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Zu Lutzerath oben saß der Friedensrichter am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Es war sehr still um ihn und sehr einsam. Gott sei Dank, daß der Winter vorbei war und die Diligencen die Poststraße Koblenz-Trier wieder passieren konnten! Der Schnee hatte manchen Tag jeden Verkehr in der Eifel unmöglich gemacht. Er hatte zwar Leute zum Schaufeln befohlen, und die Bauern hatten Pferde herleihen müssen, aber es war alles umsonst gewesen. Der jäh steigende, steinige Weg im Martertal war selbst zur guten Jahreszeit nur mit Vorspann möglich, jetzt schaffte es selbst kein Sechsgespann. Umgestürzt war der Postwagen am letzten März noch.
Zwei Juden hatten darin gesessen, die hatten mächtig geschrien. Sie kamen von Trier, hatten da Ware erhandelt und wollten nun heimwärts. Moyses Mohnsam aus Bridel und Herz Rosenblatt aus Reil. Ihre Packen lagen im Schnee. Sie waren untröstlich: wie sollten sie nun kommen herunter an die Mosel mit all ihrem Gepäck? Herz Rosenblatt war bescheiden, Moyses Mohnsam aber streitbar; der räsonierte: wie sollte ein armer Handelsmann sein Geschäft betreiben, wenn er nicht einmal fahren konnte sicher mit der Post!
Der Posthalter, ein bäuerlich ungelenker Mann, wurde nicht fertig mit Mohnsam, der war zu redegewandt und forderte Schadenersatz. Bitten, Beschwörungen, Klagen, Verwünschungen ergossen sich über den Posthalter; er wußte sich keinen Rat mehr, er hatte den Friedensrichter zu Hilfe gerufen.
In den Schnee war Mohnsam geschossen, mit dem Kopf zuerst, als er sich aus dem Fenster der Diligence beugte, um zu sehen, was los war. Seine Beine, die ein Stück aus dem Schnee ragten, zeigten nur an, wo er lag; »Zu Hilfe!« hatte er nicht schreien können, vom weißen Bett war er halb erstickt gewesen.
Rosenblatt hatte den Fuß verstaucht; er hockte jetzt beim Posthalter auf der Ofenbank und hielt sich den schmerzenden Knöchel. Zu allen Beschwerden, die sein Freund Moyses vorbrachte, nickte er nur bekräftigend.
Adami war ärgerlich: was hatten sie denn auch zu suchen auf der Landstraße bei solchem Wetter? »Hättet Ihr nicht warten können, bis der Schnee ganz vorbei ist?«
Das dünkte den Mohnsam schier lachbar; warten, warten, wenn man Hasenfelle zusammengeschleppt hat den ganzen Winter, und nun noch zwei schöne Kalbshäute dazu?! Mit der ersten Sonne kommen Motten und Maden, sie mußten zum Gerber und zum Kürschner; feine Winterfellchen, die brachten Geld ein. »Weiß der Herr nit, was handeln heißt? E schweres Geschäft, e sauer Stückle Brot!«
Was Mohnsam sonst noch an Handel zu machen gehabt hatte in Trier, das erzählte er aber nicht. Pulver und Blei wurden immer bei ihm verlangt; wenn der Frühling kommt und die Wälder dicht werden, dann noch einmal soviel. Der französische Kapitän, der ihn immer versorgte mit Munition, hatte wieder einen ordentlichen Batzen dafür in seinen Säckel gesteckt. Wenn das Pulver nur jetzt nicht naß geworden war vom durchdringenden Schnee! Von diesem Gedanken entsetzt, schrie Mohnsam den Rosenblatt an: »Hätt' ich nur auf dich nit gewartet, du Schaute mit deinen Mazzes! Vorm letzten Schneefall wär' ich dann schon derheim in Bridel gewesen. Nie geh ich mehr mit dir, du Schnorrer, bei mein Gesund, nie mehr!«
Das empörte den Rosenblatt, der bis dahin still und traurig gewesen. Er wäre schuld? Die Mazzes für Passah hatte er sich eingetauscht gleich am ersten Tag gegen das Mehl, das er brachte. Er hatte lange nicht soviel Zeit für geheime Geschäfte gebraucht wie der Moyses, sein Handel war nicht so bedeutend. Aber »Schnorrer« brauchte ihn der Moyses deswegen noch lange nicht zu schimpfen! Empört fuhr er von der Ofenbank auf trotz seines schmerzenden Fußes. Sie belferten einander an, gereizt durch ihr Mißgeschick und erregt durch die Angst, hier oben steckenzubleiben. Rosenblatt fühlte sich ganz als ehrlicher Mann: ei, wenn er erzählen wollte vom Mohnsam! In seiner Empörung über den »Schnorrer« und gepeinigt von Schmerzen vergaß Rosenblatt all seine sonstige Klugheit. Er sagte heut mehr von Mohnsams Geschäften, als er sagen durfte.
Auf des Friedensrichters Rat mieteten die beiden mitsammen dann einen Schlitten, ein Bauer hatte sich bereit erklärt, sie hinunterzufahren. So teuer! Sie jammerten sehr. Mit dem Rosenblatt fühlte Adami Mitleid: der schien wirklich arm. Und schon ein alternder Mann, für den war's wahrhaftig nicht leicht, jahraus, jahrein mit dem Packen zu laufen. Er zog den erbärmlich Hinkenden auf die Seite und drückte ihm einen Reichstaler in die Hand.
