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Aus der lachenden Rheinsonne kommend, die den Strom zum goldenen Spiegel gemacht hatte und den trotzigen Brocken des Ehrenbreitstein glanzvoll bekrönte, war Adami wie blind, als ihn der Schließer durch schmale, nach Schimmel riechende Gänge des alten Gefängnisses führte. Er tappte im Dunklen. Schlüssel rasselten. Er trat ein in die Zelle.
Hans Bast hatte gebückt auf seiner Pritsche gesessen, nun richtete er sich auf, seine Höhe stieß fast oben an. Eine sehr kleine, dicht vergitterte Luke über seinem Kopf gab spärlich ein bißchen Licht, man konnte sich nur eben erkennen. Der Gefangenenwärter war mit hineingekommen und faßte an der Tür Posto.
»Laß Er uns allein«, sagte der Friedensrichter.
Der Mann stand unschlüssig, dann murmelte er etwas und ging: wenn der Herr es so wollte, dann hatte er zu gehorchen, aber der Herr tat's auf eigene Gefahr. Für alle Fälle blieb er draußen an der Tür stehen. Aber wie er auch horchte, es blieb drinnen ganz friedlich.
Ist das Hans Bast von Krinkhof? hatte Adami zweifelnd gedacht. Der hier war ja fast weiß!
Der alte Mann nickte: »Setzt Euch, Bürger Friedensrichter«, und schob ihm den einzigen Schemel hin.
Ja, das war Hans Bast doch, dieselben großen schwarz glänzenden Augen, die noch immer etwas von Feuer hatten; selbst die lange Haft hatte das ihnen nicht nehmen können. »Er hatte mich zu sprechen gewünscht«, sagte Adami. Es war ihm beklommen. »Hat Er ein besonderes Anliegen?« Er fragte es teilnehmend. Heute am Morgen schon hatte er die Verteidiger des Angeklagten gesprochen und auch den Präsidenten des Tribunals – für Hans Bast war nichts mehr zu hoffen. Der Präfekt würde unter allen Umständen das Todesurteil unterzeichnen. Ob der Gefangene wußte, wie es um ihn stand?
Hans Bast ließ seinen Blick fest auf Adami ruhen. Er sagte: »Ich hab Euch gehaßt, ich hätt Euch beinah emal durch't Fenster erschossen.« Er lachte – es sah wenigstens wie ein Lachen aus –, der andere hatte eine unwillkürliche Bewegung gemacht, war sich über die Stirn und Haartolle gefahren. »Ich sag ja nur ›beinah‹. Aber ich hätt Euch ebensowenig erschossen, wie ich den Üßmüller erschossen hab, weswegen sie mich auch angeklagt haben.« Er legte den Kopf ein wenig hintenüber und schloß die Augen halb, als sänne er nach. »Ich hätt Euch oftmals erschießen können, Ihr seid viel allein geritten. Aber Ihr habt zuviel Mut – ich könnt et nit tun.«
Adami nickte: jawohl, er war dem hier ein nicht zu unterschätzender Gegner gewesen, sie hatten sich gegenüber gestanden von Anfang an. Wie offen der jetzt war!
»Habt Ihr den Mungel denn umgebracht in der Linnich?«
»Dafür hat der Bruttig bluten müssen.«
»Wißt Ihr, daß er es getan hat – und allein? Ihr spracht mir damals, als ich oben in Eurem Haus war, von dem Bückler und seiner Bande.«
Es funkelte etwas hinter Hans Basts halb geschlossenen Lidern: »Da wollt ich Euch einseifen. Aber Ihr habt mich eingeseift. Der Bückler hat et vielleicht auch getan; vielleicht mit dem Bruttig, vielleicht ohne den Bruttig, vielleicht war et auch der Bruttig allein.« Er zuckte die Achseln. »Wir drei werden uns ja bald wieder treffen. Auf dem Schindanger. Da sind wir ganz unter uns, sitzen auf unsern Gräbern, nachts Uhrer zwölf, schieben mit unsern Köpfen Kegel, solang, bis der Hahn kräht.«
Es durchschauerte Adami: eine grausige Phantasie! Und der sagte das so, wie einer eine Schnurre erzählt! »Malt Euch doch nicht so schreckliche Bilder aus, Nikolai.«
»Schrecklich?« Hans Bast schüttelte langsam den Kopf: »Dat is doch nit schrecklich. Aber wißt Ihr, wat schrecklich is?«
Adami glaubte die Antwort zu wissen: das Fallbeil. Aber er sprach sie nicht aus.
