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Die Schmiede von Krinkhof lag abseits von den übrigen Hütten. Gestern war ein Gewitter auf sie niedergeprasselt, heut stand sie in der vollen Sonne des Sommertages. Durch einen ausgehöhlten Baumstamm floß eine Quelle, Maria Nikolai kniete daran und wusch ihres Vaters Hemden.
Es war viel mehr Ordnung in Hans Basts Hütte, seit die Tochter zu Haus war, wenn auch nicht mehr Fröhlichkeit. Wortkarg gingen Vater und Tochter nebeneinander her. Ernst stand auch die hohe Tanne bei der Hütte, ihre Zweige waren schwarz und hingen tief nieder. Wenn der starke Höhenwind ihre Äste auseinander lüftete, dann sah man eine schweigende Waldweite – sonst nichts. Noch war nicht viel ausgeforstet. Wald, Wald, lauter Wald mit dem Rauch einsamer Kohlenmeiler; nur hie und da das samtene Grün eines Bachtales, wie ein schmales Band sich zwischen die Wellen der Waldberge schlängelnd. Wenn man auf die Tanne hinaufkletterte, von ihr aus wie von einem Ast Auslug hielt, dann sah man viel. Sah den nackten Rücken der Eifel sich wie die Schale einer Schildkröte wölben und sich spiegeln im Sonnenglanz. Sah auch ferne Dörfer mit nadelspitzen Kirchtürmchen und sah der anderen Seite zu, über ein sich wieder und wieder erneuerndes Geschiebe von Bergkulissen weg, ganz im Grund die blaue Schlucht, in der die Mosel fließt.
Oft stieg Maria hinauf in die Tanne; das hatte sie schon als Kind getan, wie ein Eichhörnchen sich von Ast zu Ast geschwungen. Jetzt kletterte sie behutsamer, aber doch noch behend genug. Sehnsüchtig sah sie in die Ferne: wie glücklich waren die Menschen, die dort auf gesegneteren Fluren wohnten! Hier war das Leben hart, die Winter waren lang, und brachte der steinige Acker endlich die ersten Früchte, dann brach der Hirsch aus dem Wald, oder die Wildsau kam mit Gegrunze und wühlten sie aus. Es war oft wenig zu essen in Krinkhof; dann kamen die Männer zum Vater, und er sprach heimlich mit ihnen in der Stube, darin der große Schrank stand. In dem Schrank hingen nur des Vaters Kleider und einiges Angelgerät, drückte man aber gegen die Hinterwand, so schob die sich beiseite, und man stand in einem ganz kleinen Kämmerchen, gerade groß genug, daß ein Mensch drin stehen konnte. Außen merkte man von dem Kämmerchen nichts, auch wenn man um die Hütte herumging und spähte.
Maria selber hatte nie etwas davon gewußt, bis eines Abends ein Mann gekommen war, zerzaust, Gesicht und Kleider von Dornen zerrissen, ganz atemlos, den hatte der Vater in den Schrank geschoben. Gleich darauf kamen Gendarmen. In letzter Zeit wurde öfter einer so versteckt. »Schließ ihm den Schrank auf«, sagte dann kurz nur der Vater, und sie schloß auf. Aber in die Liebe, die sie zum Vater hatte, mischte sich jetzt eine Scheu. Warum gewährte er diesen Leuten Unterschlupf? Denn es waren nicht nur Bauern, die wegen Wilderei, Heu- und Kornhinterziehung bei den Requisitionen und wegen Schmuggels von den Gendarmen gejagt wurden, es waren Diebe, Pferdediebe, Einbrecher, Straßenräuber. Sie alle schienen mit dem Vater vertraut.
Was war ihr Vater? Oft wälzte sie das schwer in ihrem Sinn. Früher Soldat, jetzt Schmied – und was noch?! Sie mußte so viel darüber denken, daß ihr oft war, als ginge jeder Frohsinn darüber fort. Alles, was sie schon erlebt und erlitten hatte, mischte sich seltsam mit diesen schweren Gedanken: was war er, und warum hatte er sie zur Buzliese getan, der alten Hehlerin, bei der die Bande des Bückler aus und ein ging, bei der sie nur Schlechtes sah und Verderbtes lernen konnte? Sie legte die Hand an die Stirn und zernagte sich die Lippe – warum?! Sie konnte es nicht ausdenken. Und doch fühlte sie, der Vater hatte sie lieb; seine Hand strich zuweilen über ihren Scheitel, und er brachte ihr etwas mit, worüber sie sich freute. Freilich nur kurze Minuten freute, denn ihr war alsbald, als klebe an dem Schmuckstück, das er ihr in den Schoß warf, Sünde, als sei der seidige Stoff, den er ihr schenkte, Menschenhaut. Sie schauderte. Der Vater war auch so oft fort. Er sagte ihr nicht, wohin er ging, auch nicht, wie lange er wegblieb. Sie hatte nur immer da zu sein und auf ihn zu warten. In ihrer großen Einsamkeit gingen alle Türen in ihrem Innern auf und zu; sie taten sich auf in sehnsüchtigem Hoffen und schlugen jählings zu in einer ängstlichen Erkenntnis. Maria Nikolai war viel älter als ihre Jahre; sie war auch kein einfältiges Landmädchen mehr.