Der gebückte Mann mit den dunklen traurigen Augen sah ihn ganz fassungslos an: ihm schenkte der Herr einen Taler, ihm, dem Herz Rosenblatt? Wußte der Herr denn, wie's einem armen Juden zumut ist? Verachtet, verspottet, schon die kleinen Kinder werden auf ihn gehetzt; und das alles, sagen sie, nur darum, weil die Juden Jesum gekreuzigt haben. Wer's glaubt! Eine große Bitterkeit war in des Rosenblatt Stimme: »Lieber Herr, gnäd'ger Herr, der Herr darf's glauben, darum wird der Jud nit mit Steiner geschmissen.«
Adami winkte ab; er fühlte, der Jude hatte recht, und doch mochte er's nicht gern hören. »Vielleicht, wenn andere Zeiten kommen, bessere, dann geht's eurem Volk auch einmal besser.«
Herz Rosenblatt zog die Achseln hoch und wiegte den Kopf hin und her; er schien's nicht zu glauben. Aber dann, sich scheu umsehend, ob Mohnsam auch nichts erlausche, trat er Adami näher, so nahe, daß dieser den Duft von Knoblauch und Armut spürte, und flüsterte: »Der Bückler ist hier herum, er ist nit mehr auf dem Hunsrück. Und gebt auch Obacht auf Eure Näh – auf Eure Näh!«
Was sollte das heißen, dieses dringende »Obacht auf Eure Näh«?! War der Bückler so nah schon? Adami wollte fragen. Da hatte der Jude das Zeichen des Schweigens gemacht, den Finger an die Lippen gelegt und ängstlich nach Mohnsam herumgeschielt. –
Der Jude schien damals doch Gespenster gesehen zu haben. Das war am Ausgang des Winters gewesen, und jetzt blühten an der Mosel die Obstbäume längst, und auch hier oben sproßte junges Gras, und der Wald wagte es, sich zu begrünen. Von dem Hunsrück und von der Mosel war keine neue Schandtat gemeldet worden. Sollte es dem Generalkommissar Jollivet, der ein Kriegsgericht eingesetzt hatte, das jeden Einbruch mit Todesstrafe bedrohte, wirklich gelingen, durch Furcht die Räuber zu besiegen? Der Friedensrichter schüttelte den Kopf, er bezweifelte das. Die hatten keine Furcht, die wurden zu gut unterstützt von den Kohlenbrennern, von herumziehenden Hausierern und von den Bewohnern der einsamen Höfe und Mühlen.
Die Müller waren nicht alle so sicher wie der Üßmüller unten bei Bertrich. Das waren prächtige Menschen, die in der Üßmühle; die Söhne Kerle wie Riesen und den Eltern doch untertan. Ein Familienleben, das jetzt doppelt wohltuend berührte. War es in dieser Zeit, die so wüst war, ein wildes Durcheinander, nicht das einzige, sich eine Familie zu gründen, in der man Ablenkung fand vom Beruf und seinem Ärger, und auch die Erheiterung, die man bei dem allgemeinen Geldmangel nicht in Bällen, Theater und öffentlichen Lustbarkeiten suchen konnte? Eine ganz tolle Zeit! Unberechenbar, ungebärdig wie ein heimtückischer Krippensetzer – wer konnte den reiten?
Mit einer Gebärde des Unmuts stützte der noch junge Mann den Kopf in die Hand. In einer hochgekämmten, leicht gepuderten Tolle stand ihm das volle Haar über der Stirn, unter vorspringenden Brauen blickten seine Augen klug. Er seufzte. In Koblenz beim Obertribunal war's auch nicht angenehm gewesen und schwierig unter französischer Kontrolle zu arbeiten, aber man hatte wenigstens die Kollegen gehabt, Menschen, mit denen man abends eine Stunde beim Schoppen ein Wort wechseln konnte. Hier oben war niemand. Es war wirklich Zeit, daß er jetzt Hochzeit machte. Er war über dreißig, die Demoiselle Braut wurde demnächst zwanzig – worauf noch warten? Es war ja nur mädchenhafte Ziererei von Suschen, daß sie noch immer nichts vom Heiraten wissen wollte. Damals, als er noch in Trier beim Zivilgericht gewesen, war sie stets so liebevoll und entgegenkommend, daß er sich wohl einen glücklichen Bräutigam nennen durfte – aber jetzt? Sie hatten sich zu lange nicht gesehen – das war's! So bald als möglich mußte er sie besuchen, und dann wurde gleich der Hochzeitstag festgesetzt! Er verlor sich in einer angenehmen Träumerei.
Wie schön würde es sein, wenn eine junge Frau in diesen jetzt so einsamen Stuben herumging! Das Haus an sich war gar nicht so übel, kein gewöhnliches Dorfhaus wie die Posthalterei und die Gastwirtschaft, es war ein Herrenhaus, weitläufig, mit großer Küche und Kellerei und fest gebaut. Das war auch nötig, die Winde bliesen oft gewaltig, selbst im Sommer war hier auf dem Eifelplateau immer ein leises Wehen. Aber welche Luft! Eine Reinheit, eine Frische, wie man sie nirgendwo anders fand. Ihm war es bis ins Innerste belebend, an einem frühen Morgen, ehe die Sonne scheitelrecht stand, über die betaute Flur zu gehen. Man vermißte es nicht, daß hier oben wenig Bäume schatteten; es lag etwas Unbegrenztes, Freies, Schrankenloses über diesem Hochland, das empfangens-sehnsüchtig sein Antlitz dem Kuß des Himmels entgegenhob. Abwärts lagen Wälder genug, dunkel und undurchdringlich, geheimnisvolle Wildnisse, und von Schluchten ein Meer, so tief und versunken, als ginge nie ein Menschenfuß dort.