Der andere las sie ihm vom Gesicht. Er sagte: »Nein, nit dat Fallbeil. Ihr könnt sicher sein, ich werd die letzte Nacht vor meiner Hinrichtung ruhiger schlafen als meine Richter.«
Welch ein Mensch! Adami fühlte wieder den gleichen Schauer. Gab der sich nur so stark, um noch bis zum Schluß alle Welt zu täuschen, eine Größe zu zeigen, die er im Grunde gar nicht besaß? Oder war dieser Verbrecher wirklich ein so großer Verbrecher, daß man nur bedauern konnte, seine Größe so abgeirrt zu sehen? Wer hatte diesen Menschen geboren, wer an dieses Mannes Wiege gesessen? Der Mund war Adami wie zugehalten, er saß schweigend.
»Ich hätt eine Bitt, Bürger Friedensrichter. Gerad an Euch. Denn Ihr werd't se erfüllen. Eins is mir schrecklich: Könnt Ihr et nit machen, dat ich nit im roten Hemd muß zum Richtplatz gehn? Der Hans Bast, den Ihr Euch nit denken könnt – Flügelmann der kurtrierschen Garde, als junger Kerl in stolzer Montur –, der soll nun, als alter, sich im roten Hemd auf seinem letzten Gang zeigen?«
Der Gefangene sprach mit soviel Bewegung, wie er sie bisher nicht gezeigt hatte. »Sprecht für mich, laßt mich nit so verschandeliert im Mörderhemd vor die Leut treten – gebt mir en weiß Hemd!« Er hob bittend die Hände.
Ein wunderlicher Mensch – so hart, so verstockt, und dann solche Bitte! Adami neigte bejahend den Kopf: »Ich will's versuchen und deswegen sprechen. Ich denke, es wird Ihm diese Bitte genehmigt werden.«
» Merci!« Hans Bast atmete sichtlich auf.
Adami fühlte, der Mann war nun zugänglicher. Und er benutzte das. »Wollt Ihr nicht endlich gestehen, Hans Bast? Wozu Euer hartnäckiges Leugnen? Es verschlechtert nur Eure Lage. Ihr habt den d'Aubry umgebracht?!«
»Nein.« Der Angeklagte blickte vor sich hin, jetzt war der frühere harte Ausdruck wieder auf seinem Gesicht.
»Ich weiß es.« Der Richter legte ihm die Hand auf den Arm. Es klang wie mahnend und deutlich betont: »Ich weiß es.«
»Was hat die Maria gesagt?«
»Eure Tochter hat jede Aussage verweigert; das ist ihr gutes Recht!«
»Ich hab den d'Aubry nit umgebracht.« Die Stimme klang ganz ruhig, keine Miene veränderte sich in dem kalten Gesicht.
»Ihr habt den Diener des d'Aubry vergessen, der seinen Herrn begleitete auf dem Reiler Hals. Der hat ausgesagt. Ihr seid dadurch schwer belastet und – überführt, Nikolai!«
Wollte der nun noch leugnen? Er wurde bleich, bleicher noch, als er zuvor gewesen war, aber setzt glühend rot, alles Blut schien ihm zu Kopf gestiegen; er ballte die Fäuste: »Hund verfluchter, hätt ich den lieber kaltgemacht!« Mit lautlosen Schritten lief er in der Zelle umher, er stieß gegen die Mauern. Wie ein Tiger im Käfig!
»Gesteht, Hans Bast, gesteht! Ihr seht, Leugnen hilft nicht, denn auch der Bückler hat gegen Euch ausgesagt. Und ich weiß auch, warum Ihr den d'Aubry umgebracht habt.«
»Warum?« Der Umherrennende stand plötzlich still, dicht vor Adami, seine Augen funkelten ihn wild an.
»Und kann Euch hierin verstehen. Laßt doch die Franzosen auch wissen, was ich weiß, ich rate Euch gut. Und sie werden Euch deswegen nicht zum Tode verurteilen, Milderungsgründe annehmen. Einen Vater, der seine Tochter –«
»Hört auf!« Hans Bast unterbrach ihn rauh. »Spart Euer Red! Ich will nix von den Franzosen, auch mein Leben nit. Von Hans Bast seiner Tochter sollen sie nix zu wissen kriegen, und kein Mensch auf der Welt nit – die is zu schad. Ich hab den d'Aubry nit umgebracht und damit basta.« Er ließ sich schwer auf den Schemel fallen, von dem Adami bei seinem drängenden Zureden aufgestanden war, stemmte die Ellbogen auf die Knie und legte sein Gesicht in die Hände.