Wenn der Vater sie nur hätte in Arbeit gehen lassen! Der Üßmüller unten im Tal hätte sie gern genommen. Ein paarmal schon war der Martin hier vorbeigegangen. Der gute Mensch! »Wir brauchen eine Hilfe, der Mutter wird's zuviel. Willst du uns helfen?« Sie hatte ihm antworten müssen: »Der Vater leidet's nit, ich soll nit bei fremde Leut gehn.« Arbeiten, wenn sie doch arbeiten dürfte! Not litt sie nicht, zu essen war für sie da, und wenn's ihr ums Putzen zu tun gewesen wäre, in ihrer Truhe lag allerlei, aber sie mochte es nicht. Arbeiten, bis die Arme lahm wurden, bis sie abends so müde auf ihre Bettstatt sank, daß die schweren Gedanken nicht kamen, wohl aber sanfte Träume! –
Als Maria die Hemden des Vaters gewaschen hatte, breitete sie die in die Sonne auf den wilden Rosenstrauch, an den die Jungfrau Maria einst die Windeln des Jesuskindes gehangen hatte auf ihrer Flucht nach Ägypten. Daher der wunderliebliche Duft der dunkelgrünen Blättchen an den dornigen Ranken; es gab viele solch duftender Dornsträucher auf der Krinkhofer Höhe. Die Mutter hatte ihr die heilige Legende oftmals erzählt. Nun kauerte sich Maria bei dem Strauch nieder, legte die Arme um die Knie und schloß die Augen. Wenn sie doch wieder ein kleines Kind werden könnte, das noch von nichts wußte! Dann säße sie wieder bei der Mutter am Herd, auf dem Schemelchen neben dem Spinnrocken. Die Mutter spann und spann und sagte nicht viel. Maria erinnerte sich: oft liefen Tränen über das blasse Gesicht. Ob die gewußt hatte, was mit dem Vater war? Oder ob er damals nur Schmied gewesen war und nichts anderes?
Da war sie schon wieder bei dem Gedanken, der sie quälte. Die lachende Sonne erschien ihr auf einmal so warm nicht mehr, es blies hart um die Hütte. Sie rief lockend nach ihrer Katze; die kam jetzt heraus, mit gehobenem Schwanz stand sie auf der Schwelle, aber weiter wollte sie nicht; sie hatte drinnen eine Maus gefangen, die trug sie im Maul. Maria sah, wie die scharfen Zähne des Tieres das Mäuschen jetzt zerfleischten; das hatte sie hundertmal gesehen, aber heute durchschauerte es sie. So grausam, so grausam – ob ihr Vater auch grausam war? Nein, das nicht; grausam, niemals! Und sie stellte sich vor, daß er nur den Bedrückten half – warum kamen denn die Männer des Dorfes immer zu ihm? Er nahm nur den Reichen, um den Armen zu geben. O nein, der Vater, den sie liebte, der war nicht grausam, es war unrecht von ihr, nur das geringste Schlechte von ihm zu denken! Tief atmete sie auf und schüttelte sich, als schüttle sie so alle bösen Gedanken ab.
Sie setzte sich wie vordem beim Rosenbusch nieder und schloß die Augen. Die Sonne küßte ihren braunen Nacken, der Wind streichelte ihre nackten Arme; nun kamen ihr sanftere Gedanken. Gedanken, sanft und zärtlich gleich Seide; Gedanken, wie ein junges Mädchen sie wohl hat, das nicht wie Maria Nikolai durch den Schmutz gegangen ist, das nicht in einer Zeit lebt, die in Trümmer gegangen ist, das, allem fern, auf einem hohen Berg sitzt in reiner Luft und in einer Himmelsbläue sich sein Leben austräumt.
Maria dachte an den Müllerssohn. Was war der Martin doch für ein lieber Bursch! So hübsch war er freilich nicht wie der Johannes Bückler; der hatte ihr einstmals sehr gefallen, als sie ihn sah an jenem Abend bei der Buzliese, so gut gefallen, daß sie ihn an die Hand genommen und mit sich gezogen hatte, nur an ihn und seine Rettung denkend. Jetzt, hier oben in der Einsamkeit, weg aus dem Haus in der Eulenpütz, begriff sie das kaum mehr, daß er ihr einst hatte gefallen mögen. Er war ja ein Dieb; der Martin aber war ein braver Mensch. Sie wußte nicht viel von ihm, aber daß er brav war, das sah sie an seinen Augen, und das hatte sie auch damals gefühlt, als er sie führte auf jenem furchtbaren Weg. Jesus Maria, wenn sie noch daran dachte! Sie war ihm so dankbar, so dankbar; da hatte sie in ihrer großen Not gefühlt: sie sind nicht alle bös, die Menschen es gibt auch gute.
Es verging kein Abend, an dem das Mädchen nicht seine Hände faltete und für den Sohn in der Mühle betete: »Bewahr ihn in Gnaden, heilige Maria Mutter Gottes, daß ihm kein Schaden nit geschieht, in Ewigkeit Amen.« Die einsam Träumende blickte auf – etwas wie leiser Flügelschlag hatte ihren Scheitel gestreift. Vor ihr stand der, an den sie eben gedacht hatte. Und er hielt zwei flatternde schneeweiße Tauben mit roten Schnäbeln.
Der Martin vom Üßmüller hatte bis jetzt nicht nach Mädchen gesehen. Seit er Maria Nikolai damals im Walde getroffen und heimgeleitet hatte, war ein Gefühl in ihn eingezogen, das ihm Wohltat und weh zugleich. Er war in den Jahren, um auf Mädchen auszugehen, aber er hatte immer den Kopf verneinend geschüttelt, wenn seine älteren Brüder ihn auf diese oder jene hinwiesen. Nun aber hatte es ihn gepackt. Eine seltsame Wärme war von der kalten, zitternden Mädchenhand, die er stützend gehalten, in die seine geflossen, und als er die längst nicht mehr hielt, hatte er diese Hand doch noch immer gefühlt. Dieses vertrauensvoll Sich-auf-seine-Hand-Lehnen hatte ihn stolz gemacht – er fühlte sich ganz als Mann – und gerührt zugleich. Warum war dieses Mädchen unglücklich? Es hatte ihm den Kummer nicht verraten, aber daß der nicht klein war, kein gewöhnlicher Kummer, wie ihn leicht einmal die Dirnen haben um ein Band, einen versäumten Tanz, ein verfehltes Treffen mit dem Schatz – das sah er. Dieses Mädchen war anders. Martin sah die Maria mit besonderen Augen. Wie wacker sie geschritten war trotz aller Erschöpfung, wie tapfer sie die Tränen unterdrückt hatte. Ganz gegen ihren Willen waren ab und zu nur schwer ein paar Tropfen über die blassen Wangen geflossen. Das Mitleid hielt ihn noch Tage und Tage im Bann. Und aus dem Mitleid wuchs Liebe. Wo er ging, was er tat, immer sah er der Maria Gesicht. War das schön? In den Büchern war das Mädchen, das geliebt wurde, immer sehr schön – ihm war das Gesicht Marias sehr schön.