Friedrich Adami stand oft in Gedanken und starrte hinab in dieses Meer: wer irrte da unten? Was ging da alles vor? Schlupfwinkel über Schlupfwinkel. Wer in jenen Schluchten, in jenen Wäldern Bescheid wußte, dem war es leicht möglich zu entfliehen, wenn ihm auch Jäger und Hund auf den Fersen waren. Als Beamter der Justiz verwünschte er diese Waldeinsamkeiten, dieses Gewirr von Schluchten; hinter jeder neuen Bergkulisse kam eine neue Schlucht und so immer wieder eine und wieder eine, bis alles von tiefem Blau, in dem als lichterer Streif der Lauf der Mosel dämmerte, verschlungen ward. Aber als Mensch liebte Adami diese Landschaft; er hatte sich so in sie hineingesehen, daß er sich nichts Schöneres wußte. Wenn er nur erst seiner jungen Frau dies alles zeigen konnte! Wenn sie hier war, würde er sie in tauender Frühe schon hinausführen, wenn die Lerche sich eben vom Ackerrain erhebt und alles, was Odem hat: Mensch, Tier, Gras und Blume, das Wunder der Neuschöpfung allmorgendlich wieder erlebt. Ihre Hand würde er fassen, sie würden der Sonne entgegengehen, der Sonne des Himmels und ihres Glücks. Und am Abend würde er sie wiederum führen, wieder denselben Weg zwischen Ackerrainen und Ebereschen – verwachsene Bäumchen, die den Streifen der Landstraße schüchtern säumen –, sie würden stillstehen am Plateaurand, selber noch im Licht, aber unten webte schon Dämmerung. Blaudunkle Schatten in träumenden Gründen, Wildwasserrauschen, Grillengesang, ferner Raubvogelschrei. Sie würde sich an ihn lehnen, die liebe Frau – wie herrlich war es doch, in solcher Stunde zu zweien zu sein!
Der einsame Mann in dem etwas unwirtlichen Amtszimmer fühlte plötzlich eine große Sehnsucht. Es drängte ihn, an sie zu schreiben. Mit der nächsten Post konnte der Brief dann abgehen. Sie hatte ihm zwar auf seinen letzten Brief noch nicht geantwortet – ach, leider! Sie schrieb überhaupt selten. Wurde es nicht immer seltener? Im Anfang ihrer Verlobungszeit war das anders gewesen. Da hatte er so zärtliche Briefe von ihr bekommen, daß es ihn jetzt noch überlief, wenn er daran dachte. Er mußte diese ersten Briefe doch einmal wieder lesen; er fühlte eine schmerzliche Lust nach Liebe und Zärtlichkeit.
Mit Hast, und doch war eine gewisse Scheu in ihm, schloß er jetzt ein geheimes Fach in seinem Schreibtisch auf und holte ein Bündelchen Briefe hervor. Mit einem zartrosa Band waren sie umbunden. Dieses Band hatte er ihr geraubt in erster Verliebtheit, sie hatte es um die Locken getragen.
»Mein teurer Verlobter, du unendlich Vermißter« – jetzt schrieb sie kurzweg: »Lieber Friedrich!« Das war doch seltsam. War sie so rasch nüchtern und weniger empfindsam geworden? Aber die Anrede macht's ja nicht. Er überwand ein flüchtiges Unbehagen, las ihre ersten Briefe und auch ihre letzten und warf sie dann plötzlich alle mitsammen ins Fach zurück. Ja, sie war sehr verwandelt! So töricht verliebt war er, ein reifer Mann, nicht mehr, daß er das nicht gemerkt hätte.
Und er schrieb: »Werte Demoiselle, mein vielliebes Bräutchen!«
War das nicht etwas zu entgegenkommend? Er wollte sich nichts vergeben. Und er beherrschte sich und schrieb gesetzt und vernünftig, obgleich ihm eine zärtliche Ungeduld im Blut pochte und sein Herz nach Liebe schrie. Schrieb ganz, wie es die Sitte von einem wohlerzogenen Bewerber verlangt, der an sein ehr- und tugendsames Fräulein Braut schreibt. Aber wer Augen hatte zu lesen und ein Herz zu verstehen, der merkte doch, was zwischen den Zeilen stand: wann ist die Hochzeit? Soll ich denn ewig hier allein sein, geliebtes Mädchen, verlangt es dich nicht ebenso nach mir wie mich nach dir?
Der Federkiel flog übers Papier, man hörte nichts in der stillen Stube, zu der kein Geräusch des Ortes drang, als das Kritzeln und ab und zu einen tiefen Atemzug. Die ganze Seele des einsamen Mannes flog der Fernen zu. Und doch wieder grub sich eine Falte zwischen seine Brauen: würde es ihr auch behagen hier oben? Sie war jung und lebenslustig; er hatte ihr nichts zu bieten als eine geachtete Stellung und seine treue Liebe.
»Laß mich nun nicht länger warten, mein liebes Suschen, schreibe mir, wie dein verehrter Herr Vater und deine hochwerte Frau Mutter denken über die Festsetzung unserer Hochzeit am –« er wollte gerade schreiben: »am dritten Fruktidor, an deinem Geburtstag«, als die Tür aufgerissen wurde.
Die Lies, die alte Wirtschafterin, stürzte herein. Die war sonst sehr respektvoll, heute aber schrie sie, ohne erst gefragt zu werden: »Herr Friedensrichter, Herr Friedensrichter, die Post is da – aber ausgeraubt. Der Matthes, der Postilljon, sieht aus wie der Tod, die Zähn' klappern ihm. Er hat sich noch gerett', auf die Peerd gehauen. Et waren ihrer zehn oder zwölf, er konnt sie gar nit all zählen!«
»Es werden ihrer wohl nur zwei gewesen sein, der Kerl ist ein Feigling!« Zornig war Adami aufgesprungen. Diese Frechheit, ihm fast unter den Augen! Es zuckte ihm in den Fingern: da an der Wand im Schrank hing seine Büchse.
»Schwarz waren se im Gesicht, dat Kinn hatten se sich verbunden; der Matthes sagt, mer konnt keinen nit erkennen. En Geschrei han se gemacht, dat die Peerd scheu wurden.