Eine lange Weile blieb es still. Hans Bast rührte sich nicht. Schlief er? Tiefe, gleichmäßige Atemzüge schienen es zu künden. Adami überlegte: was sollte er denn noch sagen? Wie den noch zu überreden versuchen? Hartnäckig blieb der ja bei seinem Leugnen – hier war alles umsonst! Leise rührte er an des Zusammengesunkenen Schulter: »Habt Ihr Eurer Tochter etwas zu bestellen, Hans Bast? Ihr wißt, daß sie den jungen Müller geheiratet hat. Möchtet Ihr sie nicht noch einmal sehen?«
»Ich will sie nit sehn. Ich hab viel Unrecht an ihr getan. Sie soll mich vergessen – auf daß es ihr wohlergehe auf Erden.«
*
Im Schloß, das der letzte trierische Kurfürst, Clemens Wenzeslaus, sich vor jetzt noch nicht fünfundzwanzig Jahren erbaut hatte mit aller Pracht, fand die Verhandlung gegen Hans Bast Nikolai, den Schmied von Krinkhof statt. Der Andrang war groß. Der gewöhnliche Saal im Gerichtsgebäude wäre viel zu klein gewesen; hier hatte man nun den großen früheren Ballsaal für die öffentliche Verhandlung gewählt. An der Erzstatue des dicken Wenzeslaus vorbei strömte die Menge; man drängte, man puffte, man quetschte sich durch, man bat, man stöhnte, man schimpfte, man gelangte endlich hinein. Karten waren ausgegeben worden, man zahlte willig vierundzwanzig Franken für einen Platz auf der Galerie. Würdevoll schauten die Bilder der trierischen Kurfürsten auf erregte Männer und Frauen. Das war eine Spannung unter dem mächtigen Tonnengewölbe des Ballsaals! So sehr hatte vormals selbst das Herz eines verliebten Fräuleins dem erwählten Junker, der sie zum Tanz führen sollte, nicht entgegengeklopft, wie das Herz der Menge jetzt klopfte. War das ein verstockter Sünder! Keiner war je abgeurteilt worden, der so dreist, so kalt die Geschworenen ins Auge gefaßt hätte. Jeden einzelnen von ihnen besah er sich ganz genau, nicht gerade frech, aber doch so, als wolle er begutachten: bist du auch fähig, mir recht das Urteil zu sprechen?
Schon so ein alter Mann! Sein Haar war weiß, und vor kurzem sollte sein Bart doch noch pechschwarz gewesen sein. Jetzt waren nur die Augen schwarz. Es grauste die Frauen: schwarz wie die Nacht. Und wieviel Schreckliches hatten die schon gesehen! Blut, Blut! Da war der Johannes Bückler, der zu Mainz mit seiner Bande des Endurteils harrte, doch einer, den man bedauern konnte. Wie gut geartet war der! Leute, die es genau wußten, erzählten, daß er ganz heiter sei, weil er noch immer hoffte, begnadigt zu werden. Er hatte ja auch offen, ohne Rückhalt bekannt, von sich und seiner Bande wahrheitsgemäß alles ausgesagt. Nun durfte er ab und zu seinen Knaben sehen, man brachte ihm den ins Gefängnis. Er spielte mit seinem Hänneschen »Kuckuck«. Ach, ein liebevoller Vater! Alle Frauen waren gerührt, wenn sie sich dieses Bild ausmalten.
Wie anders war der hier! Noch ehe die Anklagen verlesen wurden, sprach der Zuschauerraum ihn schon »schuldig«: er hatte den französischen Offizier umgebracht, den armen Handelsmann und den Besitzer der Mühle natürlich auch. Und Gott weiß wen noch! Gerüchte flogen durch die Stadt, grausige Geschichten; die Kinder fürchteten sich, abends zu Bett zu gehen. Auf der Galerie im großen Ballsaal wisperte es, tuschelte, raunte, aufgeregte Menschen steckten die Köpfe zusammen: hatte man je so etwas gehört, war's möglich, zehn Menschen hatte der totgemacht? Seine eigenen drei Frauen umgebracht und noch seine Tochter dazu. Der reine Blaubart! Sein Bart war nicht umsonst, wie bei jenem im Märchen, so blauschwarz und unheimlich gewesen. Und gelb das Gesicht, die Augen wie Kohlen. Ein Mensch, wie ein böser Geist, wie ein dunkles Rätsel. Warum gestand der Mann nicht? Des Mordes an dem Franzosen war er doch glatt überführt, aber er gab ihn noch immer nicht zu. »Nein, nein«, und sonst kein Wort.
