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Achtzehntes Kapitel.
Letzte Bemühungen

Inzwischen erschöpfte nicht nur der Richter seine Kraft in ergebnislosen Bemühungen. Benito, Manuel und Minha hatten sich zu gemeinsamer Arbeit vereint, um dem Schriftstück das Geheimnis zu entreißen, von dem das Leben ihres Vaters abhing.

Fragoso seinerseits, dem Lina zur Seite stand, wollte nicht zurückbleiben; aber all ihr Scharfsinn hatte nichts genutzt, und die Zahl war noch immer nicht gefunden.

»So finde sie doch, Fragoso!« hatte die junge Mulattin ihm immer wieder gesagt. »So finde sie doch!«

»Ich werde sie finden,« antwortete Fragoso.

Und er fand sie doch nicht.

Fragoso trug sich jedoch mit dem Gedanken, einen Plan auszuführen, von dem er, selbst Lina gegenüber, nichts verlauten lassen wollte – ein Plan, der in seinem Gehirn auch zur fixen Idee geworden war: nämlich sich auf die Suche nach jener Truppe zu begeben, der der ehemalige Buschkapitän angehört hatte, und zu entdecken, wer der Verfasser des chiffrierten Schriftstückes, der sich des Raubmordes von Tijuco schuldig bekannt hatte, gewesen sein könne.

Der Teil der Amazonenprovinz, in welcher diese Truppe tätig gewesen war, der Ort selber, wo Fragoso vor mehreren Jahren mit ihr zusammengetroffen war, der Bezirk, für den sie bestimmt war, lag nicht allzuweit von Manaos. Man brauchte nur etwa 50 Meilen stromab zu gehen, nach der Mündung des Madeira zu, eines rechten Nebenflusses, und dort konnte man ohne Zweifel den Befehlshaber der »Capitano do mato« treffen, der Torres unter sich gehabt hatte.

In zwei bis drei Tagen konnte sich Fragoso mit den ehemaligen Kameraden des Abenteurers in Verbindung gesetzt haben.

»Ja, das kann ich ohne Frage tun,« wiederholte er bei sich selbst, »aber was dann? Was wird das für einen Erfolg haben, vorausgesetzt, daß es mir überhaupt glückt? Wenn wir auch die Gewißheit haben, daß einer von Torres' Gefährten vor kurzem gestorben ist, beweist das denn, daß das der Urheber des Verbrechens ist? Beweist das, daß er Torres ein Schriftstück übergeben hat, in welchem er sein Verbrechen gesteht und Joam Dacosta entlastet? Wird schließlich auf diese Weise der Schlüssel zu dem Schriftstück gefunden? Nein! Zwei Männer allein kennen die Chiffre. Der Schuldige und Torres! Und diese beiden Männer sind nicht mehr!«

So bedachte sich Fragoso. Es war nur zu klar, daß es zu nichts führen würde, wenn er sich auf den Weg machte. Und doch hatte dieser Gedanke ihn völlig in der Gewalt. Eine unwiderstehliche Macht trieb ihn zum Aufbruch, obwohl er es nicht einmal verbrieft hatte, daß er die Miliz vom Madeira überhaupt finden würde.

Die Truppe konnte in irgend einem Teil der Provinz auf einem Streifzug sein und dann war, um zu ihr zu gelangen, mehr Zeit nötig, als ihm zu Gebote stand. Und was hatte es zu guterletzt für einen Zweck? Was wurde damit erreicht?

Nichtsdestoweniger ist es Tatsache, daß am folgenden Tage, dem 29. August, Fragoso vor Sonnenaufgang, ohne irgendwem etwas davon zu sagen, heimlich die Jangada verließ, nach Manaos ging und sich auf eine der zahlreichen Egariten begab, die täglich den Amazonas hinunterfahren.

Und als man ihn nun nicht mehr an Bord fand und er auch den ganzen Tag über nicht wieder erschien, so war aller Erstaunen groß. Niemand, selbst die junge Mulattin nicht, konnte sich das Verschwinden des so treuen Dieners in so ernster Lage erklären.

Ob der arme Bursche aus Verzweiflung darüber, persönlich dazu beigetragen zu haben, daß Torres auf die Jangada kam, sich am Ende ein Leid zugefügt hatte?

Aber wenn Fragoso sich dies zum Vorwurf gemacht hätte, was sollte sich Benito sagen? Zum erstenmal hatte er Torres in Iquitos aufgefordert, mit auf die Fazenda zu kommen. Zum zweitenmal hatte er ihn in Tabatinga an Bord der Jangada gebracht. Das drittemal hatte er ihn herausgefordert, ihn getötet und den einzigen Zeugen vernichtet, dessen Zeugnis zu Gunsten des Angeklagten lauten konnte!