»Ruft mir den Postillion, ich will ihn gleich sprechen.«
Es war so, wie die Alte erzählte; nur zehn oder zwölf waren es nicht. Zufällig waren keine Passagiere im Wagen gewesen, auch der Hilfsschaffner, der sonst immer neben dem Kutscher saß, war diesmal nicht mit, der Postillion, so ganz allein, hatte sich nicht wehren können. Aus dem Gebüsch waren zwei gesprungen, mit furchtbarem: »Halt, halt!« den Pferden in die Zügel gefallen. Es nutzte nichts, daß der Erschrockene auf die Tiere lospeitschte. Einer schwang ein Brecheisen, stemmte hinten den Wagenkasten auf und warf alles heraus auf die Straße – ein anderer kletterte oben aufs Verdeck: Körbe, Kisten, Packen, alles herunter –, und ein dritter stand mitten auf dem Weg, die Pistole im Anschlag, und bedrohte den Postillion. Ein Glück, daß die Pferde, vom Geschrei entsetzt, scheuten und durchgingen. –
Dies war das einzige Räuberstück nicht. Adami hatte sich noch nicht über die Frechheit des Postüberfalls beruhigt, als noch eine alarmierende Nachricht nach Lutzerath kam; von der Mosel herauf. Auch da war der Bückler am Werke gewesen, fast zur gleichen Zeit.
Der Brief an die Demoiselle Braut blieb einstweilen unvollendet liegen, der eifrige Beamte verschickte ein eiliges Umschreiben an die Kollegen sämtlicher Kantone; nach Oberstein, Herrstein, Wildenburg, Tronecken, Kirchberg, Gmünden, Rhaunen, Simmern, Stromberg, Trarbach, Daun, Wittlich, Kirn, Kochem, Zell, Kastellaun, Birkenfeld und so weiter. An den Rhein, an die Nahe, links und rechts der Mosel, nach Trier und Koblenz, bis nach Mainz hin flog der Alarmruf. Schnell, schnell! Es mußte den Verbrechern durch die Schnelligkeit der verschärften Kontrolle unmöglich gemacht werden, auch nur über eine einzige der vielen Grenzen zu entkommen. Wer weiß, ob Hessen und Preußen überhaupt auslieferten?
Eine besondere Polizeigarde sollte in jedem Kanton errichtet werden, die Tag und Nacht streifte und alles aufgriff und unverzüglich vor den Friedensrichter führte, was ohne Paß und ohne Nachweis eines festen Wohnsitzes herumstrolchte. Nicht alle Wohnungslosen oder aus dem Heeresdienst Entlassenen, nicht alle Bänkelspieler und Tabulettkrämer, die mit Seife, Band und Tabak herumzogen, waren Verbrecher, aber unter ihnen befanden sich jedenfalls viele, die den Räubern untereinander Botschaft vermittelten und sich auch zum Ausbaldowern hergaben.
Der Friedensrichter von Lutzerath brannte vor Ungeduld, er konnte nachts nicht schlafen; er hatte auch zu einer dringenden Konferenz aufgefordert – ganz gleich »wo«, er würde sich überall einfinden –, aber die zustimmende Antwort der Kollegen blieb noch immer aus. Endlich kam von Oberstein zögernder Bescheid: in der Tat, der Zustand der allgemeinen Unsicherheit war sehr bedauerlich, ihm müßte unbedingt ein Ende gemacht werden, aber es waren zuwenig Mittel vorhanden. Der Kanton war nicht in der Lage, noch mehr Abgaben zu leisten, die die kostspielige Erhaltung einer ständigen Polizeigarde erfordern würde. Nun, dann mußte Oberstein sich eben unbehütet ausplündern lassen! Noch bewahrte Adami seinen Gleichmut. Als ihm in einer anderen Antwort seine stürmische Jugend, die alles im Hui erreichen wollte, was sich nicht so leicht erreichen ließ, gewissermaßen zum Vorwurf gemacht wurde, lachte er sogar. Aber als ihm in einem dritten Schreiben der freundliche Rat zuteil wurde, sich nicht um Sachen aufzuregen, die, solange die Welt steht, noch jedesmal nach Kriegsläuften sich eingestellt hatten und sich auch nach Jahrhunderten noch einstellen würden, fluchte er. Also ohnmächtig sollte man Banditen gegenüber sein? Es antworteten noch ein paar Kollegen, die dringende Geschäfte vorschützten, die übrigen antworteten gar nicht.
Faul, indolent, zu bequem oder zu abgestumpft! Der Richter von Lutzerath beschloß, auf eigene Faust zu handeln. In seinem Kanton wenigstens sollten Bürger und Bauer ruhig schlafen; und auch der Jude.
*
Es war zu Reil an der Mosel geschehen in der Nacht des siebenten Prairial. Die Frühsommernacht ging auf leisen Sohlen, der Himmel war dunkel, verstohlen blinzelte nur da und dort ein Stern; es war, als wollte es regnen. Eine ungeheure Weichheit lag in der Luft, eine sanfte Mattigkeit. Die schmalen Grasraine, die den Fluß säumten, sich zwischen ihn und die kleinen Häuser des Dorfes zwängten, dufteten stark, jedes Hälmchen atmete Wohlgeruch. Finster ragten die Moselberge, man sah nicht ihren Fuß und auch nicht ihren Scheitel; alles schwarz, schwarz. Einzig das Häuschen auf dem Reiler Hals, das winzige Kapellchen, das nichts hat als vier fensterlose nackte Mauern, ein Heiligenbild hinter verrostetem Gitter und davor ein Betbänkchen, zeigte durch seine geöffnete Tür ein wenig Geflinzel. Da brannte die ewige Lampe und warf ihren rötlichen Schein auf die Paßstraße, die alle passieren müssen, die Mosel auf, Mosel ab wollen. Schmal ist hier die Straße, ein Felskamm, den auf der einen Seite der hohe Kondelwald mit seinen Baumriesen bedräut, dessen andere Seite abfällt zum Fluß, so steil, daß die Häuser von Reil fast senkrecht unterm Berggrat liegen. Der Wanderer geht hier nicht gern, er betet selbst am Tag nur ein hastiges Ave und sieht sich scheu um. Links ein Absturz, rechts ein Absturz, ein Ausweichen gibt es nicht am Reiler Hals, und man hört es unten zu Reil nicht, wenn einer hier oben Hilfe ruft.