Die Verteidiger des Angeklagten, ein alter berühmter Advokat und ein junger, der dadurch berühmt zu werden hoffte, machten viele Worte, sie redeten stundenlang, gewandt und glänzend. Die Augen halb geschlossen saß der Angeklagte – hörte er zu? Man wußte das nicht; es sah aus, als ginge ihn alles nichts an. Nur als der Präsident ihm sagte: »Wie kommt das denn, daß Sein Haus der Sammelplatz aller Halunken gewesen ist?« sagte er schlagfertig: »Nit alle sind bei mir eingekehrt. Euch, Citoyen Collège, hab ich nie drin gesehn.«
Eine unerhörte Frechheit war das! Ein heimliches Lachen ging durchs Publikum; aber es waren auch viele entrüstet. Der Angeklagte hatte die Augen groß aufgemacht und den Kopf nach dem Präsidenten gedreht. Der gebot Ruhe. Das heimliche Lachen war ein lautes geworden, dazwischen Zischen und Ausrufe: »Unverschämt!« »An den Galgen mit dem Kerl!« »Die Guillotine ist noch zu gut für den!« Es war eine große Unruhe. Der Vorsitzende selber hatte die Ruhe verloren, er wurde nervös: wenn das Publikum sich nicht still verhielt, mußte er den Saal räumen lassen!
Fünf Tage hatte die Verhandlung gedauert. Sie war eine Qual. Die Hochsommerhitze war unerträglich, die Luft im überfüllten Saal von vielen schwitzenden Menschen verbraucht. Der Präsident und die Beisitzer, die Advokaten und die Geschworenen hatten hochrote Köpfe, Damen fielen in Ohnmacht. Nur dem Angeklagten schien es nicht zuviel zu sein.
Man hatte die großen, bis zum Boden reichenden Fenster des Saals, dem Rhein zu, geöffnet. Eine satte Sommersonne goß herein. Hans Bast wandte sich ganz nach dem Fenster hin, eine Welle von Luft flutete ihm über die Stirn, er erschauerte leicht. Eben hatten ihn die Geschworenen des Mordes an Mungel freigesprochen. Auch die Schuldfrage am Tode des Müllers verneinten sie jetzt.
Ein Murmeln ging durch den Saal, ein erstauntes: »Ach?« Und es schwoll an, schwoll immer mehr an, wurde zum Brausen. Der Präsident rührte die Glocke, einmal, zweimal, dreimal: »Ruhe!« Menschen waren aufgesprungen, standen auf den Zehen, machten die Hälse lang, hingen mit halbem Leib über die Brüstung der Galerie: Herr Gott, sie würden ihn doch nicht auch des Mordes an dem Franzosen freisprechen?!
Hans Bast sah noch immer zum Fenster hinaus: ah, die Sonne, die satte, und der spiegelnde Rhein, und der Ehrenbreitstein, der stolze Felsen jenseits des Stromes! Er trank das goldene Bild mit seinen Augen.
Nun die dritte Anklage! Der Spruch der Geschworenen lautete auf schuldig. Wieder Brausen im Raum. Beistimmendes Flüstern war lauter und lauter geworden, zu laut. Wieder ertönte die Glocke des Präsidenten. Der Angeklagte erhob sich, der Richter setzte sich das Barett auf. Atemlose Stille. Hans Bast Nikolai war zum Tode verurteilt worden. – – –
Ob der auch so ruhig und unbewegt heute bei seiner Hinrichtung sein würde wie gestern abend und all die Tage bei der Verhandlung? Das fragte sich heute ganz Koblenz. Der stumme Mann, dieser Mensch wie ein Rätsel, hatte die Neugier erregt. Durch die Gefängnismauern sickerte nichts, aber die Verteidiger, die den zum Tode Verurteilten in aller Frühe, eine Stunde vor der Hinrichtung noch besuchten, wußten, daß er die Nacht ganz leidlich verbracht hatte. Er beklagte sich nur, daß die Eisen, die man ihm, wie es üblich war, in der letzten Nacht um die Füße geschlossen hatte und um den Hals, ihm unbequem gewesen wären. Sie hatten gedrückt, und er hatte auch nicht gut gelegen deshalb. Aber wahrhaft ärgerlich war es ihm, daß sein porzellanener Pfeifenkopf, aus dem der Tabak so besonders gut schmeckte, zu Boden gefallen und zerbrochen war. Diesen Pfeifenkopf beklagte er laut und weniger wortkarg, als man's sonst an ihm gewohnt war. Er beschrieb ihn ganz ausführlich mit all seinen Vorzügen.
