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Als der Richter seinen Platz wieder eingenommen hatte, wie einer, der abermals die Herrschaft über sich völlig erlangt zu haben glaubt, drehte er sich auf seinem Sessel herum, hob den Kopf und richtete die Augen nach der Decke. Mit dem gleichgiltigsten Ton der Welt, ohne selbst den Angeklagten anzusehen, sagte er:
»Sprechen Sie!«
Joam Dacosta sammelte sich einen Augenblick, als zögere er, in diese Gedankenreihe einzutreten, und antwortete dann:
»Bisher, Herr Richter, habe ich Ihnen für meine Unschuld nur moralische Beweise gegeben, die auf die Würde und Ehrbarkeit meines Lebens gestützt sind. Ich hätte geglaubt, daß diese Beweise am würdigsten wären, vor Gericht vorgelegt zu werden –«
Der Richter Jarriquez konnte ein Achselzucken nicht unterlassen, welches besagte, daß er anderer Meinung sei.
»Da diese nicht genügen, so bin ich vielleicht imstande, faktische Beweise beizubringen,« fuhr Joam Dacosta fort, »ich sage vielleicht, denn ich weiß noch nicht was für Bedeutung ihnen beizumessen ist. So habe ich auch, Herr Richter, hierüber weder zu meiner Frau noch zu meinen Kindern gesprochen, da ich ihnen keine Hoffnung machen will, in der sie getäuscht werden könnten.«
»Allerdings,« warf der Richter Jarriquez ein.
»Ich habe alle Ursache, zu glauben, Herr Richter, daß meine Verhaftung am Tage nach der Ankunft der Jangada in Manaos auf eine beim Polizeichef angebrachte Denunziation hin erfolgt ist.«
»Sie irren sich nicht, Joam Dacosta, aber ich muß Ihnen sagen, daß diese Denunziation anonym war.«
»Das macht nichts, da ich doch weiß, daß sie von keinem andern ausgegangen ist als von einem Schurken mit Namen Torres.«
»Und mit welchem Recht,« fragte der Richter Jarriquez, »bezeichnen Sie so diesen – Denunzianten?«
»Ein erbärmlicher Schurke, jawohl, Herr Richter!« antwortete lebhaft Joam Dacosta. »Dieser Mann, den ich gastfreundlich aufgenommen hatte, war nur zu dem Zwecke zu mir gekommen, um mir den Vorschlag zu machen, ich solle sein Schweigen erkaufen, um mir einen schändlichen Handel anzubieten, den von mir gewiesen zu haben ich nie bereuen werde, was für Folgen seine Denunziation auch haben mag!«
»Immer das gleiche System!« dachte der Richter Jarriquez. »Andere anklagen, um sich selber zu entlasten.«
Aber nichtsdestoweniger hörte er mit gespannter Aufmerksamkeit den Bericht, den Joam Dacosta von seinen Beziehungen zu diesem Abenteurer abstattete bis zu dem Augenblick, wo Torres ihm eröffnete, daß er ihn kenne und in der Lage sei, den Namen des wahren Urhebers des Ueberfalls von Tijuco zu enthüllen.
»Und welches ist der Name dieses Schuldigen?« fragte der Richter Jarriquez, aus seiner Gleichgiltigkeit gebracht.