»Bei Gott,« sagte die Mutter, »unser Martin hat sich eweil ganz gewiß überlesen. Er träumt ja mit wachen Augen. Et taugt doch nit, wann die Jungens esu lang in die Schul gehen.« Sie meinte: in das Studium zu dem Herrn Pastor. Aber recht hatte sie, ihr Jüngster war so verträumt, daß er stundenlang oben beim Taubenschlag saß und aus den Felswänden der Mühlschlucht sehnsüchtig hinaufstarrte zu jener fernen Höhe, auf der Krinkhof lag. Um diese Höhe wob sich allezeit ein blauer Duft. Und in dem blauen Duft stand die Maria, und aus ihren dunklen Augen tropften Tränen, von denen er nicht wußte, warum sie geweint. Diese Tränen, schwere kristallene Tropfen, wie sie gemalt sind auf dem holdseligen Madonnenantlitz des Altars, hatten's ihm angetan – oh, wie bitter, sie fließen zu sehen, aber wie süß, sie trocknen zu können! Sie dünkten ihm geheimnisvoll, sie hielten ihn mit übernatürlicher Gewalt fester, als je ein Lächeln ihn hätte halten können. Den gleichen Schleier des Geheimnisses, den der abergläubische Bauer dem Vater anhängte, den hing der Verliebte auch um die Tochter.
Daß er das Mädchen hinunterziehen könnte ins Haus, damit sie den Eltern gefallen möchte, das war Martin noch nicht gelungen. Es grämte ihn sehr. Nun strich er oft in der Gegend von Krinkhof herum. Durch den Buchenwald, durch den nur wenige Pfade führen, eigentlich nur Rinnen, die die Wildbäche gerissen, stieg er hinauf. Immer war's dämmerig hier, selbst wenn die Sonne noch so hell glänzte. Die Bäume waren nicht alle hoch und auch nicht alle dick hier – sie standen auf lauter Felsengeklipp und hatten nicht Erde genug, um urkräftig Wurzeln zu fassen – aber sie hatten sich ineinander verästelt und verworren, so daß sie ein dunkelndes Dach bildeten, unter das niemand hineinsah. Hier suhlten die Sauen gern im nie trocknenden Moos des Rinnsals, und die Rehe kamen trinken in Rudeln. Wie aus lauschiger Laube tauchte man auf zur Krinkhofer Flur. Da aber ging der Wind und harfte in der masthohen Tanne bei der Hütte des Schmieds. So oft der junge Mann auch hier vorbeigegangen war, er hatte die nicht gesehen, die ihn zu sehen verlangte, er hatte nicht einmal ihre Stimme gehört. Die Tür stand nicht offen, das Fenster auch nicht, das Schmiedefeuer brannte nicht. Ob der Alte nicht daheim war? Und sie? Sie war sicher im Haus. Aber er hatte nie den Mut gefunden, an die Tür zu klopfen.
Heut hatte er Glück. Wie gut, daß er wieder die Tauben mit heraufgebracht hatte, die er ihr schon ein paarmal hatte bringen wollen; sie war ja so einsam, weiße Tauben, unschuldig wie sie, die würden sie freuen!
»Willst du sie?« Er hielt die Tauben der am Boden Sitzenden strahlend hin.
»Mein sollen die sein?« Ihr schwermütiges Gesicht, das die Überraschung und ein leises Erschrecken gerötet hatten, erhellte sich; rasch sprang sie auf. Tauben, zahme, zutunliche Tauben, o ja, die hatte sie gern! Ihm die Rechte zum Dank reichend, drückte sie mit der anderen Hand beide Täubchen an ihr Gesicht und pustete dann mit gespitzten Lippen über das ein wenig unglatt gewordene Gefieder. Und die Tauben, als ob sie wüßten: bei der ist gut sein, gurrten und flatterten Maria rechts und links auf die Schulter.
Martin stand verzaubert: das sah zu lieb aus! Er wurde rot bis unter sein blondes Haar, die Mütze drehte er verlegen zwischen den Händen. So hätte er stehen können und sie immer ansehen bis zum Jüngsten Tag, es wäre ihm sicher nicht lang geworden. Und wie war er froh, daß sie sich so freute.
Maria vergaß ganz alle schweren Gedanken, die sie eben noch zur gleichen Stunde gehabt hatte. Tauben, Tauben, die waren ihr lieber als die grausame Katze. Und der Martin, der war nun auch bei ihr! Sie hätte ihn gern ins Haus geladen, es beschämte sie, ihm nur den Platz am Boden zum Sitzen anbieten zu können. Aber der Vater hatte ihr streng geboten: »Du läßt niemand ins Haus.« Er wußte doch gleich: es war ein Fremder dagewesen, er las den Ungehorsam von ihrer Stirne.
Da fiel ihr die Tanne ein, in der war's am Ende doch besser für ihn als hier auf der Erde. Sie kletterten lachend beide hinauf. Die Tauben, die Freiheit fühlend, probten die Schwingen, flatterten, schwebten herauf, hernieder, wiegten sich auf dem kleinsten Ast, putzten sich, pickten sich und ließen sich endlich nach zärtlichem Schnäbeln, aneinandergeschmiegt, traulich nieder.
Nie hatte Maria ihre Jugend gefühlt – heut fühlte sie die. Könnte es nicht immer wie heute sein?! Sie faßte Martins Hand und drückte sie: »Du mußt öfter kommen. Wenn du die Tauben auffliegen siehst, dann is mein Vater nit daheim, dann komm. Ja, willste?«
Ob er kommen wollte! Durch ihre Frage ermutigt, schlang er den Arm um sie, er hätte sie gern geküßt. Aber da wehrte sie ihm, plötzlich alle Fröhlichkeit verlierend, mit einem: »Jesus, nein, nit so, nein!« Und faßte nur seine Hand und drückte sie.