In der nächtlichen Einsamkeit glucksten leise die Moselwellen an den Steinen. Sie flossen so sanft, so zärtlich, als küßten sie behutsam das schlafende Uferland. In einem unendlichen Frieden Berg und Fluß, Dorf und Wald. Doch jetzt ein Käuzchenruf. Klagend kam er aus den Büschen dicht bei den Häusern. Nun antwortete ein zweites Käuzchen.
An der Tür des Herz Rosenblatt wurde geklopft. Es war zwölf Uhr, Rosenblatt und sein Weib lagen schon drei Stunden zu Bett. Denn trotz der langen Helle des sommerlichen Abends waren der kleine Laden und die fensterlose Stube dahinter so früh dunkel, daß man ins Bett kroch, um das Öl zu sparen.
Das Nagen einer Maus am Fuß der Bettstatt störte sie nicht. Der Mann schnarchte rasselnd, und auch die Frau atmete schwer. Der Schlaf war hier nur wie Betäubung, denn die Luft war verbraucht und drückend im Raum, in den kein Windchen des Himmels wehte. Von der Tür, die nach dem Laden zu offen stand, fiel ein matter Schimmer auf Rosenblatts Gesicht; es lag da wie ein fahler Fleck, flach und regungslos in der Dunkelheit. Die Frau hielt im Schlaf die Hand ihres Mannes gefaßt; nun waren sie schon zwanzig Jahre Eheleute, aber sie hatte ihn noch immer sehr lieb. Beckchen, des Itzig Nudel Tochter aus Simmern, hatte Herz Rosenblatt mehr zugebracht, als der Schadchen ihm versprochen: ein gehorsames Herz und eine demütige Liebe. Sie hungerte mit ihm, sie fror mit ihm, sie sparte mit ihm, und sie hatte ihm sechs Kinder geboren. Blümchen, die älteste, war ein Stolz und eine Hoffnung und ein »Köppchen«, wie's kein zweites gab.
Die Eltern hatten am Abend im Bett noch lange mitsammen geschwatzt. Die Mutter hatte das Leinen für Blümchen jetzt alles beisammen, und dem Vater fehlte auch nicht mehr viel an der Mitgift in bar; nun konnte man bald einen Schadchen beauftragen, daß er dem Blümchen etwas Feines aussuchte – vielleicht gar verschaffte er ihr einen in Trier. Glückliche Zukunftspläne für die Alten: dann hatten sie nicht umsonst gedarbt und sich's sauer werden lassen, Sechsbätzner bei Sechsbätzner und Heller auf Heller gelegt – wenn Blümchen vielleicht gar käme in ein großes Kaufmannsgewölbe zu Trier!
Jetzt schliefen sie so fest, so regungslos wie die Steine, sie hörten nicht, wie das Blümchen, das mit den Geschwistern oben auf dem Speicher nächtigte, herunterschrie. Nun wieder: »Vaterleben, es kloppt!« Und nun wieder: »Vaterleben!« Das klang ängstlich.
Rosenblatt fuhr aus dem Bett. Da sah er auch schon durch die Ritzen des vorgelegten Holzladens außen eine große Helle – Fackellicht –, und ein starker Stoß erschütterte seine Haustür.
» Ouvrez tout de suite!«
Die Frau klammerte sich aufgeschreckt an ihren Mann, von oben herab tönte das Geschrei der Kinder. »Mach nit auf, Herzchen, mach nit auf!«
Noch hielt die Tür, sie war schwer aus Eichenholz und hatte eiserne Riegel.
» Formez-vous! Rangez-vous! En avant, marche!«
Franzosen! Marodeure! Oder vielleicht gar dieselben Husaren, die letzthin ganz Aldegund ausgeraubt hatten! Beckchen warf sich zu Boden, sie umschlang die Knie ihres Mannes und schrie laut zum Gott ihrer Väter.
Auch Rosenblatt zitterte. Er war ein ehrlicher Mann, hatte nicht viel verborgene Schätze, und doch zitterte er. Wenn die Tür nur noch hielt, bis das Geschrei der Kinder oben die Nachbarn aufmerksam gemacht hatte! Die mußten's doch hören. Laut gellte jetzt Blümchens Stimme aus der Dachluke: »Zu Hilf, zu Hilf!«
Draußen ein Fluch und dann wieder ein Stoß, unter dem das ganze Häuschen erbebte: »Jud, verfluchter, mach auf, sonst schneiden wir deiner Schickse den Hals durch!«
Herz Rosenblatt riß sich los von dem Weib, das ihn festhielt: sein Blümchen, sein Blümchen, sein Augentrost! Im bloßen Hemd sprang er hin, um zu öffnen, da fiel die Tür auch schon in den Hausflur hinein mit furchtbarem Krachen. Sie hatten sie eingerannt mit einem schweren Balken; die Bande strömte ins Haus.
Einer hielt den Rosenblatt am Hemde gepackt: »Jud, dein Geld!« Und sie zerrten ihn in den Verkaufsraum. Andere stürmten in die Stube dahinter. Brennende Kienspäne schwelten, sie leuchteten überall mit ihnen hin; das dunkle Haus war auf einmal hell.
Das Weib war zu Boden gefallen, ohnmächtig vor Schreck. Rosenblatt mußte alles aufschließen, Kisten und Kasten und Truhen; wenn seine zitternden Hände nicht gleich öffnen konnten, half ein krachender Axthieb nach. Blümchens Mitgift war willkommene Beute, ihr Leinen wurde auf den Buckel geladen, ihre Louisdors in den Säckel gesteckt. Auf den Boden geschüttet, zertrampelt, was ihnen nicht wert genug war. Das Federbett schlitzte der schwarze Peter mit dem Dolchmesser auf: »Et schniet schneit., et schniet!« Unter wildem Gelächter ließ er die Federn herumfliegen.