Und Benito gab sich die Schuld an allem, an der Verhaftung seines Vaters, an dem furchtbaren Unglück, das die Folge sein mußte!

Wenn Torres noch gelebt hätte, so wäre es, das konnte Benito sich sagen, vielleicht gelungen, den Abenteurer zur Herausgabe des Dokuments zu bewegen. Mit Geld hätte man vielleicht Torres, der ja selber in die Sache nicht verwickelt war, zum Sprechen bringen können. Dann wäre der so eifrig gesuchte Beweis dem Richter unterbreitet worden! Ja! Ohne Zweifel! Und der einzige Mann, der dieses Zeugnis ablegen konnte, war durch Benitos Hand gefallen!

Das sagte der unglückliche junge Mann immer wieder zu seiner Mutter, zu Manuel, zu sich selbst. Diese grausame Verantwortung lud er selber seinem Gewissen auf.

Yaquita, die alle ihr bewilligten Stunden bei ihrem Manne zubrachte, und andererseits ihren Sohn in eine Verzweiflung verfallen sah, die seine Vernunft gefährdet erscheinen ließ, die mutige Yaquita verlor ihre moralische Energie nicht.

Sie zeigte sich als die tapfere Tochter Magalhaes, des würdigen Gefährten des Fazendero von Iquitos.

Die Haltung Joam Dacostas war übrigens dazu angetan, sie in diesem Herzeleid aufrecht zu erhalten. Dieser brave Mann, ein strenger Puritaner, ein harter Arbeiter, dessen ganzes Leben nur ein Kampf gewesen war, zeigte sich nicht einen Augenblick schwach.

Der schrecklichste Schlag, der ihn getroffen hatte, ohne ihn niederzuschmettern, war der Tod des Richters Ribeiro, in dessen Geist kein Zweifel an seiner Unschuld bestanden hatte. Mit Hilfe seines ehemaligen Verteidigers hatte er um die Wiederherstellung seiner Ehre zu ringen gehofft!

Daß bei der ganzen Sache Torres dazwischen gekommen war, galt für ihn als Nebensache. Und übrigens war ihm vom Vorhandensein dieses Dokumentes noch nichts bekannt gewesen, als er sich entschlossen hatte, Iquitos zu verlassen und sich der Justiz seiner Heimat zu stellen.

Er brachte nur moralische Beweise mit. Sollte unvermutet im Verlauf der Angelegenheit vor oder nach seiner Verhaftung ein faktischer Beweis zum Vorschein gekommen sein, so war er gewiß nicht derjenige, der ihn verschmäht hätte; wenn aber infolge bedauerlicher Umstände dieser Beweis verschwunden war, dann war er in derselben Lage wie beim Ueberschreiten der brasilianischen Grenze, in der Lage eines Mannes, der da sagte:

»Hier meine Vergangenheit! Hier meine Gegenwart! Hier mein ganzes ehrenvolles Leben der Arbeit und Aufopferung! Euer erstes Urteil über mich war falsch! Nach 23 Jahren der Verbannung liefre ich mich aus. Hier bin ich. Richtet mich!«

Der Tod des Abenteurers und die Unlesbarkeit des bei ihm vorgefundenen Schriftstückes hatte daher auf Joam Dacosta keinen so lebhaften Eindruck machen können, wie auf seine Kinder, seine Freunde, seine Diener, kurz auf alle, die an ihm Anteil nahmen.

»Ich vertraue auf meine Unschuld,« sagte er immer wieder zu Yaquita, »wie ich auf Gott vertraue! Wenn er meint, daß mein Leben für die Meinen noch von Nutzen ist, und wenn ein Wunder geschehen muß, mich zu retten, so wird er dieses geschehen lassen – wenn nicht, so sterbe ich. Er allein ist der Richter!«

Inzwischen stieg die Erregung in Manaos mit der Zeit, die verfloß. Diese Angelegenheit wurde mit einer Leidenschaft ohne gleichen erörtert. Die öffentliche Meinung facht sich stets an geheimnisvollen Dingen an, und so war das Schriftstück der einzige Gesprächsgegenstand.

Am Ende dieses vierten Tages zweifelte kein Mensch mehr daran, daß es die Rechtfertigung des Verurteilten enthielt.

Uebrigens hatte jeder einzelne sich dahinter gemacht, den unverständlichen Inhalt zu entziffern. Das Diario do Gran Para hatte es im Faksimile veröffentlicht. Autographierte Exemplare waren in großer Anzahl verbreitet, und zwar war dies auf Manuels Veranlassung geschehen, der nichts unterlassen wollte, was zur Enthüllung des Geheimnisses dienen konnte.