So saßen sie lang noch beisammen. Es war nicht ganz so, wie er es begehrte, in seinen Adern klopfte das Blut, er hätte gern gesagt: »Ich lieb dich mehr als Vater und Mutter, mehr als alles auf der Welt. Hast du mich auch lieb?« Aber es war ihm, als legte ihm etwas den Finger auf die Lippen: sei still! So saß er, der Worte voll und doch stumm, glücklich und unglücklich zugleich, hielt ihre Hand und wagte es nur selten, die bedeutungsvoll zu drücken. Sie sahen miteinander in die im blauen Äther schwimmende Ferne und vergaßen, wie lange sie schon so hier saßen.
*
Als Hans Bast heute nach Hause kam, war er unwirsch: was, die Abendsuppe war noch nicht bereitet? Einen weiten Weg hatte er hinter sich, war zu einer jungen Frau gerufen worden über Land, die hatte Krämpfe gehabt, so daß niemand sie anrühren durfte, insonderheit nicht ihr Mann. Der hatte er den Teufel aus dem Leib geprügelt mit seinem Haselstock.
Nun saß er am Tisch und lugte hinter finsteren Brauen die Tochter an: was war denn mit der, ihr Blick war verlegen, eine höhere Röte brannte auf ihren Wangen? Er sah die Tauben, sie saßen am Herdrand und schliefen. »Wo hast du die her?«
»Sind zugeflogen.«
»So.« Weiter sagte er nichts. Sie löffelten miteinander die Suppe, das Mädchen wagte den Blick nicht aufzuschlagen. Da sagte er plötzlich: »Kannst ihnen morgen den Hals umdrehen, sie braten. Eine für dich, eine für mich.«
»O nein, o nein!« Sie ließ den Löffel zurück in die Schüssel fallen, daß die Suppe spritzte, und sprang entsetzt auf. Ihre Tauben, ihre lieben Tauben! Wie schützend drückte sie die Tierchen an ihre Brust.
Da lachte Hans Bast wieder grimmig und blinzelte dabei seine Tochter an: »Sind ja viele weiße Tauben unten in der Mühl, kriegst leicht ein paar andere. Brauchst's nur zu sagen, nit wahr?«
»O Vater!« Mehr sagte die Tochter nicht. Sie schlug die Hände vors Gesicht, beschämt und erschrocken.
»Laß eweil gut sein,« er klopfte sie auf die Schulter, »ich bin ja nit bös!« Sie sah hinter ihren vorgehaltenen Händen nicht, daß etwas wie ein plötzlicher Einfall über seine Stirn huschte und sich dann eingrub in einer Falte über der Nasenwurzel. Ganz freundlich sprach er zu ihr: »Sie wollen dich wohl in der Üßmühl haben zur Hilf? Kannst immer zusagen, ich hab nix dagegen. Bist zuviel allein.«
Die Tochter empfand seine Freundlichkeit, sie wollte ihm danken, aber etwas war in seinem Gesicht, das ihre Freude, hinunter zu dürfen zu freundlichen Menschen, hinunter zum Martin, nicht aufkommen ließ. Versonnen stand sie am Tisch, die Arme schlaff hängen lassend. Da hörte man draußen plötzlich etwas.
Der Schmied horchte: war das nicht Pferdegetrappel? Es hielt an der Schmiede. Er ging hinaus.
Draußen zwei Reiter. Überhitzt und erschöpft hingen sie auf ihren Pferden. Die schönen Tiere waren über und über mit Schaum bedeckt, die Flocken spritzten aus ihren Mäulern und klecksten auf den steinigen Boden. Herr und Diener, beide in französischer Uniform; des Herrn Brust mit allerlei Ehrenzeichen geschmückt.
Hans Bast grüßte respektvoll: was wünschen die Herren – Pferde beschlagen? O weh, der schöne Gaul da hatte das Eisen verloren! Er hob den Vorderfuß des edlen Tieres. Der vornehme Reiter war abgestiegen und stand fluchend dabei. An dem Huf schien etwas nicht richtig zu sein, das Tier zuckte heftig bei der Berührung.
Sorgsam untersuchte der Schmied. »Da, Herr, seht!« Er hielt auf der flachen Hand dem Reiter ein Steinchen hin, das sich in den Huf eingeklemmt hatte. »Ihr könnt so nit weiter. Dat Peerd muß ruhen, kühlende Umschläg kriegen. Vor morgen früh ist dat nit zu beschlagen.«
»Gib mir dein Pferd«, sprach hastig der Herr zum Diener. »Du wartest dann hier. Ich reite langsam vor, bis Koblenz holst du mich längst wieder ein.« Er hatte es auf französisch gesprochen, aber der Schmied verstand es sehr wohl. »Dat möcht ich dem Herrn nit raten. Ganz allein reiten – hier?!«
Der Franzose warf einen bezeichnenden Blick auf die Pistolen, die ihm im Leibgurt steckten: »Ich habe keine Furcht.«
Da lachte der große Mann rauh. »Furcht oder nit Furcht, dat tut nix zur Sach. Ich rat Euch, bleibt hier bis zum Morgen.« Lauernd überflog sein Blick die goldenen Schnüre der Uniform und das feine Tuch, streifte das Leder der hohen Stiefel, den Mantelsack und die vollgestopften Satteltaschen.
Ungeduldig stampfte der Aufgehaltene mit beiden Füßen. » Sacré mille tonnerres, beschlag das Pferd hier sofort, du Halunke!«
Der Schmied trat zurück und zuckte die Achseln: »Nein. Ich würde dat Tier unnötig quälen. Wollt Ihr Euer schön Peerd lahm werden lassen? Habt Ihr denn en besondern Grund, so zu pressieren?« Zwinkernd trat er dem Reiter ganz nah.
