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Friedrich Adami hatte mit seinen Sekundanten vergebens auf den Kapitän d'Aubry gewartet. Immer wieder traten die Herren hinter der deckenden Kirchhofsmauer vor und spähten die Straße entlang, die gerade ins alte römische Stadttor hineinlief. Kein Reiter; weder Wagen noch Fußgänger, ganz leer die Straße von St. Paulin. Nach einer Stunde ungeduldigen Wartens kehrten sie in die Stadt zurück. Was war mit d'Aubry? Sollte er sich etwa drücken wollen? Nein, das tat kein Offizier!
Man eilte in die Kaserne, in d'Aubrys Wohnung im Kloster der Minoriten. Die Stube war leer. Und nun wußte auch eine Ordonnanz zu berichten: gestern nachmittag war der Kapitän ausgeritten mit seinem Burschen, mitten im größten Unwetter. Sie waren beide noch nicht zurück. Ein Unfall könnte möglich sein. Der Vorgesetzte d'Aubrys, der Oberst Dupuis, bei dem sich Adami melden ließ, war zurückhaltend und vorsichtig, er machte Redensarten. Dann aber gewann sein Ehrgefühl die Oberhand; bleich vor Zorn und verletztem Stolz, mußte er dem Deutschen recht geben, der sich jetzt heftig und voller Mißtrauen gegen den, wie es ihm schien, Entflohenen aussprach.
Noch waren nicht zwei weitere Stunden vergangen, als trotz aller Versuche, das Stillschweigen zu wahren, ganz Trier es wußte: der französische Hauptmann d'Aubry, den man als Mädchenjäger kannte und als unerträglich brutal, hatte sich vom Duell gedrückt. Er war flüchtig geworden und hatte – die Regimentskasse mitgenommen.
Die Verfolgung setzte sofort ein. Oberst Dupuis ließ nicht mit sich spaßen. Die Sache war im höchsten Grade fatal: so etwas durfte in der französischen Armee niemals vorkommen, insonderheit nicht in dem besetzten Gebiet, dessen verlodderter Wirtschaft die Kultur der französischen Nation und die Segnungen der republikanischen Staatsverfassung vor Augen zu führen waren. Zudem verstand der französische Offizier die Erregung des beleidigten Deutschen vollkommen.
» Monsieur, s'il vous plaît – wenn Ihnen daran liegt, ich stelle Ihnen anheim, mein Streifkommando zu begleiten. Wenn meine Soldaten nicht reüssieren sollten, wird Ihre bewährte Tatkraft und Ihr einsichtsvoller Rat von großem Wert sein.«
Aber es widerstrebte Adami, diesen Hasen als Jäger zu jagen. »Ich danke für die Ehre. Ich gehe aber sofort nach Lutzerath zurück. Vielleicht, daß ich Ihnen von dort aus in meinem Amt von Nutzen sein kann.«
»Es wird mir eine Ehre sein, Monsieur le juge de paix!« sagte der Franzose höflich. Sie verneigten sich abschiednehmend voreinander. – –
Am vierten Tage, spät abends, müde und durchgerüttelt, kehrte Adami in sein einsames Haus zurück. Mit einem hoffnungsvollen Herzen, mit Wünschen, die, je näher er Trier kam, desto lebendiger sich regten, war er ausgefahren, und wie war es ihm jetzt? Traurig. Wenn er an das Mädchen dachte, dessen Jugend, Schönheit und Heiterkeit wie ein Licht an seinem Wege geleuchtet hatten, gruben sich die Falten auf seiner Stirn immer tiefer ein. Er hatte Falten – wer hätte die jetzt nicht? Die Heimat in fremden Händen, mit fremden aufgezwungenen Verordnungen – wie hatten sie ihm in Trier geklagt! Und das schlimmste: man war selber mit der Heimat nicht einverstanden, das Stolzsein auf sie hatte längst aufgehört. Die einen lässig und gleichgültig, die anderen kriechend und mantelträgerisch, die dritten in den Tag hineinlebend, die vierten unter fremder Herrschaft auch die Herrschaft über sich selber verlierend. Susanne, die arme Susanne, war nur ein Mensch gewesen wie viele jetzt.
Adami seufzte; er konnte ihr nicht zürnen. Hätte er's nur gekonnt, ihm wäre leichter geworden. Er empfand unsägliches Mitleid mit ihr; obgleich er selber Katholik war, fühlte er's doch wie Grauen: dies junge lebensvolle Geschöpf ins Kloster?! Man würde ihr die langen schwarzen Haare abschneiden, die wie Seide über ihren Rücken fielen, ihren schönen Busen, ihre weißen Arme in das Gewand stecken, dessen Falten alles verhüllten. Es wurde ihm kalt, wenn er sich's ausdachte. Aber das schwerste: wie würden ihre Sinne, die so nach der Lust des Lebens verlangten, die Einöde des Klosters ertragen? Krankenpflege und Kindererziehung wurden nicht geübt im Kloster Sancta virgo immaculata; einzig und allein aus Gebet und Bußübungen bestanden die Ordensregeln. Armes Mädchen!
