schien.
»Das Schriftstück! ... Das Schriftstück! Ist es noch drin?« rief Benito, der sich nicht zu halten vermochte.
»Dieses Etui darf nur die Behörde öffnen!« antwortete Manuel. »Ihr allein kommt es zu, nachzusehen, ob ein Schriftstück in diesem Etui ist.«
»Ja – ja – du hast wieder recht, Manuel!« antwortete Benito. »Nach Manaos, meine Freunde, nach Manaos.«
Benito, Manuel, Fragoso und der Werkführer, der das Etui in der Hand hatte, bestiegen sogleich eine der Pirogen und wollten fort, als Fragoso sagte:
»Und die Leiche?«
Die Piroge machte Halt.
In der Tat hatten die Indianer den Leichnam des Abenteurers schon wieder ins Wasser geworfen, und er trieb an der Oberfläche.
»Torres war nur ein Schurke,« sagte Benito. »Wenn ich ehrlich mein Leben gegen das seine wagte, so hat Gott ihn durch meine Hand getroffen, aber dennoch darf seine Leiche nicht unbestattet bleiben.«
Der zweiten Piroge wurde daher die Weisung gegeben, die Leiche wieder hereinzuholen, um sie am Ufer zu bestatten.
Aber in diesem Augenblicke stürzte sich eine Schaar Raubvögel, die über dem Wasser hinstrich, auf die treibende Leiche. Es waren Arubas, eine Art kleiner Geier mit nacktem Halse und langen Pfoten, schwarz wie Raben, welche in Südamerika »Gallinazos« heißen und von beispielloser Gefräßigkeit sind.
Der von ihren Schnäbeln zerfetzte Körper ließ das Gas, das ihn anfüllte, entströmen, seine Schwere nahm wieder zu, und er versank wieder allmählich. Endgültig verschwanden die Ueberreste Torres' in der Flut des Amazonenstromes.
Zehn Minuten später langte die pfeilschnell geruderte Piroge im Hafen von Manaos an. Benito und seine Gefährten stiegen an Land und eilten durch die Straßen der Stadt.
In wenigen Minuten waren sie in der Wohnung des Richters Jarriquez und ließen ihn durch einen seiner Diener bitten, er möge sie auf der Stelle empfangen.
Der Richter erteilte Befehl, sie in sein Kabinett zu führen.
Hier stattete Manuel Bericht von allem ab, was vorgefallen war seit dem Augenblick, da Torres, in einem rechtmäßigen Zweikampf von Benito tödlich verwundet worden war, bis zu dem Augenblick, da an seiner Leiche das Etui gefunden Und von dem Werkführer aus der Tasche jenes Wamses herausgenommen worden war.
Obwohl dieser Bericht geeignet war, alles zu bekräftigen, was Joam Dacosta ihm über Torres' und den von diesem angebotenen Handel gesagt hatte, konnte der Richter Jarriquez sich doch nicht enthalten, ungläubig zu lächeln.
»Hier ist das Etui, mein Herr,« sagte Manuel. »Nicht einen einzigen Augenblick ist es in unsern Händen gewesen, und der Mann, der es Ihnen reicht, ist derselbe, der es an dem Leichnam Torres' gefunden hat.«
Der Richter nahm das Etui und untersuchte es sorgfältig, indem er es hin und her wandte, wie man wohl mit einem kostbaren Gegenstande tut. Dann schüttelte er es, und ein paar Geldstücke, die dann enthalten waren, gaben einen metallischen Klang.
Enthielt das Etui also nicht jenes so sehr gesuchte Schriftstück, das von dem wahren Schuldigen des Verbrechens eigenhändig geschriebene Blatt, das Torres um einen schändlichen Preis an Joam Dacosta hatte verkaufen wollen? War jener faktische Beweis für die Unschuld des Verurteilten unrettbar verloren?
Man errät leicht, in welcher heftigen Erregung die Zeugen dieses Schauspiels waren. Benito vermochte kaum ein Wort hervorzubringen, sein Herz klopfte, als wollte es bersten.
»So öffnen Sie, Herr, so öffnen Sie das Etui!« rief er endlich tonlos.
Der Richter Jarriquez begann den Deckel zu heben; als der Deckel dann endlich abgenommen war, drehte er das Etui herum, aus dem ein paar Goldstücke auf den Tisch rollten.
»Aber das Schriftstück! – Das Schriftstück!« rief nochmals Benito, der sich am Tisch festhielt, um nicht zu fallen.
Der Richter steckte die Finger in das Etui und zog nicht ohne Schwierigkeit ein vergilbtes, sorgsam zusammengefaltetes Papier hervor, das vom Wasser verschont worden zu sein schien.
»Das Dokument! Das Dokument!« rief Fragoso. »Ja! Das ist das Papier, das ich in Torres Händen gesehen habe!«
Der Richter Jarriquez faltete das Papier auseinander, betrachtete es scharf und drehte es dann herum, indem er Vor- und Rückseite untersuchte, die mit ziemlich großer, plumper Schrift bedeckt waren.
»Allerdings ein Dokument,« sagte er, »daran ist nicht zu zweifeln. Ein Dokument ist es.«
»Jawohl,« antwortete Benito, »und zwar das Dokument, das die Unschuld meines Vaters bekundet.«
»Das kann ich nicht erkennen,« versetzte der Richter Jarriquez, »und ich fürchte, es ist vielleicht auch nicht so leicht, das zu erkennen.«
»Wieso?« rief Benito, der totenblaß wurde.
»Weil dieses Dokument in kryptologischer Sprache – als Geheimschrift – aufgesetzt ist,« antwortete der Richter Jarriquez, »und weil zu dieser Geheimschrift –«
»Nun?«
»Der Schlüssel fehlt uns.«