Der junge Advokat erinnerte sich, eine ähnliche Pfeife zu besitzen, gefällig eilte er nach Hause in die Löhrstraße und holte sie. Er schenkte sie dem Verurteilten und ein Paket Tabak dazu. Hans Bast bedankte sich sehr erfreut, er drückte dem jungen Herrn mehrmals die Hand: » Merci, merci!« Es stieg wie lebendige Röte dabei in sein Marmorgesicht, und seine kalte Stimme wurde herzlicher, wärmer. Nun wußte man doch, dieser verstockte Verbrecher, dieser Block von Stein, war auch ein Mensch.
*
In der ersten Augustnacht, in der alle Stimmen des Sommers von Lebensfülle und Lebensgenuß heißbrünstig flüsterten und Rhein und Mosel vor Liebesverlangen, sich zu vereinigen, lauter rauschten, hatte man da, wo sie zusammenfließen, auf dem freien Platz mit dem Freiheitsbaum das Gerüst aufgeschlagen. Vormals stand hier der Galgen der Stadt. So hoch wie die kleinen Häuser von Lützel-Koblenz ragte der oberste Querbalken, von dem die blanke Schneide herabhing. Nun brauchte man nur an dem Strick zu ziehen, der am linken Pfosten entlang lief, und – siehe! – schon sauste blitzschnell die Schneide herunter.
Die Arbeiter, die am Gerüst schafften, schwitzten, die Nacht war heiß und die Arbeit eilig. Sie ließen sich aus dem nächsten Wirtshaus Schoppen auf Schoppen holen, jung lief das Weinchen durch die durstigen Kehlen. Die einzelnen Teile der Guillotine wurden fertig gezimmert und gestrichen geliefert, aber noch mußten sie mit vieler Sorgfalt zusammengefügt werden. Die Galerie, die oben um den hohen Unterbau herumlief, wollte gar nicht recht passen. Ein Sägen, ein Hämmern, ein Rütteln, ein Klappern, ein Raspeln und Klopfen begann in der Nacht. Die Sterne lächelten nieder. Als sie verblaßten und das Morgenrot freudig erglomm, da schob man eben die Bretterstufen der Treppe zum Hinaufsteigen ans feste Gerüst heran. Und nun war alles fertig.
Es kamen auch schon die ersten Neugierigen aus der Stadt. Wenn Hans Bast Nikolais Geschick auch nicht in dem Maß das Rheinland erregte wie das von Johannes Bückler, dem Volkshelden, so waren doch viele gestern nach Koblenz geströmt. In den Anlagen, an den Ufern des Flusses nächtigten sie. Von der Mosel, bis von Trier her, kamen Leute. Es war mancher dabei, der den Schmied von Krinkhof persönlich kannte, sogar schon gekannt hatte, als der noch Flügelmann bei der trierischen Garde gewesen war. Wenn solche sich trafen, sprachen sie mit einigem Mitleid; sie waren aber auch die einzigen. Einst so ein schmucker Kerl – wie war der nur dahingekommen, vom Paradeplatz bis hierher aufs Schafott?!
Ein wackliges Männlein bekreuzigte sich und murmelte leise: »Gott bewahr unsere Enkel vor gleichen Tagen!« Der Wacklige rannte dann, er wollte doch auch gut sehen. Und so rannten viele: zum Schafott, zum Schafott! Diese Hinrichtung war nur das Vorspiel, bald würde man zu Mainz noch ein größeres Schauspiel sehen; man sprach von zwanzig, die da aufs Blutgerüst sollten, der erste von ihnen war der Bückler selber.
Ein junger Tischlergeselle schob eine Karre heran, ein anderer hatte sich vorne vorgespannt, sie pfiffen beide hell das bekannte Lied: »So geht es in Schnutzel-Putz-Häusel – da tanzen die Ratten und Mäusel.« Sie brachten einen Sarg heraus auf ihrer Karre, einen rohen Brettersarg mit lockigen Hobelspänen und Sägmehl gefüllt. Im Bogen wichen die Fußgänger aus. Die Burschen aber lachten: »Ei wat, der Kopp, der Kopp liegt ja noch nit drin!«
Leer stand der Sarg nun vor dem Gerüst und wartete stumm. Alles wartete, die Natur und die Menschen. Noch war die Sonne nicht ganz heraus, leichte Morgennebel stiegen vom Rhein auf. Endlich enthüllte sie voll ihr strahlendes Angesicht. Eine Stimme begann zu klagen, ein Stimmchen, dünn und piepsig, mit jämmerlichem Bimbim: das Armesünderglöcklein. Wimmernd ertrank sein Läuten im Klappern von Pferdehufen, im Trappeln von Füßen, im ganzen Laufen und Treiben des Volkes und des Militärs.