Er hatte nicht den Versuch gemacht, Susanne zu sprechen. Er wollte ihr dies peinvolle Wiedersehen ersparen. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, dann hätte er sie angefleht, beschworen: »Geh nicht ins Kloster!« – aber was konnte er ihr zum Ersatz dafür bieten? Welche andere Zuflucht? Er wußte keine. Sein Herz lag wie tot in der Brust, seine Liebe war erschlagen. Das schöne Suschen hatte oftmals im Scherz gesagt und den Mund dabei schmollend verzogen: »Der Herr Assessor lieben die ekligen Akten und die ganze eklige Justiz viel mehr als mich« – ach, diese einzige Ablenkung vom Weg der Pflicht war nun vorüber! An Suschen blieb ein wehmütiges Erinnern, in wachen Nächten eine leis nagende Sehnsucht; aber den Tagen gehörte der ganze Einsatz an Kraft und der Ehrgeiz, die Zähigkeit, alle Gedanken des durch keine zärtliche Schwäche abgelenkten Mannes.
Des Friedensrichters Gesicht war unbewegt, als er vom Wagen stieg. Die alte Lies kam herbeigestürzt, sie fragte gleich dringlich nach der Demoiselle Braut und wann die Hochzeit sei.
»Die findet nicht statt.« Sie starrte ihn an. »Die Demoiselle hat sich anders besonnen, sie geht ins Kloster.« Er sagte es ganz gelassen, er brachte es fast zu einem Lächeln, als er das dumm verdutzte Gesicht seiner Alten sah.
Kloster, ins Kloster! Das beruhigte endlich ihr frommes Gemüt. Und dann berichtete sie: der Schmied von Krinkhof war heute nachmittag dagewesen, er hatte dringend den Herrn Friedensrichter sprechen wollen. Morgen früh würde er wiederkommen.
Gewiß hatte der ihm etwas zu berichten über die Bande des Bückler! Wo der Friedensrichter auch unterwegs angehalten hatte, wo sie Vorspann genommen oder die Pferde gewechselt, vielleicht nur einen Trunk im Stehen heruntergegossen hatten, überall war von dem Bückler die Rede gewesen. Die Leute erzählten und lachten, es war beinahe so, als ob die Schurkenstreiche sie gar nicht mehr schreckten. Sie machten schier Heldentaten daraus, Märchen, an denen alt und jung sich ergötzte.
Oh, der Johannes Durchdenwald war gar nicht so schlimm, der konnte auch großmütig sein. Einem Mädchen, das zu arm war, um seinen Schatz, den Sohn eines Bauern zu freien, hatte er die ganze Aussteuer geschenkt – und was für eine! Einen Baron, der seine Diener mit Prügel traktierte und seinem Weib zwei Frauenzimmer auf den Hals setzte, fing er beim Spaziergang im Parke ab, zog ihm die Hosen herunter, band ihn an einen Baum und prügelte so lange auf ihn los, als er prügeln konnte. Einer weinenden Bauersfrau, die auf dem Weg zum Jahrmarkt war, wo sie eine Kuh kaufen wollte, weil die ihre gefallen, gab er zehn Krontaler für die beste Kuh. Sie sollte sich nur vom Viehhändler die Quittung ausstellen lassen und ihm die dann bringen. Am Abend lauert aber der Bückler dem reichen Viehhändler auf, zeigt ihm die Quittung und bittet sich höflich die zehn Krontaler wieder aus und noch zehn dazu. Und der zahlte, heilfroh, noch so billig davongekommen zu sein.
Ein richtiger Volksheld! Adami gestand sich's: es würde schwer sein, dem beizukommen. Aber es sollte das Werk seiner Tage sein, die Aufgabe seines Lebens. Nicht Ruhe noch Rast wollte er sich gönnen; wo nur eine Spur zu entdecken war, würde er sie aufnehmen und verfolgen. Er war allein, er besaß nichts anderes, was ihn erfüllte; so sollten denn seine Körper- und Geisteskraft, seine Energie, seine Beharrlichkeit, sein ganzes Wollen an diese Aufgabe gesetzt sein. Es mußte ihm gelingen, einen Menschen, der so klein war der Allgemeinheit gegenüber und doch wie ein großes Ungeheuer schädlich am Mark des Landes zehrte, zu vernichten. Oh, es war weit gekommen mit den Leuten, sie wußten nicht mehr, was gut und böse war! Die Bauern leisteten dem Bückler Vorschub, die Damen erzählten sich pikante Anekdoten von ihm. Wenn er ihn nur schon in Sichtweite hätte, diesen Straßenräuber, diesen Volksverderber!