Es wurde alles zunichte gemacht. Die Räuber mit den geschwärzten Gesichtern, den Hut tief in die Augen gedrückt, taten gründliche Arbeit. In ohnmächtiger Wut, in zitterndem Schmerz sah Herz Rosenblatt das bißchen, das er besaß, den Gewinn langer Mühsal verloren. Es war alles hin. Aber wenn sie nur die Kinder verschonen wollten! Oben war Blümchen verstummt, sie schrie nicht mehr nach den Nachbarn. Einer von der Bande hatte die Falltür zum Speicher gefunden – war er hinaufgeklettert zu ihr? Gewalt! Mit einem einzigen Satz war der Vater an der Leiter. Da kam von außen ein Ruf.
Der Junge, der draußen vor der Tür Posten stand, schrie auf einmal mit heller Weiberstimme: »Die Schickse läuft weg! Da läuft se! Haltet se, haltet se!«
Der Jude sah im Fackellicht seine Tochter laufen, ihre langen Zöpfe peitschten den Rücken, das Hemd flatterte ihr um die nackten Beine, sie schoß dahin wie ein Pfeil. Gott der Gerechte, was konnte die rennen, die ließ sich nicht fangen. »Lauf, lauf!«
Der wilde Schwarze schlug an auf sie, der Vater warf sich auf den; sie stürzten beide zu Boden, der Starke und der Schwache. Aber Herz Rosenblatt war heute auch stark, und während er den Räuber, der unter ihm lag, zu würgen versuchte – seine mageren Hände krallte er in die behaarte Kehle – flatterten Gedanken durch seinen verwirrten Sinn, Nachtvögeln gleich, die man aufgescheucht hatte. Er mußte der Bande angegeben worden sein, als Spitzel verdächtigt – hatte er zuviel gesagt oben zu Lutzerath? O weh, Moyses Mohnsam! Eine jähe Erkenntnis. Sie lähmte ihn, seine sich einkrallenden Finger wurden schwach. Moyses Mohnsam hatte gelauscht, nun nahmen die Rache, Rache für jedes einzige Wort, das sie verraten könnte!
Bereits hatte der Räuber die Oberhand; Rosenblatt lag unter ihm, entsetzt starrte er in das bärtige schwarze Gesicht über sich. Das grinste; ein blankes Messer fuhr ihm vor den Augen herum, schaudernd kniff er sie zu: sein letzter Augenblick war gekommen.
»Nit totmachen, nur angst machen«, befahl plötzlich eine Stimme.
Der Schwarze knurrte, aber er zog das Messer zurück, das dem Juden schon die Kehle geritzt hatte. Und dann kamen lachend noch zwei, drei andere hinzu, mitsammen rissen sie den Armen auf. Sie mißhandelten ihn mit Fußtritten, mit unmenschlichen Schlägen, sie zerschlugen einen Knüppel auf ihm, daß er aus Nase und Mund blutend zu Boden sank. Und sie traten auf ihm herum, bis sie es müde waren. –
Es war nicht Sturm geläutet worden zu Reil, wie sonst in den Dörfern, wenn Überfall drohte. Das Schlüsselloch der Kirche war zwar nicht mit Kieseln verstopft gewesen, man hätte gut aufschließen und hinauf können in den Turm, aber man läutete nur für Christen. »Zu Hilfe!« hatte Blümchen geschrien, man hatte das gellende Schreien wohl gehört, aber man hatte sich's Deckbett bis über die Ohren gezogen: wozu sich in Gefahr begeben um einen Jud?!
*
An den Friedensrichter Adami zu Lutzerath gelangte vier Wochen später folgendes Schreiben:
Au citoyen le juge de paix à Lutzerath!
Bürger Friedensrichter, ich muß Ihnen mitteilen, daß gestern kam der Grumbieren-Klas aus Hellenthal bei Reil in unseren Laden, wo war schon am Morgen schicker betrunken.. Als wir ihm fragten, ob er nichts näher gehört hat von dem Unglück, wo ist zugestoßen Herzchen Rosenblatt, wollte er nichts davon wissen. Wollte Kleider verkaufen, die waren schäbig. Nachher lacht er und sagt, das sei dem Rosenblatt recht geschehen. Ansonsten war ihm aber nichts bewußt. Er sei an selbigem Tag nicht vor seine Türe gekommen. Lieber und bester Bürger Friedensrichter, das ist ein wahrer Beweis, daß er ist mit der Bande unter einer Decke. Die Kleider rochen nicht nach Bauer, sie rochen nach einem von unsere Leut. Er hat auch noch gesprochen von einem, wo wohnt oben in der Eifel, der hat einen Schrank, wann selbiger tritt da hinein, wird er unsichtbar. Selbiger kann auch machen andere unsichtbar. Wir bitten aber, nicht nur wegen unserer Verluste etwan, sondern da wir wissen, wie nahe Ihnen die Sicherheit der ganzen Gegend geht, diese Rettung bald in Vollziehung zu bringen.
Mit wahrer Hochachtung und vieler Danksagung und ewiger Verpflichtung.
Afrom May, Alf. a. d. Mosel
Leib Süßkind, ebenda.«
Die Juden schienen ja große Angst zu haben, und so mochte es doch wohl wahr sein, was man sich erzählte, daß sie dem Bückler angeboten hätten, ihm eine Steuer zu zahlen, damit er sie ungeschoren ließe, wenn sie auf die Märkte zogen. Es taten sich ohnehin immer ihrer mehrere jetzt zusammen. Eine allgemeine Panik hatte um sich gegriffen, nicht nur bei den Juden, auch bei den Christen. Wie war dieser zu steuern?