D'Aubry lachte nervös gezwungen. »Ich bin der Marquis de la Ferrière, ich reite mit geheimen Ordres. Größte Eile ist mir anbefohlen – und nun dies Malheur!« Er rannte erregt auf und nieder. »Daß mir das mit dem verfluchten Gaul auch passieren mußte! Das kommt von euren vermaledeiten Wegen – Wege, die keine Wege sind!« brüllte er den ruhig Dastehenden an. »Was grinst der Kerl so? Hätte ich weiter gekonnt, Sapristi, bei Euch wär' ich wahrlich nicht eingekehrt!« Er warf einen verächtlichen Blick auf die armselige Hütte.
»Haben sie Euch hergewiesen zu mir?« fragte ruhig Hans Bast.
»Schon vor zwei Stunden weit ab. Mühe genug, sich hierher zu finden!«
Jean-Claude, der Diener, lachte heimlich, er gönnte es dem Kapitän, daß der nun zappeln mußte. Wie ein wildes Tier lief der ja hin und her. Er selber freute sich der Aussicht, nun ruhen zu können. Wie die Tollen waren sie seit Trier geritten, rücksichtslos bergauf und bergab, immer im selben Trab. Kein Wunder, daß die Pferde versagten, auch er versagte; er stand mit knickenden Beinen.
»Dieser Umweg, dieser Aufenthalt«, stöhnte d'Aubry und wischte sich den Schweiß.
»Kein Umweg«, sagte des Schmiedes tiefe Stimme. »Ihr irrt, Herr Marquis. Ihr habt Eurem Gaul den kürzeren Weg zu verdanken. Denn ich bring Euch morgen so weit, dat Ihr nit fehlen mehr könnt. Allein hättet Ihr nie Euch zurechtgefunden.«
Das schien den Marquis nun doch zu beruhigen. Der Schmied und der Bursche führten die Pferde unter den Schuppen; er sah sich aufatmend um: kein großes Dorf hier, kein Geschrei, kein Zusammenlaufen. Von den wenigen Hütten Krinkhofs wehte nicht einmal der Rauch bis hierher. In einem großen Schweigen lag die ganze Höhe, und der Wald und der Himmel – nein, der war nicht so schweigsam! Gen Sonnenuntergang lohte er blutig, wie feurige Zungen leckte es von da heran; sie streckten sich aus, sie züngelten gierig, sie erzählten düsterrote Geschichten. Es fröstelte den Marquis de la Ferrière.
»Es ist kalt hier oben bei Euch.«
»Tretet ein, wenn's gefällig ist.« Der Schmied stieß die Tür seiner Hütte auf.
Drinnen war's schon ganz Nacht. Am Herd, im eisernen Ring an der Wand, steckte der Kienspan und schwelte. Viel Helle gab er nicht, nur ein düsteres, schmutziges, unsicheres Licht. Mit lächelnder Miene stand Maria am Herd, sie liebkoste ihre Tauben; das würde der Vater nun nicht mehr verlangen, daß sie die schlachtete. Das war ja nur ein Spaß von ihm gewesen. Ihre lächelnde Miene veränderte sich plötzlich, mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den fremden Herrn an: den kannte sie ja, Jesus Maria! Was wollte der hier? Sie wieder packen?!
Sie preßte die Augen zu: ach, sie war irre, sie träumte ja nur, er war es ja gar nicht. Doch, doch! Die Augen riß sie wieder weit auf, ein wilder Schrei wollte sich ihr entringen: der war es, der, der ihr Gewalt angetan hatte! Und da kam ja auch sein Diener herein. Auch den erkannte sie wieder. Sie unterdrückte den Schrei, aber sie zitterte. Unwillkürlich zog sie sich mehr ins Dunkel zurück.
Von den beiden erkannte sie keiner. Der Marquis nahm am Tisch Platz, er war sehr verdrossen. Müde stützte er den Kopf in die Hand. Der Schmied ging mit dem Burschen ab und zu. Jean-Claude sollte den verletzten Huf kühlen, von seinen heilkräftigen Arnikatropfen goß Hans Bast ihm zwischen das Wasser.
Wie die Katze mit gesträubtem Fell ihr Opfer belauert und selber dabei doch voller Furcht ist, so stand Maria im Dunkeln. Alle Weichheit war aus ihrem Gesicht geschwunden, jetzt sah sie ihrem Vater sehr ähnlich. Wenn sie den schweren Schürhaken da nähme, den am Tisch Sitzenden damit über den Kopf schlüge? Ihm geschähe recht. Und wenn ihr Arm dennoch zittern würde, wenn sie ihn fehlte? Dann ein Ruf, und der Vater war bei ihr. Und der würde die Rache nehmen, die er sich und ihr zugeschworen hatte, als er von der Schandtat an seinem Kinde vernahm.
Wilde Gedanken fuhren Maria durch den Kopf und stießen und drängten sie, es lief ihr heiß durch den Körper, sie bebte im Rachegefühl; plötzlich veränderte sich ihre Miene – die Tauben gurrten –, es fiel ihr der Martin ein. O nein, nicht so, nein, nicht so! Ihre Hand, die sich schon hatte ausstrecken wollen nach dem schweren Schürhaken, zog sich in die Falten des Rockes zurück und hielt sich da fest an dem dünnen Kattun. O nein, Rache nehmen, das durfte sie nicht. Und der Vater durfte es auch nicht!
Von dem, was die Menschen Gesetze nennen, und von dem, was die Religion vorschreibt, wußte Maria nicht viel, aber die Weiblichkeit regte sich stark in ihr, und in ihrer Seele siegte natürliche Güte. Wie beschwert von Scham hing sie den Kopf; ihre Lippen bewegten sich in tonlosem Murmeln: »Bewahr uns in Gnaden, heilige Maria, Mutter Gottes, bitt' für uns!«
In das dunkle Schweigen kam jetzt der Schmied wieder herein. Er setzte sich zum Marquis an den Tisch und fing an mit ihm zu reden.