Vielleicht, daß der Krinkhofer ihm auf eine Spur half. Auch der war ein Halunke! Adami traute dem Schmied nicht, er hatte das unklare Gefühl: der spielte ein doppeltes Spiel, das Gesicht des ehrsamen Mannes war nicht sein eigentliches Gesicht. In dem Richter regte sich ein Widerwille, aber was half's, er mußte seine persönlichen Antipathien und Sympathien beiseitelassen. –
Adami war müde, er schlief auch bald ein, aber er hatte unruhige Träume. Flüchtig glitt Susannes Gestalt durch diese Träume, doch der Strauchdieb verdrängte sie. Die Geschichten, die er am Tage erzählen gehört, wurden im Traum Wirklichkeit. Mitten in der Nacht fuhr der Mann auf, ging wie ein Nachtwandler an seinen Büchsenschrank und ertappte sich dann selber dabei, wie er im bloßen Hemd, im hellen Mondschein, auf der Diele stand, seine gute Büchse in der Hand hielt und sie spannte. –
Früh am Morgen fand sich Hans Bast von Krinkhof ein; mit Sonnenaufgang mußte er sich auf den Weg gemacht haben. In sorgfältigem Anzug, den blauen Kittel so rein, als sei der eben gewaschen, Haar und Bart glänzend gekämmt, stand er vorm Schreibtisch des Friedensrichters. Bieder streckte er seine Rechte hin.
Adami übersah es. »Nun, was hat Er mir zu sagen?«
Der Krinkhofer räusperte sich. Dann sah er sich um, wie um sich zu vergewissern, ob sie auch allein seien.
»Es hört uns niemand.«
»Bürger Friedensrichter, et is en heikle Sach – wollt Ihr mir versprechen, auf Euer Ehrenwort, mich nit zu verraten?«
» Ich verrate nicht!« Adami sagte es mit Betonung. Und um dann durch seine Anzüglichkeit den anderen nicht zu verdrießen, setzte er hastiger hinzu, als es sonst seine Art war: »Mein Wort, als Mann und als Beamter, ich verrate Ihn nicht.«
Prüfend, wie einander messend und einschätzend, sahen sich die zwei in die Augen. Die grauen Augen des Richters blickten klug und kühl, die schwarzen des anderen hatten einen heimlichen Glanz. Um einen Schritt trat Hans Bast näher: »Wat gebt Ihr mir, wenn ich Euch sag, wat mit dem Mann geschehen is, der von Trier in geheimem Auftrag geritten gekommen is? Heut vor vier Tagen. Und den die französ'sche Streifkolonn gestern gefunden hat unterm Reiler Hals in der Schlucht am Bach, als Leichnam!«
»Ermordet?!« Adami fuhr auf.
»Ihr wißt von nix – ich weiß viel. Alles.« Der große Mann reckte sich höher. »Sichert Ihr mir Straflosigkeit zu, Friedensrichter, wenn ich Euch mehr erzähl?«
»Ihr war't dabei?!«
»Ich war dabei. Der Herr in der französischen Uniform, er nannte sich Marquis von Ferrière, hat bei mir angehalten oben in Krinkhof. Hat sein Peerd neu beschlagen lassen – zu schnell geritten – das lahmte. Hat dann einen Führer verlangt an die Mosel – ich hab ihn geführt.«
»Ihr seid ein Schurke, Ihr habt ihn ausgeliefert! Ihr habt ihn der Bande verraten!«
»Gemach, Herr, so war dat nich. Wir wurden überfallen, auf dem Zwangsweg am Reiler Hals. Er wurd ausgeraubt.« –
»Und totgeschlagen!«
Hans Bast zuckte die Achseln. »Dat weiß ich nit. Kann aber sein. Ich bin geflohen.«
»Er hätte das sofort zu melden gehabt in Reil, in Alf!«
»Wat soll dat in Reil nutzen! Und wat soll Alf machen?!« Der Schmied lächelte. »Arme Dörfer, die selbst bang sind. Die können mich auch nit schützen, wenn die Bande vom Bückler mir mit Rache droht. Aber die Franzosen haben ihn ja gefunden, eweil fällt die Entdeckung nit auf mich.«
Ob es wirklich der flüchtige d'Aubry war, den man dort gefunden hatte? »Wie sah der Mann aus? Offizier, noch jung, schwarz, schlank, Fliege am Kinn?« Adami fragte es in seltsamer Erregung.
Der andere nickte. »Stimmt. In französ'scher Uniform. Und en frech Gesicht. En Bursch hatt er noch bei sich, der fiel vor Schreck vom Peerd wie en Klotz.«
»Wo is der geblieben?«
»Weiß nit. Wat geht mich die ganze Geschicht im Grund an? Ich wollt dem Bürger Friedensrichter nur mein Wort halten, und dat der weiß, ich bin unschuldig, wenn mich einer vielleicht den Franzos hat führen sehen. Ich war dabei und war doch nit dabei – der Herr weiß et jetzt.«
Adami grübelte: war es möglich, daß der Kapitän d'Aubry und dieser Marquis von Ferrière ein und dieselbe Person waren? Es konnte sein, die Beschreibung des Äußeren stimmte. Er hatte den französischen Hauptmann zwar nur ein einziges Mal gesehen, aber dessen Gesicht, ein rechtes Abenteurergesicht, hatte sich ihm scharf eingeprägt. Wenn er es denn wirklich war, der auf dem Reiler Hals dies schreckliche Ende gefunden, so hatte ihn die Strafe bald erreicht. Die Worte, die er kürzlich bei einem Dichter gelesen: »Denn alle Schuld rächt sich auf Erden«, kamen ihm ins Gedächtnis; sie erfüllten ihn jetzt mit einem geheimen Schauer. Der Verführer war tot, es hatte seiner Hand nicht bedurft, den Schurken hinter der Kirchhofsmauer niederzustrecken. Aber Susanne, was hatte Susanne von dieser Gerechtigkeit des Himmels? Seine Gedanken flogen noch einmal zu ihr hin. Und dann klammerten sie sich plötzlich an etwas anderes: der Bursche, der vor lauter Schrecken vom Pferd gefallen war wie ein Klotz – wo war dieser Bursche geblieben? War er am Ende der Mörder seines Offiziers? Es war kaum anzunehmen, aber war jetzt nicht alles möglich? Oder ob auch er das Opfer der Räuber geworden war? Ein Mitwisser, ein Zeuge des Geschehenen war gefährlich. Man mußte suchen, den Burschen aufzufinden, lebendig oder als Leichnam. Über ihn war der französischen Behörde Meldung zu machen.