Nachdenklich saß der Friedensrichter an seinem Schreibtisch. Ob die Fama nicht doch übertrieb? Gestern sollte der Bückler einem Metzger auf der offenen Landstraße, nicht weit von Moselkern, dreihundert Gulden abgenommen haben. Am gleichen Tag aber wurde aus dem Birkenfeldschen gemeldet, daß er dort in eine Ziegelei eingebrochen war. Er hatte den Mann in den Keller gesperrt, nachdem der blutig geschlagen worden, die Frau, die sich wehrte, im Bett festgebunden und alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Fast zu gleicher Zeit aber hatte er auch hier oben in der Eifel, gar nicht weit ab, einem reichen Hofbauern einen Besuch abgestattet, die Töchter, die schreien wollten, mit dem Tode bedroht, falls sie seiner Bande nicht zu Willen waren, Geld, Taschenuhr und alle anderen Wertsachen mit sich genommen. Überall spukte er. Aber es war unmöglich, daß immer nur der Bückler mit seiner Bande der Täter war – konnte sich der denn verdoppeln?
Adami fuhr zusammen – es blickte einer zum Fenster herein. Ein paar große dunkle Augen sahen ihn scharf an. Er erschrak, unwillkürlich sah er hinüber zum Büchsenschrank. Da klopfte es auch schon.
Auf sein » Entrez!« war einer eingetreten; es war der Mann vom Fenster mit den auffallend großen dunklen Augen, die etwas Zwingendes hatten. Die beiden Männer maßen sich mit den Blicken. Unwillkürlich war der Friedensrichter aufgestanden: der sah nicht aus wie ein gewöhnlicher Bauer trotz des blauen Leinenkittels. Den roten Perpel parapluie = Regenschirm. trug er unterm Arm, ganz wie ein Bauer, aber er hatte etwas Herrisches.
»Ich bin Hans Bast Nikolai von Krinkhof.«
Aha, der Schmied von Krinkhof! Adami hatte genug von dem Mann gehört; die Bauern holten ihn zum kranken Vieh und auch für sich selber. Sogar seine Wirtschafterin, die alte Lies, war neulich hingepilgert, um sich das Zahnweh besprechen zu lassen. Es plagte sie nicht mehr seitdem.
»Was will Er?« Adami reckte sich. Nun waren sie beide gleich groß. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch, er bot dem großen Mann auch keinen Stuhl an, er fühlte sich unfreundlich werden, dieses herrische Auftreten paßte ihm nicht.
Hans Bast schien die Zurückhaltung des anderen nicht zu bemerken, oder er wollte sie nicht bemerken; er wurde geschmeidiger. Seine hohe Gestalt beugend, trat er dicht an den Tisch. »Ich möchte Euch auf ebbes aufmerksam machen, Bürger Friedensrichter. Wollt Ihr et hören?«
»Nun ja, was denn?« Der Beamte schnitzte an seinem Federkiel: warum tat der denn so geheimnisvoll?
»Bei mir kommen viele vorbei, lassen Peerd beschlagen – herauf auf die Eifel, herunter an die Mosel – die Durchgangsstraß. Et wird viel verschoben, Bürger Friedensrichter.«
»Das weiß ich.« Der sagte das ja so mit Bedeutung, warum?! Adami sah den Mann gar nicht an, ihn faßte plötzlich ein Widerwille gegen diesen großen und schönen Menschen: wollte der den Angeber spielen? Aber die Erkenntnis, ihn am Ende brauchen zu können, in ihm sich vielleicht eine größere Stütze zu erwerben als in hundert Rundschreiben, hieß ihn klug sein. Er lächelte fein. »Ich sehe, Er kennt die schwierige Lage der Justiz! Bald ist der Bückler hier, bald da, die Überfälle liegen nur wenig in der Zeit voneinander, oft geschehen sie sogar zu gleicher Zeit. Ich glaube, es kommt nicht alles auf das Konto des Johannes Durchdenwald; es sind noch andere am Werke.«
Der Mann nickte ernsthaft: »So is et. Wenn der Bürger Friedensrichter mir Straflosigkeit zusichern würd –« er machte eine Pause und sah den Beamten lauernd an.
»Gewiß, gewiß«, versicherte Adami hastig; er war im Jagdeifer.
»Dann würd ich dem Bürger Friedensrichter jedesmal en Wink geben, dat heißt« – er schränkte ein –, »jedesmal kann ich dat natürlich nit, da sind ihrer zu viele und zu weit herum. Aber wenn't hier auf der Näh is, dann sag ich Bescheid. Dann faßt sie,« – er lachte – »wenn Ihr könnt.«
Adami fühlte den Drang, den Angeber zu schütteln: Du, Halunke, du bist auch dabei, woher kannst du es sonst wissen? Aber er biß die Zähne zusammen: kein Wort, keine Frage, sonst wäre der ja verscheucht. Er mußte sich bezwingen, der Sache halber. Aber es wurde ihm schwer, seine Hand nun in die bieder ausgestreckte Rechte des Schmieds zu legen, die hart war wie Eisen.
»Also Straflosigkeit für mich, Bürger, in jedem Fall?« Es flammte auf in den dunklen Augen.
»Ich pflege mein Wort zu halten,« sagte Adami trocken. Und dann fiel ihm plötzlich ein: »Da Ihr, wie es scheint, gut unterrichtet seid, so sagt mir doch: Wer hat bei dem Juden Rosenblatt in Reil eingebrochen? Der arme Kerl!« Es war Bedauern in des Richters Ton, Herz Rosenblatt mit den traurigen Augen, dieser demütige, verängstigte Mensch, an den er sich sehr gut erinnerte, stand plötzlich vor ihm. Hatte der ehrliche Mensch ihn nicht noch hastig, dringend gewarnt: »Hütet Euch – in Eurer Nähe, in Eurer Nähe« –?! Ein heftiger Unwille überkam ihn, was hatte dieser arme Kerl den Räubern getan? Um seiner Schätze willen war er sicher nicht überfallen worden. »Wer hat den Frevel begangen, noch dazu den Mann halb zuschanden malträtiert?«
Hans Bast, schon im Gehen, wandte sich knapp nur um, er zuckte die Achseln: »Weiß nit.«
»Der das getan hat, den lasse ich hängen!«
»Tut das, Bürger Friedensrichter.«
Adami sah nicht das höhnische Lächeln, das plötzlich das schöne Gesicht des sich wieder zur Tür Kehrenden verzerrte.