Maria staunte, wie höflich der Vater sein konnte. Sie verstand nicht alles, die Rede ging bald französisch, bald deutsch, aber so viel wurde ihr klar, daß der Vater den Fremden ausfragte nach Woher und Wohin.
D'Aubry gab erst nur zurückhaltende Antwort, aber als er genug von dem Schnaps getrunken hatte, der sehr feurig und stark war, wurde er gesprächiger. Er lachte sogar mit seinem Wirt.
»Du kannst eweil schlafen gehen«, sagte Hans Bast plötzlich, als bemerke er jetzt erst die Tochter. »Ich koch' selber dem Herrn eine Supp'.«
Stillschweigend ging sie, aber wie eine Eingebung durchfuhr sie plötzlich der Gedanke: der Vater würde dem doch nichts antun? Oh, und wenn er's gar wüßte, wer eigentlich der Fremde war! Ihr Herz klopfte verängstigt. Feintuchene Kleider, goldene Litzen – und der Herr hatte eine Uhr, einen kostbaren Ring am Finger – einen Mantelsack und gestopft volle Satteltaschen! Sie konnte nicht schlafen gehen auf ihre Dachkammer, leise schlich sie vors Haus.
Der Vollmond stand hinter der Höhe, halb war er nur zu sehen, er lachte wie ein schief gezogenes Gesicht über einem hindernden Buckel. Die Wälder talwärts waren beglänzt im Licht. Da unten, da lag friedlich die Mühle des Martin. Ob er schon schlief? Nein, er las noch in seinen Büchern. Oh, wenn er wüßte, wie ratlos sie hier herumtappte, die Brust voller Argwohn! Aber davon durfte er nie etwas zu wissen bekommen.
Sie guckte unter den Schuppen. Da hatte sich der müde Bursche in seinen Mantel gewickelt, lag bei den Pferden und schlief ganz fest. Die Tiere hatten sich noch nicht niedergelegt am ungewohnten Platz, sie standen trotz aller Müdigkeit mit hängenden Köpfen; als das Mädchen sie streichelte, blickten ihre Augen wie Menschenaugen traurig anklagend, so ängstlich groß. Maria küßte sie auf die Nüstern. »Seid ruhig, euch geschieht nix.« Sie blickte ihnen tief in die im Mondlicht feucht spiegelnden Augen. Als sie sich abwandte, sah sie der Vater.
Er winkte ihr, und sie folgte erschrocken. Sah er in sie hinein, ahnte er etwas von dem, was sie angstvoll hier umtrieb? Sie wagte es gar nicht, ihn anzublicken, sie hielt die Lider aus Angst beharrlich gesenkt.
Der Schmied flüsterte: »Der Marquis will morgen bis Koblenz – en weite Tour – ich bring 'n en Stück auf den rechten Weg. Du mußt heut noch en Botschaft tragen deswegen. Geh stracks in den Kondel, bei die große Buche – du kennst die ja, wo die Weg sich kreuzen, da steht sie, größer als alle Bäum. Da rufste dreimal laut wie en Käuzchen. Und wenn dich danach einer anspricht, dann sagste: ›Ich kommen vom Hans Bast.‹ Morgen, wenn im Kloster auf der Marienburg der Englische Gruß geläutet wird, dann sollen sie beim Kapellchen am Reiler Hals mich erwarten. Ich will sie bekannt machen mit dem Herrn. Einer von ihnen kann ihn dann weiterführen. Wat kuckste? Wat willste noch?« Er hatte die Tochter von sich geschoben, gewohnt, daß sie sofort und ohne Frage seinem Befehl gehorchte. Heute zögerte sie. »Angst haste – wovor?«
Sie hatte etwas gemurmelt. Ihre Hand hielt den Kittel des Vaters fest: »Du tust ihm doch nix?« Sie wußte nicht, wollte der Vater sie nur fort haben, um allein mit dem Fremden in der Hütte zu bleiben, oder sollte der überliefert werden an die im Walde? Und sie, sie sollte die Botschaft tragen?! Das widerstrebte ihr. Wenn sie dem da drinnen auch nichts Gutes auf Erden mehr wünschte und alle Strafen der Hölle nach seinem Leben auf der Erde – ihn ausliefern helfen, nein, das wollte sie nicht. Daß sie selber vor einer Stunde noch daran gedacht hatte, ihren Schänder mit dem Schürhaken totzuschlagen, das kam ihr lange nicht so erbärmlich vor. Sie sah den Vater auf einmal fest an: »Die Botschaft trag ich nit.«
Hans Basts dunkle Augen blickten erstaunt: was, seine Tochter wagte zu widersprechen? Er lachte böse auf. »Du gehst, mach nit eweil lang Fisimatenten. Wat geht dich der Mann an? He, antwort'!« Sein zwingender Blick bohrte sich in sie ein.
Sie hielt den Blick aus. Aber blaß wurde sie unter ihm, so blaß wie das Mondlicht, das ihre Züge seltsam verschärfte und streng machte. »Er geht mich wohl an. Denn er is et, der – der –« sie stockte: sollte sie es sagen? Die erste sinnlose Wut überkam sie wieder für einen Augenblick. Totschlagen, totschlagen, raunte es in ihr, was schadete es, wenn der Vater es wußte, der verriet ihn ja doch der Bande, mochte die ihn dann ausplündern bis auf die Haut, ihm geschah recht. Sie ballte die Fäuste: »Er is et – er – auf der Landstraß von Trier – mutterselig allein war ich – vom Peerd sprang er – hat den Bursch da weggeschickt – hielt mich gepackt – ich konnte mich sein nit erwehren. Er – er!« Jesus, jetzt war es heraus!
Des Vaters Blick hatte ihr die Worte herausgezogen, sie hingen wie Brocken an einem Faden, er zog an dem Faden, und ein Brocken nach dem anderen rutschte heraus. Hätte sie es doch nie gesagt! Schon bereute sie, ihres Vaters Gesicht entsetzte sie, es war ganz verzerrt. Das war das Gesicht nicht mehr, das sie kannte und liebte. Sie faßte nach seinen Händen und umklammerte die: »Ich geh' eweil nit fort – du schlägst ihn sonst tot. Schlag ihn nit tot, du sollst niemand totschlagen!« Sie jammerte laut.