Der Richter war so versunken in seine Gedanken, daß er ganz vergessen hatte, daß der Schmied aus Krinkhof noch immer dastand. Hans Bast strich sich den langen schwarzen Bart, in dem erst weniges Silber glänzte. Er schwieg auch. Endlich unterbrach er die Stille und sagte ganz beiläufig: »Der Marquis von Ferrière is auch zu Kochem gewesen, da war er aber nit eso schwarz, da hat er blaue Augen gehabt. Sie machen eweil da en groß Geschrei.« Er lachte in sich hinein. Und dann noch immer mit Lachen, es war ein seltsames Lachen: »Eweil kann ich wohl gehn?«
»Er kann gehen. Merci.« Nun half es Adami nichts, er mußte die ihm wiederum hingehaltene Hand ergreifen und schütteln: der Mann war zu wichtig, ein Kronzeuge ohne Zweifel. Des Richters Gesicht war bleich, er preßte die Lippen aufeinander, daß sie schmal wurden.
»Ich sehe drei«, sagte der aus Krinkhof, schon im Fortgehen, und dämpfte die Stimme, daß es klang wie ein Raunen. »Der eine reitet aus Trier, is Kapitän und nennt sich Marquis – der zweite sitzt zu Kochem, kein Marquis und doch als Marquis, und säuft da den besten Wein – der dritte liegt tot am Reiler Hals, is nit Marquis und auch nit Kapitän!« Damit ging er rasch aus der Tür und ließ den anderen betroffen zurück.
Welch merkwürdiger Mensch! Klug, mit einer Sprechweise über seinen Stand, aber unheimlich. Was wollte der mit seinem: nit Marquis und auch nit Kapitän –? Adami hätte den Mann fast noch einmal zurückgerufen, aber als er aus dem Fenster blickte, war der bereits zu weit. Schon verschwand die hohe Gestalt in der Senkung der rasch sich abwärts neigenden Straße.
*
Es war eine Begebenheit, die viel Aufsehen erregte, selbst in einer an abenteuerlichen Begebenheiten so überreichen Zeit: der Kapitän d'Aubry von der Besatzungsarmee zu Trier, der die Brust voller Orden hatte, die er sich in der Champagne, unter Custine in der Pfalz, unter Dumouriez in den Niederlanden erworben haben wollte, war ermordet worden im Moselgebiet. Und mit ihm war der Diener verschwunden, der ihn begleitet hatte. Der Bursche Jean-Claude, der den besten Leumund hatte, war aber nicht aufzufinden; alle Nachforschungen blieben ergebnislos. Der lag wohl irgendwo im Wald verscharrt, oder sie hatten seinen Leib in die Mosel geworfen, und die Strömung hatte ihn fortgeführt. Mit Heftigkeit verlangte das französische Tribunal Entdeckung und Bestrafung der Schuldigen. Dem armen Reil, in dessen Bannkreis der Mord geschehen war, wurde eine Kontribution auferlegt, die es nicht zahlen konnte. Aber trotz aller anscheinenden Heftigkeit betrieb man die Sache doch lau; die französische Militärbehörde hatte ein Interesse daran, baldiges Stillschweigen über diese Angelegenheit zu breiten. Man kam sich ja unsagbar blamiert vor: auf dem Rücken des Toten hatte sich ein Zeichen gefunden, eingebrannt: – Gal. – das untrügliche Erkennungszeichen der Galeerensträflinge. Und Narben von Peitschenhieben. So einer hatte sich ins französische Heer eingeschlichen mit falschen Papieren – weiß Gott, durch welche Verbrechen er sich die angeeignet –, hatte einen gewissen Rang bekleidet, sollte sogar demnächst weiter aufrücken! An oberster Stelle war man höchst ungehalten: wurde die Kontrolle so lässig betrieben in einer Elitearmee? Oberst Dupuis bekam einen unangenehmen Verweis; selbst daß es seiner Tüchtigkeit so bald gelungen war, den vermißten d'Aubry aufzufinden, wendete die Ungnade nicht von ihm.