Karabiniers waren beordert, sie bildeten einen Kreis ums rot angestrichene Gerüst. Dahinter noch eine Reihe Chasseurs zu Pferde. Es wurde niemand durchgelassen, nur Offiziere der Besatzungsarmee und höhere Beamte der Stadt; sie zeigten Passepartouts vor.
Oh, wie schade, daß keine Häuser in nächster Nähe waren, aus deren Fenstern man hätte zusehen oder auf deren Dach man hätte kriechen können! So mußte man denn die Bäume benutzen. Es standen ihrer aber leider nicht viele hier; der schwache Freiheitsbaum bog sich fast unter dem Gewicht schmutziger Straßenjungen. Auf dem Fluß schaukelten langsam Nachen, vollbeladen mit Leuten, die das Schauspiel von hier aus zu sehen hofften. Auf der Kartause reckte die Schildwache den Hals; sie konnte von so weit nichts erkennen, aber dumpf hörte sie unbestimmtes Wogen von Stimmen. Und nun plötzlich, durchdringend laut, einen einzigen Schrei: »Sie kommen!«
Der Karren fuhr vor, mit einem mageren Rappen bespannt. Ein langgezogenes »Ach« der Enttäuschung; verwundert sahen die Gaffer drein: der hatte ja nicht das rote Hemd an?! War der denn kein Mörder?!
Im weißen Hemd, wie er es erbeten hatte – sein einziger Wunsch –, verließ Hans Bast Nikolai den Wagen. Ohne auf die Hand zu achten, die man ihm stützend bieten wollte, sprang er herunter.
Mit festen Schritten ging er dem rot gestrichenen Gerüst zu, die Stufen hinauf. Er brauchte keine Hilfe. Aber der Kapuzinermönch, der bei ihm gesessen hatte im Wagen, ihm zugesprochen hatte während des ganzen Weges mit Gebet und Tröstung, der brauchte Hilfe, man schob ihn neben dem Verurteilten die Treppe hinauf.
Ein Augenblick Pause – die Pause letzter Erwartung. Ein Kind schrie plötzlich grell auf. Ein Knabe lag in Krämpfen am Boden; seine Großmutter hatte ihn hergeschleppt, er sollte das Blut des armen Sünders warm trinken, das vom Richtblock traufte, sie wollte es auffangen, ein Becherlein hatte sie dazu mitgebracht. Solches Blut heilte die fallende Sucht.
»Stuß«, sagte der Mann mit dem hohen schäbigen Hut und dem Ziegenbart, der neben ihr stand, und schubste die Alte mit ihrem Becher beiseite: »Stuß!« Und dann zu sich selber: »Gott soll hüten! Herz Rosenblatt, warum biste gekommen her? Aus purer Neugier. Ei weh, kannst's doch nit mit ansehen. Nu, ich geh wieder!« Er drängte mit Geschmeidigkeit sich aus der Menge heraus und verschwand mit flatterndem Rock eiligst gen Koblenz.
Oben auf dem Gerüst stand Hans Bast Nikolai. Nur einen Augenblick noch. Wollte er noch etwas sprechen? Kein Wort. Er sah den Mönch, dem er während der Fahrt kein einziges Mal den Kopf zugewendet hatte, auch setzt nicht an. Als der ihm das Kruzifix vorhielt, schob er's beiseite. Sein Blick flog zur Mosel hin, die sanft dahinfloß, er sah in goldenen Fernen die Berge der Heimat – von hier, so hoch oben, sah man sehr weit. Er sah das alles noch einmal, ein seltsamer Ausdruck flog über sein starres Gesicht.
*
Wo man Hans Bast Nikolai von Krinkhof begraben hat, weiß niemand.
Aber in Mainz, vor dem Weisenauer Tor, zeigt man zwanzig Pappeln, darunter zwanzig gerichtete Räuber begraben sind von der Bande des Schinderhannes. Er selber liegt unter dem dicksten und größten Baum.