»Sei still. Du bist en Narr!« Der Schmied legte ihr die schwere Hand auf den Mund. »Der kann ruhig hier schlafen, ihm geschieht nix. Mach eweil, dat du fortkömmst!«
Täuschte das Mondlicht? Sein Gesicht war ruhig wie immer, jetzt zuckte es sogar wie ein Lachen darüber: »Du träumst ja, Maria. Der Herr da drin is der Marquis de la Ferrière, ein Mann von Ehre. Du träumst, Maria, du träumst.«
*
Flüchtigen Schrittes eilte Maria über die Krinkhofer Höh'. Im jetzt ungehindert flutenden Mondschein warf ihre Gestalt lange Schatten auf den kurzrasigen Anger. Sie sah sich eilen, ihr Schatten hüpfte bald vor ihr, bald neben ihr, bald war er größer, bald kleiner; jetzt tauchte er unter, der Wald und sein gähnendes Dunkel hatte ihn jetzt verschlungen. Unterm dichtverschlungenen Laubwerk mußte Maria langsamer gehen, obgleich sie jeden Tritt hier kannte. Hier kam kein Mondlicht herein, und der schmale Steig, kaum trittbreit, war abschüssig; unter ihrer nägelbeschlagenen Sohle kollerte ab und zu ein Steinchen und machte einen unheimlich lauten Lärm in der stillen Nacht. Die Stille war ungeheuer. Aber Maria empfand sie nicht schreckhaft, das Schweigen der Natur beruhigte sie. Sie hatte sich doch wohl in dem Fremden getäuscht – das gebe Gott! Sie faltete die Hände und hielt die gegen ihr klopfendes Herz, als müsse sie das so stützen.
Oft schon war sie diesen Weg in den Kondel gegangen, erst den steilen Abkürzungspfad hinunter ins schmale Linnichtal und dann ebenso steil an der anderen Seite hinauf. Und nun hörte das verworrene Laubdach auf, sie war wieder in vollem Mondlicht und ging auf dem samtenen Wiesenplan, den der Kondel sich wie einen Teppich vor seine Hallen gelegt hat.
Mit einem tiefen Atemzug, der wie ein Aufseufzen war, trat sie ein in den großen Forst. Sie fürchtete sich nicht; sie hatte sich auch vordem nicht gefürchtet, als aus dem düsteren Versteck des Laubwerks sie plötzlich zwei glühende Augen angefunkelt hatten, die Augen des Luchses. Sie kannte die Tiere des Waldes und ihre Gewohnheiten: die taten ihr kein Leid, wenn sie ihnen nichts tat. Ach, daß sie doch weglaufen könnte vor dieser anderen Angst, nicht jene Nachricht bringen müßte, die der Vater ihr aufgetragen hatte! Weit, weit weggehen in Gegenden, die denen hier nicht glichen, zu Menschen, die von denen hier nichts wußten! Eine große Sehnsucht erfüllte sie: wer doch so rein sein könnte wie der Schnee, wenn der weißflockig vom Himmel fällt und noch nicht gelegen hat auf der schmutzigen Erde.
Sie schritt lautlos dahin auf dem moosweichen Grund des Kondels. War das ein Wald! Trotz ihrer Bedrückung fühlte die einsam Wandernde seine ganze Hoheit, vielleicht empfand sie die heute doppelt stark. Unnahbar stolz ragten himmelan sehr hohe Bäume; sie standen Mann bei Mann, mächtige Riesen. Und ein Duften ging von ihnen aus, ein Geruch nach Kraft, ein Strömen von Gesundheit, das aus den Wurzeln in Mark und Rinde, Äste und Ästchen, bis in die höchsten Wipfel hinaufstieg. Ein makelloser Wald, ein lebendiger Dom. Hier konnte man wohl beten. Das Mädchen faltete die Hände, aber es war zu ungeschickt, eigene Nöte und eigene Bitten vor das Ohr des höchsten Richters zu bringen. Es flüsterte nur leise ein »Bewahr uns in Gnaden« und schlug das Kreuz.
Maria brauchte nicht Obacht zu geben, ihre Gestalt zu verbergen; die hier sich aufhielten, taten der Tochter Hans Basts kein Leid. Unbekümmert ging sie im Mondlicht mitten auf der breiten Kondelstraße.
Da – ein Pfiff! Ganz in ihrer Nähe. Sie strengte die Augen an: niemand zu sehen. Nun ein zweiter Pfiff, durchdringend und bedeutsam. Sie war gesehen worden. Aha, und da war jetzt auch die Buche! Tief geästet und schön gerundet, mit dem Stamm, den zehn Männer kaum mit den Armen umspannten, stand die große Buche an zwei sich kreuzenden Wegen. Der Mond stand gerade ob ihrem Scheitel und küßte den, aber bis in ihr Herz konnten seine Lichtfinger nicht dringen. Es blieb dunkel unter dem riesigen Baum.
Maria trat ein in den tiefen Schatten; noch sah sie niemand, aber sie fühlte es, sie war nicht mehr allein, wie ein Atmen wehte es um sie her, ihr war, als hörte sie seltsames Raunen. Sie legte die Hand an den Stamm, ihr ward plötzlich ängstlich, sie, die ohne Grauen einsam die Nacht durchwandert hatte, stieß jetzt zaghaft den Ruf eines Käuzchen aus. Wiederholte ihn zitterig noch zweimal. Da klang plötzlich ein Lachen, warme Hände legten sich ihr fest um den Leib. Schon war sie umringt von Männern.
*
»Brauchst nit Angst zu haben«, sagte der Hauptmann. Sie hatten Maria vor den Bückler gebracht. Sie erkannte den gleich, obwohl er wilder und verwegener erschien als damals bei der Buzliese.