Mit geheimer Schadenfreude bespöttelte es Trier, daß der Franzose vor der deutschen Pistole geflohen war. Daß der zudem die Regimentskasse mitgenommen hatte, erhöhte diese Freude noch. Um diesen Halunken war es wahrlich nicht schade, daß er ermordet worden war in der entlegenen Wildnis des Reiler Hals. Aber wer war der Täter? »Ermordet von unbekannter Hand«, stand im Polizeibericht. War die Hand wirklich so unbekannt? Jeder glaubte sie zu kennen: Bückler, Bückler! Aber es waren viele Sympathien bei ihm. Und hatte er nicht einen köstlichen Humor entwickelt bei seinem Besuche in Kochem? Kein anderer als er war es gewesen, der in der französischen Uniform, auf dem schönen Pferd des d'Aubry, eingeritten war in das Städtchen. Eine ungeheure Frechheit, aber genial, genial! Die Lacher hatte er auch auf seiner Seite.
Wie es freilich möglich gewesen war, daß er zur kritischen Zeit, weitab vom Schauplatz des Verbrechens, oben auf dem Hunsrück bei Simmern gesehen worden sein sollte, das blieb ungeklärt. Bauern behaupteten, ihm da, wo man ihn allgemein kannte, begegnet zu sein. Er ging bürgerlich, im dreikantig aufgeschlagenen Hut, die vorderen Haare geradegestutzt bis auf die Augen, die hinteren in einen kurzen Zopf gebunden; im graublauen kurzen Kamisol und in langen eng schließenden Hosen von blauem Tuch, die zwischen den Beinen mit schwarzem Leder besetzt waren. Er ging ruhig über Feld, trug eine lange Fuhrmannspeitsche in der Hand, schwarz mit rotem Leder am Stiel, fuchtelte mit der in der Luft und pfiff sich eins. Und der Pfarrer zu Langenlonsheim hätte eine Versicherung wie an Eidesstatt geben können, daß selbigen Morgens besagter Johannes Bückler bei ihm zur Beichte gewesen war, reuig gekniet hatte wie andere Sünder, Absolution erbeten und erhalten hatte.
Kann sich ein Mensch verdoppeln, verdreifachen? Bückler hier, Bückler da, Bückler dort! Es war schier unmöglich. Eine Rötelinschrift inmitten eines Herzens an der Wand der Reiler-Hals-Kapelle rührte natürlich nicht von des Bücklers Hand her, ein Spaßvogel mußte sich diesen dummen Scherz erlaubt haben. Das wäre sonst doch allzu frech gewesen. Wenige hundert Schritt nur entfernt von der Stätte, an der man gemordet, wo die Farnkräuter am Bach noch besprenkelt waren vom Blut, das kein Regen abgewaschen, sollte einer Lust haben, mit seinem Liebchen eine Nacht zu verbringen? Undenkbar. Wenn der Räuber hier wirklich genächtigt hatte, so war er unbeteiligt am Mord, hatte keine Ahnung davon, daß die Füchse, die heiser bellten, nicht den Mond anbellten, sondern einen Leichnam. Vielleicht auch hatte irgendein anderer Spaßvogel, derselbe, der das oben an die Wand geschrieben, den Marquis in Kochem gespielt und, um seinem Vorbild, dem Bückler, auch so recht nachzukommen, da oben eine Liebesnacht bescheinigt, die weder er noch irgend jemand gehalten hatte.
Die Meinungen waren so verworren wie die Tatsachen. Der Friedensrichter Adami, der sich der Sache mit einem besonderen Eifer angenommen hatte, bekam von allen Seiten Briefe. Das Porto war teuer, die Postbeförderung langsam, man hütete sich sonst, einen Brief zu schreiben – einen ganzen Krontaler kostete der –, man begnügte sich damit, ein-, zweimal im Jahr seine fernen Lieben wissen zu lassen, daß man noch lebte. Aber jetzt regneten dem weit bekannten Beamten die Briefe ins Haus. Durch viele Wochen flatterten die Zettel hinauf nach Lutzerath. Jeder glaubte sich zu einer Lösung des Falles berechtigt und einen so klugen Rat ausgeheckt zu haben, wie ihn noch kein anderer zuvor gefunden hatte. Die Briefe stammten häufig von Frauenhand. Die einen schrieben: der Bückler war sicher der Mörder gewesen, man mußte ihn foltern lassen. Die anderen schrieben: nein, er war's nicht gewesen, Johannes Bückler war sanft und im Grunde gut. Man müßte ein hübsches Mädchen ausschicken in den Wald Kondel, die mußte, wenn der Räuber ihr begegnete, ihm eine Nacht versprechen; da konnte er nicht widerstehen, und es würde ihr dann ein leichtes sein, herauszulocken, wer eigentlich der Täter war. Es boten sich welche an dazu. Eine – ältlich war sie, sie sprach selber von den 40 Lenzen ihrer Jungfräulichkeit – war am beharrlichsten. Dreimal bot sie sich an. An die schrieb Adami Antwort. Aber nur: »Schäme Sie sich.«
Es war zum Lachen und doch zum Weinen und auch zum Wütendwerden. Männern, die stahlen, raubten, jedem Gesetz ein Schnippchen schlugen, wurde Beifall geklatscht. Weiber boten sich dem Mann an, selbst wenn der ein Gauner und Straßenräuber war. Der Menschheit schien alles abhanden gekommen, was sie liebenswert machte! Der einsame Mann in seinem einsamen Haus hätte sich am liebsten erbittert noch tiefer in seine Einsamkeit verschlossen. Er schämte sich.