Adami blieb in schlechter Stimmung zurück, als der Schmied von Krinkhof gegangen war. Hatte er sich da mit einem eingelassen, der nicht sauber war, nicht viel sauberer als der Bückler und seine Genossen?! Er trat ans Fenster; nachdenklich sah er dem Davonschreitenden nach. Der Mann ging bedächtig und doch mit weit ausholenden Schritten, im Leinenkittel, den Regenschirm unterm Arm, so wie ein echter Bauer immer geht, und war doch sicherlich keiner. Wie war der Mensch hierherverschlagen worden? Und ob man wenigstens seiner Ehrlichkeit in der Unehrenhaftigkeit trauen konnte? Spießgesellen verraten –? Aber er war wohl nur der Hehler, vielleicht auch hatte er nur ihre Verabredungen belauscht. Dieser Nikolai hielt sich stolz, sah aus wie ein Biedermann, durchaus nicht wie der Genosse von Dieben.
Der Friedensrichter runzelte die Stirn und seufzte tief auf: war es nicht trostlos, daß zu dieser Zeit und in diesem Lande, das halb französisch war und halb deutsch, die Gerechtigkeit hin und her gerissen wurde wie ein Hampelmann? Was heute Gesetz war, wurde morgen wieder umgestoßen. Verbesserungen?! Er lachte bitter. Und wie konnte eine Justiz durchgreifen, die in jedem Kanton eine andere war, dazu noch abhängig von der Laune des jeweiligen Oberstkommandierenden. Gleiche Gerechtigkeit für alle – so hieß es –, in den Wäldern knallten die französischen Herren das Wild herunter, aber der arme Bauer, der sich, getrieben vom Hunger, ein Häslein in der Schlinge fing, wurde gleich in Ketten gelegt. Das schaffte Erbitterung, und aus der Erbitterung wuchs der Trotz: Jetzt nehm' ich mir auch, was ich kann, und wo ich kann. Was war weiter dabei: Ketten, Kopf ab – man hatte nicht mehr die althergebrachte Furcht vor dem Tode. Deutsches Zuchthaus, französisches Fallbeil, das Kommando »Feuer!« hinter der Stadtmauer, das war jetzt alles eins. Und aus dieser Geringschätzung des Todes erwuchs die allgemeine Zügellosigkeit. Genießen, rasch noch das Beste vom Tag sich nehmen, plündern, wo es etwas zu plündern gab! Die Schule des Raubens war der Krieg gewesen. Oh, es war jetzt eine Zeit, die einen Menschen, der die Ordnung liebte und die Gesittung, verrückt machen konnte!
Der Friedensrichter fuhr sich über die Stirn, Schweiß war auf sie getreten. Und daß man selber so ohnmächtig war, wie ein einsamer Baum dastand und sich an einen Pfahl stützen mußte, der faul war. Denn faul war dieser Hans Bast, faul! Der gleiche Argwohn stieg wieder in Adami auf. Hätte er den Mann nicht lieber hinauswerfen sollen oder ihn in einem eingehenden Verhör festhalten? Jetzt machte er sich Vorwürfe. Wie widrig war es doch für ihn, den Mann der Justiz, sich mit einer solchen zweideutigen Persönlichkeit einzulassen. Aber freilich, der Richter, der etwas herausbringen will und muß, darf nicht zu wählerisch sein. Dem Richter kam plötzlich der ganze Beruf, den er doch liebte, charakterverderbend vor. Oder sollte – wie eine Befreiung kam ihm der abenteuerliche Gedanke –, sollte es wahr sein, was die Leute der ganzen Gegend sich erzählten? Dieser Mann, der Schmied oben zu Krinkhof, sah und hörte in Mondlicht, Herdrauch und Windeswehen Dinge, die stumm und leblos waren für anderer Leute Augen und Ohren. Aberglaube! Lächerlicher Altweibertratsch in aufgeklärteren Zeiten!
Es war nicht gerade die geeignete Verfassung, in der sich Adami jetzt daran machte, endlich den Brief an seine Braut fertig zu schreiben, den der Postüberfall damals jählings unterbrochen hatte. Immer noch war er unvollendet, an Zeit hätte es wohl nicht gefehlt, aber an der Lust dazu. Wenn man so ins Blaue hineinschreibt, der Antwort wenig gewiß ist und so wenig weiß, wie die Antwort ausfällt, war es dann wirklich noch am Platze, ihr die Hochzeit für den dritten Fruktidor vorzuschlagen? Sie mußte ihn vergessen haben; seit vielen Wochen hatte er kein Schreiben von Suschen bekommen. Wenn sie krank wäre, dann hätten ihre Eltern es ihn doch wissen lassen. Aber Trier war ja nicht aus der Welt, er konnte das geliebte Mädchen mit Extrapost in zwölf Stunden erreichen jetzt zur guten Jahreszeit. Es war eine Torheit von ihm, daß er sich mit dieser Schreiberei, dieser nutzlosen, plagte. Längst hätte er statt dessen persönlich mit ihr sprechen sollen. Die »werte Demoiselle«, das »vielliebe Bräutchen«, der ganze Brief wurde in Stücke gerissen, in den Papierkorb geworfen; sich an den Entschluß haltend, den er, wie er sich jetzt vorwarf, längst hätte haben müssen, rief Adami nach seiner Wirtschafterin: Mantelsack packen, Extrapost bestellen!
Diesmal mußte der Beruf doch der Braut nachstehen. Sowie am nächsten Morgen die Sonne aufging, fuhr der Friedensrichter nach Trier.