»Ich kenne ihn nicht,« antwortete Joam Dacosta. »Torres hat sich wohl gehütet, ihn zu nennen.«
»Und lebt dieser Schuldige?«
»Er ist tot.«
Die Finger des Richters Jarriquez trommelten schneller und er konnte sich nicht enthalten, zu erwidern:
»Also der große Unbekannte! Der Mann, der den Beweis von der Unschuld eines Angeklagten erbringen könnte, lebt in der Regel nicht mehr.«
»Wenn der wirkliche Schuldige auch tot ist, Herr Richter,« antwortete Joam Dacosta, »so lebt doch wenigstens Torres, und er hat mir versichert, daß er den ganz von der Hand des Schuldigen geschriebenen Beweis in Händen habe. Er hat mir ja den Kauf angeboten.«
»Eh, Joam Dacosta,« versetzte der Richter Jarriquez, »es wäre nicht zu teuer gewesen, wenn Sie diesen Beweis mit Ihrem ganzen Vermögen bezahlt hätten.«
»Wenn Torres nur mein Vermögen verlangt hätte, so hätte ich es hingegeben, und nicht einer meiner Angehörigen hätte Einspruch erhoben! Ja, Sie haben recht, mein Herr, wenn man seine Ehre wieder haben will, kann man nicht zu viel dafür bezahlen. Aber dieser Elende wußte, daß ich seiner Gnade anheim gegeben war, und verlangte mehr als mein Vermögen.«
»Was denn?«
»Die Hand meiner Tochter sollte der Preis sein! Ich habe es abgeschlagen, ich habe mich dem Gericht überliefert und stehe nun vor Ihnen.«
»Und wenn Torres Sie nicht denunziert hätte,« fragte der Richter Jarriquez, »wenn Torres Ihnen nicht auf Ihrer Reise begegnet wäre, was hätten Sie getan, wenn Sie bei Ihrer Ankunft hier erfahren hätten, daß der Richter Ribeiro gestorben sei? Hätten Sie sich auch dann noch der Justiz überliefert?«
»Ohne jedes Bedenken,« antwortete Joam Dacosta mit fester Stimme, »denn ich wiederhole, meine Reise von Iquitos nach Manaos hatte ja lediglich diesen Zweck.«
Dies wurde in einem so echten Ton der Wahrhaftigkeit gesprochen, daß der Richter Jarriquez sich an jener Stelle des Herzens, wo die Ueberzeugungen sich bilden, von einer eigentümlichen Regung durchdrungen fühlte. Aber er ergab sich noch nicht.
Dies dürfte nicht wunder nehmen. Als Beamter, der diese Vernehmung leitete, wußte er nichts von dem, was denen bekannt ist, die Torres vom Beginn dieser Erzählung an gefolgt sind. Diese können nicht daran zweifeln, daß Torres den faktischen Beweis von der Unschuld Joam Dacostas in Händen hatte. Sie haben die Gewißheit, daß das Schriftstück existierte, worin dieser Beweis enthalten war, und werden sich vielleicht bewogen fühlen, zu glauben, daß der Richter Jarriquez von grausamer Ueberzeugung beherrscht sei.
Aber sie mögen folgendes bedenken: Der Richter Jarriquez ist nicht in ihrer Lage; er ist an die unabänderlichen Beteuerungen der Angeschuldigten, die die Justiz ihm überweist, gewöhnt. Das Schriftstück, auf das Joam Dacosta sich beruft, ist ihm noch nicht vorgelegt worden. Er weiß nicht einmal, ob es tatsächlich existiert, und schließlich steht ein Mann vor ihm, dessen Schuldigkeit für ihn kraft eines gefällten rechtskräftigen Urteils feststeht.
Inzwischen wollte er, vielleicht aus Kuriosität, versuchen, Joam Dacosta doch noch in die Enge zu treiben.