*
Der Herbst war gekommen mit vielen Farben, er machte die kunterbunte Welt auch äußerlich bunt. Trotzdem nicht heiterer. Es wurde früh kalt. Als unten an der Mosel Reifnächte die Blätter versilberten, die die Sonne am Mittag noch einmal grün küßte, war im Kondel und auf dem Plateau der Eifel schon Frost. Hungrige Krähen zogen in Scharen über die Häuserleere und krächzten die grauen Mooszipfel an, die den verwitterten Tannen wie Bärte um die Gesichter wehten. Hustend strich der Fuchs durch den Wald, und die Wildsauen wühlten nach den letzten Feldfrüchten. Von den einsamen Kohlenmeilern stieg kerzengerade, blau und weithin sichtbar, der Rauch jetzt in die dünn gewordene Luft. An einsame Höfe zog sich das Wild heran.
Die alte Frau in der Üßmühle konnte von ihrem Fensterplatz die Rehe zählen, die im Abendschatten aus dem Wald herunter zum Brückchen kamen, wo der Martin ihnen einen Futterplatz eingerichtet hatte mit Roßkastanien und Heu. Und dann lächelte sie vor sich hin: daß ihr Jüngster ein guter Junge war, das wußte sie längst, und daß er nun die Maria, die Tochter vom Schmied zu Krinkhof liebhatte, das wußte sie auch. Sie hatte nichts gegen das Mädchen; das war zwar arm, aber seit das öfter herunterkam, um ihr in der Wirtschaft zu helfen, schätzte sie die Tüchtigkeit dieser jungen Arme höher ein als Geld. Was war Geld heutzutage? Wenn man die Taler im Strumpf auch unterm Strohsack verbarg, das Diebsgesindel, das jetzt umherstrich, fand sie auch da. Man mußte ja zittern, wenn man Bargeld im Hause hatte.
Die Müllerin hatte stark gealtert in letzter Zeit, sie fühlte sich oft seltsam müde. Im nahen Bertrich gab es eine Heilquelle, sie hatte die Bäder gebraucht, die vor Jahren viel besucht worden waren; sie erinnerte sich der Zeit, da der Kurfürst von Trier dort alljährlich zur Kur war. Die warm sprudelnde Quelle, die jetzt verödet lag, denn es traute sich wegen der Unsicherheit niemand von weiter her, hatte ihr aber keine Heilung gebracht; die war für andere Leiden, ihr saß die Krankheit am Herzen. Ihre Füße waren oft so geschwollen, daß sie mit Mühe aus dem Bett bis zu ihrem Fensterplatz kommen konnte. Ein Glück, daß sie die Maria hatten! Die war immer zum Helfen bereit. Wenn die Frau sich dann bei ihr bedankte, zog's wie ein erhellender Schein über das immer ernste dunkle Gesicht.
Warum war das Mädchen so ernst, oft beinahe finster? Es war doch noch jung und hübsch und gesund. Die Müllerin fragte sich's und sprach mit dem Martin darüber. Es war das einzige, was sie an Maria Nikolai auszusetzen hatte.
»Sie hat keine Mutter mehr«, sprach der Sohn und sah die seine liebevoll an. Und ihr Vater war ein seltsamer Kauz, in dessen Nähe es einem nicht wohl werden konnte.
Es war dem Schmied eigentlich nichts Übles nachzusagen, und doch wurde jetzt manches über ihn geredet. Da oben in seiner Hütte war's nicht geheuer, man sah welche hineingehen, die man nicht kannte, und sah sie nicht wieder herauskommen. Nikolai mußte allerlei Leute bei sich beherbergen, die einen Unterschlupf suchten. Aber wenn der Schmied nach Dorf Bertrich hinunterkam zu seinem Freund, dem Metzger Bruttig, dann getraute sich doch keiner, ihn zu befragen. Der große Mann ging so aufgereckt und sah so abweisend aus mit seinen schwarzen Augen und dem langen Bart. Die Krinkhofer oben aber schworen auf ihren Schmied. Der war ihr Doktor und auch sonst ihr Helfer; wenn in keiner Schublade mehr Brot war, dann fand sich bei ihm noch immer etwas zu essen. Wo er's hernahm, fragten sie weiter nicht, er konnte ja aus Steinen Brot zaubern. Und schlug er mit seinem Stecken an einen leeren Krug, so floß daraus Schnaps, und aus dem Dampf seiner Esse konnte er Gesundheit und Krankheit vorhersagen.