Außerdem war eine Belohnung von 100 Kontos 300 000 Francs = 210 000 Mk. für den ausgesetzt, der die vergebens gesuchte Chiffre des Dokuments fand oder eine Lösung des Rätsels herbeiführte. Das war ein Vermögen. So vergaßen die Leute aller Stände Essen, Trinken und Schlafen und machten sich mit verzweifeltem Eifer über das unlösbare Kryptogramm her.

Bisher war jedoch alles vergeblich gewesen, und es ist nur zu wahrscheinlich, daß selbst die sinnreichsten Analytiker der Welt sich vergeblich um die Nachtruhe gebracht haben würden.

Es war öffentlich bekannt gegeben worden, daß jede Lösung unverzüglich dem Richter Jarriguez nach seinem Hause in der Straße Gottes des Sohnes zu melden sei; aber am Abend des 29. August war noch nichts gekommen, und jedesfalls sollte auch überhaupt nichts kommen!

Von allen, die sich diesem kopfbrecherischen Studium widmeten, war tatsächlich der Richter Jarriguez am meisten zu bedauern. Infolge einer ganz natürlichen Gedankenverknüpfung teilte auch er jetzt die allgemeine Ansicht, daß das Dokument sich auf das Verbrechen von Tijuco bezog, daß es von der Hand des Schuldigen selber geschrieben war und daß es Joam Dacosta entlastete.

Mit um so größerer Begierde ging er weiter daran, den Schlüssel zu suchen. Nicht nur der Geschmack an dieser eigenartigen Kunst leitete ihn, sondern ein Drang der Gerechtigkeit, des Mitleids gegen einen Mann, den eine ungerechte Verurteilung getroffen hatte.

Und doch dachte der Richter Jarriguez nicht daran, die Flinte ins Korn zu werfen. Wenn er jetzt nur noch auf den Zufall rechnete, dann mußte dieser Zufall ihm zu Hilfe kommen, er wollte es! Er suchte ihn auf alle mögliche und unmögliche Weise herauszufordern. Bei ihm war es zur frenetischen Raserei ausgeartet, aber das Schlimme war, daß es eine ohnmächtige Raserei blieb.

Was er während des letzten Teiles dieses Tages an verschiedenen, immer ganz willkürlich gewählten Zahlen probierte – davon hätte man sich keine Vorstellung machen können. Ja, wenn er Zeit dazu gehabt hätte, er hätte kein Bedenken getragen, sich in die Millionen von Kombinationen zu stürzen, die durch die zehn Zeichen des Zahlensystems sich bilden ließen! Er hätte dieser Arbeit sein ganzes Leben geweiht, selbst auf die Gefahr hin, darüber verrückt zu werden. Verrückt! Eh! War er es nicht schon?

Dann kam ihm der Gedanke, daß das Dokument vielleicht von hinten gelesen werden mußte. Er drehte es daher um, hielt es gegen das Licht und versuchte es auf diese Weise.

Den Kopf in den Händen, wie zerschlagen, moralisch und physisch erschöpft, hatte der Richter Jarriquez nicht mehr die Kraft, sich zu bewegen, zu sprechen, zu denken, einen Gedanken an einen andern zu fügen.

Plötzlich ließ sich draußen Geräusch vernehmen. Gleich darauf öffnete sich entgegen seiner ausdrücklichen Weisung jäh die Tür.

Benito und Manuel standen vor ihm. Benito war schrecklich anzusehen, Manuel stützte ihn; denn der unglückliche junge Mann hatte kaum noch die Kraft, sich aufrecht zu halten.

Der Beamte hatte sich lebhaft erhoben.

»Was gibt es, meine Herren, was wollen Sie?« fragte er.

»Die Chiffre! ... die Chiffre!« rief Benito, wahnsinnig vor Schmerz. »Die Chiffre des Schriftstücks!«

»Kennen Sie sie?« rief der Richter Jarriquez.

»Nein, Herr,« versetzte Manuel. »Aber Sie ...?«

»Nichts! – nichts!«

»Nichts!« rief Benito.

Im Uebermaß der Verzweiflung zog er eine Waffe aus dem Gürtel und wollte sich erstechen.

Der Beamte und Manuel warfen sich auf ihn, und mit vieler Mühe gelang es ihnen, ihn zu entwaffnen.

»Benito,« sagte der Richter Jarriquez mit einer Stimme, die er zu ruhigem Tone zwang, »da Ihr Vater nicht mehr der Strafe für ein Verbrechen entgehen kann, das er gar nicht begangen hat, so hätten Sie wahrlich Besseres zu tun, als sich zu töten!«

»Was denn?« rief Benito.

»Sie müssen versuchen, ihm das Leben zu retten.«

»Und wie?«

»Das zu erraten, ist Ihre Sache,« antwortete der Richter. »Es ist nicht meines Amtes, Ihnen das zu sagen.«


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