»Also,« sagte er, »ruht Ihre ganze Hoffnung jetzt auf der Erklärung, die dieser Torres gemacht hat?«
»Ja, Herr Richter,« antwortete Joam Dacosta, »sofern nicht mein ganzes Leben schon für mich spricht.«
»Wo glauben Sie, daß sich Torres zur Zeit befindet?«
»Ich denke, er muß in Manaos sein.«
»Und Sie hoffen, daß er sprechen wird, daß er einwilligen wird, gutwillig das Dokument herauszugeben, für das Sie ihm den verlangten Preis verweigert haben?«
»Das hoffe ich, Herr Richter,« antwortete Joam Dacosta. »Die Situation ist für Torres jetzt nicht mehr die gleiche. Er hat mich denunziert, und infolgedessen kann er keine Hoffnung mehr hegen, das Geschäft unter den Bedingungen fortzuführen, unter denen er es abschließen wollte. Aber dieses Schriftstück kann ihm immer noch ein Vermögen wert sein, das, wenn ich freigesprochen oder verurteilt werde, ihm für immer verloren geht. Da er nun lediglich ein Interesse daran hat, mir dieses Schriftstück zu verkaufen, ohne daß er dabei irgendwie Schaden leiden kann, so denke ich, er wird seinem Interesse gemäß handeln.«
An den Ausführungen Joam Dacostas war nichts abzustreiten. Dies fühlte der Richter Jarriquez wohl. Es war nur der eine Einwand nötig:
»Mag sein! Torres hat ohne Zweifel ein Interesse daran, Ihnen dieses Schriftstück zu verkaufen – wenn dieses Schriftstück überhaupt existiert!«
»Wenn es nicht existiert, Herr Richter,« antwortete Joam Dacosta mit durchdringender Stimme, »bleibt mir nichts weiter übrig, als mich der menschlichen Gerechtigkeit anheim zu geben und die göttliche Gerechtigkeit abzuwarten.«
Nach diesen Worten erhob sich der Richter Jarriquez und sagte diesmal in weniger gleichgiltigem Tone:
»Joam Dacosta, indem ich Sie hier befragt habe und Ihnen Gelegenheit gegeben habe, die Einzelheiten Ihres Lebens darzulegen und Ihre Schuldlosigkeit zu beteuern, bin ich weiter gegangen, als eigentlich meines Amtes ist. Eine Untersuchung in dieser Sache hat schon stattgehabt, und Sie haben vor dem Schwurgericht von Villa Rica gestanden, dessen Wahrspruch ohne Zubilligung mildernder Umstände einstimmig abgegeben worden ist. Sie sind verurteilt worden wegen Anstiftung und Beteiligung an dem Diamantendiebstahl von Tijuco, die Todesstrafe ist über Sie ausgesprochen worden, und nur durch eine Flucht haben Sie dem Urteil entrinnen können. Aber ob Sie nun jetzt nach 23 Jahren der Justiz sich haben selber überantworten wollen oder nicht, jedesfalls sind Sie eben wieder in Haft. Ein letztes Mal, Sie geben zu, daß Sie Joam Dacosta sind, der wegen des Diamantendiebstahls verurteilt worden ist?«
»Ich bin Joam Dacosta.«
»Sie sind bereit, diese Erklärung schriftlich abzugeben?«
»Ich bin bereit.«
Und mit einer Hand, die nicht zitterte, setzte Joam Dacosta seinen Namen unter das Protokoll, das der Richter Jarriquez von seinem Schreiber hatte aufsetzen lassen.
»Der an den Justizminister adressierte Bericht wird nach Rio de Janeiro abgehen,« sagte der Richter. »Es werden einige Tage vergehen, ehe wir den Befehl erhalten, das Urteil zu vollstrecken, das über Sie verhängt ist. Wenn also, wie Sie sagen, Torres den Beweis für Ihre Unschuld besitzt, so tun Sie es selbst oder lassen Sie die Ihrigen alle Hebel in Bewegung setzen, damit er diesen Beweis zur rechten Zeit herausgibt! Wenn der Vollstreckungsbefehl eingetroffen ist, so ist kein Aufschub mehr möglich, und die Gerechtigkeit wird ihren Lauf nehmen.«
Joam Dacosta verneigte sich.
»Wird mir erlaubt sein, Frau und Kinder zu sehen?« fragte er.
»Gleich heute, wenn Sie wollen,« antwortete der Richter Jarriquez, »sie können zu Ihnen geführt werden, sobald sie kommen.«
Dann klingelte der Beamte. Die Wächter traten ein und führten Joam Dacosta ab.
Der Richter Jarriquez sah ihm kopfschüttelnd nach.
»Eh, eh! Das ist seltsamer, als ich gedacht hätte,« murmelte er.