Maria war wortkarg, sie erzählte nicht viel. Sie hätte auch nichts zu erzählen gewußt, selbst wenn Neugierige sie gefragt hätten; wenn sie vom Tal heraufkam, war der Vater immer allein. Nur nachts, wenn sie im Halbschlaf lag, hörte sie manchmal gedämpftes Sprechen; es beunruhigte sie, aber am Morgen war's wieder vergessen. All ihre Gedanken waren in der Mühle, waren da zu Haus. Sie war dem Vater dankbar, daß er ihr so häufig erlaubte, hinunterzugehen. Es verwunderte sie, daß er es bereitwillig zusagte, wenn sie drum fragte. Sie blieb oft tagelang fort. Wenn es der Müllerin schlecht ging, konnte die sie gar nicht entbehren. Geduldig saß sie dann auch des Nachts an dem alten Ehebett, hinter dessen geblümtem Kattunvorhang die Kranke seufzte und sich ruhelos regte. Den Müller hatten sie ausquartiert, er schlief in der Kammer nebenan bei Hubert und Niklas, von wo es nach der großen Mahlstube ging. Darin waren die Gänge gestellt, er hörte das wohlbekannte Klappern, es schläferte ihm die Sorge um seine Frau ein; er schlief so fest, daß er's nicht einmal hörte, wenn einer der Söhne aufpolterte, sobald das Läutewerk die Zeit zum Aufschütten meldete.
Völlig angetan wie am Tag, nur den Pfeil aus dem Nest der Flechten gezogen, daß die ihr lang bis tief über den Rücken hingen, und in den großen Filzschuhen des Müllers, damit ihr Tritt leise war, saß dann Maria und wachte. Wenn sie ein wenig einzudruseln drohte, fuhr sie doch gleich wieder auf: »Wie ist Euch?« Sie war eine aufmerksame Wärterin; sowie die trockenen Lippen sich nur ein wenig regten, bot sie gleich einen Trunk an. Dann flüsterte die Frau: » Merci« und drückte ein wenig die Hand, die in scheuer Zärtlichkeit sie leise zu streicheln wagte.
Ach, keinen Dank! Maria empfand es wie ein Glück, daß sie hier sitzen durfte und die Mutter des Martin pflegen. Wie warm saß sie hier, wie geborgen an diesem Bett, in dem einst der Martin geboren worden war an einem Sonntag. Ein Sonntagskind, auf Martinitag; seine Mutter hatte ihr das erzählt. Träumerisch sah sie ins Dunkel der Stube hinein, dem ein winziger Docht, auf einem Gefäß mit Öl schwimmend, einen ganz kleinen Schimmer von Beleuchtung gab. Ob es ihr wohl vergönnt war, auch einmal in solch einem Bett zu liegen? Das müßte schön sein! Sie seufzte bang-selig: der Martin hatte sie lieb. Oh, der Martin, der Martin! Es wallte auf in ihrem Blut. Gestern abend, als er der Mutter gute Nacht gesagt, hatte er sie an sich gezogen hier hinter dem Vorhang – er war nicht so schüchtern mehr – er hatte sie an sich gepreßt mit aller Kraft, und sie hatte nicht widerstehen können, und sie hatte ihn wieder geküßt und wieder. Oh, der Martin, der Martin! Ob er jetzt droben in seinem Kämmerchen auch an sie dachte, wie sie hier unten an ihn? Oder ob er schlief? Wenn sie jetzt hinaufschliche zum Taubenschlag – kein Mensch würde sie hören – sie würde sich über ihn beugen, die Hand fest auf seine Augen legen: »Wer ist da?« Der Martin würde auffahren, sie an sich reißen, sie gar nicht mehr lassen. Es durchschauerte sie. Aber nein, das durfte nicht sein! Er war zu schade für sie, er mußte sich einmal eine wählen, die rein war an Leib und Seele. Ein bitteres Gefühl stieg in Maria auf, alles bangselige Glück war entschwunden. Sie stieß einen Seufzer aus, der, ohne daß sie es wußte, laut durch die Stube zitterte.
Ein anderer Seufzer antwortete, im Bett der Kranken regte es sich. Eine vom Wasser aufgeschwollene Hand streckte sich suchend durch den Kattunvorhang. Als Maria aufsprang und den beiseiteschob, saß die Müllerin aufrecht in den Kissen. »Komm her«, sagte sie und zog das Mädchen näher zu sich.
»Wollt Ihr was?« Besorgt sah Maria der Frau ins Gesicht. Aber das sah ganz ruhig und freundlich aus, war nicht von der Angst des zu knappen Atmens verzogen.
»Hast du den Martin lieb?« fragte die Mutter.
Das Mädchen senkte den Kopf, es sagte nicht »ja« und nicht »nein«.
»Brauchst dich doch deswegen nit zu schenieren«, sprach die Frau weiter. »Ihr denkt wohl, ich bin krank und seh nit, wie ihr euch ankuckt?« Sie streichelte leise über des Mädchens Hand. »Mir soll't recht sein, wenn du für immer hier hinkömmst. Du bist fleißig und brav, du wirst mir für unseren Vatter gut sorgen und für meinen Martin – für die großen Jungens sorg ich mich nit – wenn ich nit mehr bin.«
Das Mädchen fing an zu weinen, unter Tränen stieß es heraus: »Ihr geht doch noch nit? Ihr dürft noch lang nit gehn!«
»In meiner Seel hab ich als lang Buß und Reu gemacht, unser Herr Pastor soll mir bald die letzte Wegzehrung geben. Ich hab en schön Leben gehabt, viel gute Zeit hier in der Mühl; eweil will ich dir Platz machen, du bist en lieb Dingen. Bist mir lieber als die Bräut vom Nikla und vom Hubert. Ich will dem Vatter sagen, daß ihr dies Bett kriegen sollt – warum weinste, Maria?« Das Mädchen war auf die Knie gesunken und legte die Stirn auf den Bettrand.
»Hör auf, hör doch auf mit dem Weinen«, sagte die Kranke fast ärgerlich. Sie verstand nicht: weint man vor lauter Glück so? »Magst den Martin so arg gut leiden?«
»Ich kann nit, ich kann nit«, stöhnte Maria.
»Warum kannst du nit?« Nun war die Mutter noch verwunderter: ihr Sohn wollte dies Mädchen freien, und das sagte: ich kann nit –?! »Wir sehen nit auf Geld, auch nit auf en Aussteuer, dadrin sind wir anders wie Bauersleut. Du brauchst dir deswegen kein Gedanken zu machen, Maria. Linnen is genug da für alle drei Jungens.«
Oh, wie war die gut, wie gut! Mit Schmerzen empfand das Mädchen jedes dieser Worte – konnte sie, die Maria Nikolai, solche Mutter betrügen? Durfte sie ihre Hand ausstrecken nach solchem Glück? Nein, sie mußte ehrlich sein, wollte es auch sein! Es regte sich plötzlich ein Stolz in ihr: sie war ja nicht schuld an ihrem Unglück, darum durfte sie es auch laut bekennen. Sie hob die Stirn, ihre dunkeln, tränengefüllten Augen sahen die Frau fest an, und es entrang sich ihr, stockend erst, aber dann unaufhaltsam; sie erzählte, was ihr geschehen war auf ihrem Heimweg von Trier. Ach, es war ja so vieles noch, was ihre Seele bedrückte, und was ihr leichter werden würde, wenn sie es hier sagen dürfte! Aber davon mußte sie ewig schweigen, es war ihres Vaters Geheimnis. Maria schwieg jetzt. Sie wartete – nun würde die Mutter sprechen: »Du tust mir leid, aber für meinen Martin bist du nit mehr.« Es war so still in dem Zimmer, daß man die Stimmen der Nacht überlaut hörte, die man bis dahin nicht gehört hatte.
In die Wärme der Stube schnob es durchs Fenster vom Bach her, eisig, mit fauchendem Atem. Es pochte, es klopfte, es rüttelte, es wischte um die Hausmauern und legte über den Hof. Wald und Gebirge waren ins Tal eingedrungen und die unruhige Stimme der Novembernacht. Wie kleine Kinder weinten die Marder in den Felsen, ganz nahe schrie ein Käuzchen. Sein Uhui klang jämmerlich langgezogen.
»Der Totenvogel«, sprach die Müllerin. Und dann: »Ich dank dir, Maria, für dein Vertrauen. Kannst ja nix davor, drum wein auch nit länger. Es tritt manch eine vor den Traualtar, den Kranz auf 'm Kopf, die lang nit so das Recht hat, den zu tragen wie du. Komm, gib mir deine Hand! Ich will mit unserem Vatter sprechen und auch mit dem Martin. Was du vielleicht nit sagen magst, das sag ich dem Martin. In einer guten Eh müssen die Eheleut einander nix fürmachen.« Sie winkte nach dem Fenster hin. »Der Totenvogel soll noch ebbes warten. Ich will noch Verspruch mitfeiern. Schüttel mir 't Kissen auf, Kind! Mir is eweil recht leidlich, ich will en Weil schlafen. Schlaf du auch!« Die Frau schlief rasch ein, ihr Atem ging ruhig, im Schlaf hielt sie die Hand des Mädchens fest.
Maria wagte nicht, sich zu rühren. Es war ein unbequemes Sitzen so, vornübergeneigt gegen das Bett hin, aber auch in bequemerer Stellung hätte sie nicht schlafen können. Sie saß mit offenen Augen; Stunde um Stunde verrann, sie fühlte nicht Müdigkeit noch Überwachtsein. Ihre Seele war übervoll von Freude und Traurigkeit, von Hoffnungsseligkeit und tiefster Bedrückung. Was half es ihr, daß seine Mutter es nun wußte? Daß die so gut gewesen war, so wie der Herr Jesus selber zu ihr gesprochen hatte. Das, was die jetzt wußte, war doch nur ein Teil ihres Leides und nicht der größte. Hier, in dieser sauberen Stube, in diesem Haus so voll von Ordnung und Freundlichkeit, stand die Gestalt ihres Vaters in allen Ecken und schaute sie finster an. Es war ihr, als könne sie ihn nicht mehr lieben. Wenn der nicht wäre, könnte sie nun ruhig ihre Hand in die des Martin legen. Aber des Hans Bast Tochter durfte niemals den Martin freien.
Und doch hielt sie alles hier so fest, so fest. Sich jetzt schon loszureißen von dieser Mutter Hand, die die ihre hielt, fortzugehen aus dieser warmen Stube, aus diesem Haus, in dem ihr jeder Winkel bereits so vertraut war, das, fühlte sie, vermochte sie jetzt noch nicht. Und was würde der Martin sagen, wenn sie fortliefe so auf einmal? Noch konnte sie ja ein wenig bleiben. Und sie würde jede Stunde genießen, die ihr noch vergönnt war, sich recht erwärmen, damit es ihr nachher nicht so kalt war oben in Krinkhof.