Das Haar hing ihm tief bis auf die geraden Brauen und hinten lang bis in den Nacken; an den Schläfen kräuselte es sich ihm in die halben Wangen. Auf der Brust hatte er das Hemd offen stehen, notdürftig nur hielt ihm ein Gurt die Hose zusammen. Man sah seinen ebenmäßigen Körper halbnackt. Bückler war eben erst, kurz nach Mitternacht, zu seiner Bande gestoßen, noch ging ihm der Atem rasch, er war müde und heiß.
Bei der Buzliesen-Amie war er zu Besuch gewesen. Die hatte sich unlängst mit der Alten entzweit und versuchte ihr Glück nun auf eigene Faust. Beim Pfarrer von Bengel hatte die Taubensanfte mit den glattgescheitelten Haaren und milden Blicken ein Nest gefunden. Die alte Schwester, die dem Pfarrer den Haushalt führte, schaffte es nicht mehr allein. Die Amie war bescheiden und zutunlich. Heute hatte sie sich Ausgang erbeten gehabt. In Springiersbach war Kirmes, dort hatte sie mit ihrem Herzliebsten getanzt und ihn dann mit sich in die Pfarre genommen. Das alte Fräulein war taub, der Pfarrer war auch nicht sehr scharf auf den Ohren. Der Liebhaber sah sich geruhsam überall um, derweil ihm sein Liebchen Pfannkuchen backte. Hochwürden war ein Freund von Kunstwerken, von alten Münzen, Silber- und Goldgeräten, ein echter Sammler; der ungestört Herumstöbernde hatte sich schon einen ganzen Schatz unter der Amie Bettstatt zusammengetragen. Als sie nun wacker geschmaust hatten, verschlossen sie sich in die Kammer des Mädchens.
Ob jemand den Bückler auf der Kirmes erkannt oder sonst wer ihn angezeigt hatte? Er lag im ersten Schlaf, da tutete es auf der Straße.
Der Nachtwächter blies aus Leibeskräften: »Heraus, heraus! Der Bückler ist da! Feurio! Mordio!« Der Maire lief in Unterbeinkleidern auf die Straße, die Männer sammelten sich. Man rannte verstört untereinander: der Bückler? wo, wo? In der Pfarre sollte er sein. Ein bewaffneter Haufe zog dorthin. Die Sturmglocke dröhnte.
Das Pfarrhaus war verrammelt wie eine Festung; die starke Haustür wurde zur Nachtzeit immer noch durch zwei eichene Balken gesichert. Schießscharten waren überall in den eisenbeschlagenen Läden. Man klingelte, man klopfte. Drinnen rührte sich nichts. Der Pfarrer und seine Schwester waren taub, aber das müßten sie doch hören: »Heraus, heraus!« Die waren ermordet in ihrer Festung! Aber wo war die Magd? Auch tot?
Die Sturmglocke dröhnte und wimmerte, von angstvollen Händen am Seil geschwungen. Immer mehr Leute kamen vors Pfarrhaus gelaufen. Da öffnete sich endlich die Luke im Obergeschoß, vorsichtig hielt der Pfarrer Auslug. Er sah unten den Haufen, hörte das wilde: »Heraus, heraus!« So brüllten immer die Räuber, wenn sie arme Bewohner zur Nacht überfielen. Er war ein streitbarer Herr, er steckte seine Flinte durch die Schießscharte, er feuerte auf gut Glück. Unten hinkte einer von dannen.
Das war der Bückler, der Bückler! Seine ganze Bande steckte im Haus! Schuß auf Schuß. Der Pfarrer schoß auf die Räuber, die Räuber schossen auf ihren Pfarrer. Derweilen kroch der wirkliche Räuber an der Hinterseite des Hauses zu der Amie Kammerfenster heraus und versuchte sich wegzuschleichen. Er wurde gesehen. Und nun ging die Hatz los.
Sie hatten ihn mächtig gejagt. Aber kein Schuß hatte getroffen. Ein Glück, daß der Kondel so nah war, da hinein waren sie ihm nicht weiter gefolgt. Sie sollten nur kommen, dann würde er ihnen ein Feuergefecht liefern, daß sie dächten, die Franzosen gäben eine Schlacht!
Der Räuber prahlte. Maria sah ihn an dem Feuer sitzen, das mit dürrem Reisig angefacht war, und sie wunderte sich. Halb lag er an seiner Liebsten Schulter, stützte den einen Arm auf ihren Schoß – das war die Julie Bläsius, die ging immer in Mannskleidern – aber mit dem freien Arm hielt er eine zweite umschlungen.
Und nun bemerkte Maria noch andere Gesichter, die sie kannte aus der Buzliese Haus: den Schwarzen Peter, den Iltis-Jakob, Schmuh-Balzer, Petronellen-Michel und Husaren-Philipp. Aber noch neue waren dabei, solche, die sie nicht kannte: alte Kerle, schon grau, und junge Milchgesichter, die waren die frechsten.
Als Maria den Auftrag des Vaters hersagte, stammelte sie. Es war nicht Furcht, die sie stottern machte, ein heftiger Widerwille schnürte ihr die Kehle zu, nur stockend entrangen sich ihr die Worte. Ihr ekelte vor der Bande, die sich hier sielte; selbst der Wald hatte jetzt seinen Zauber nicht mehr, der Duft, der köstlich seinem Boden entströmte, war fort, die Luft mit dem starken Schweißdunst von halbnackten Leibern und beißendem Tabaksrauch durchsetzt. Geruch von Wildfleisch und Zwiebeln stieg aus dem Kessel, der über dem Feuer hing. Und mehr noch als alles waren ihr die zwei Weiber zuwider, die Bläsius, die dem Bückler als Kissen diente, und die andere, die seine Hand liebkoste.
Der Hauptmann genierte sich nicht; ihm lieh Iltis-Jakob schon einmal seine Frau, nur bei anderen nahm er's genauer. Als der Schwarze Peter, wie der Bückler es eben getan, der schönen Anne auch einen Kuß auf die entblößte Brust drückte, funkelte es in seinen Iltisaugen. Verstohlen fingerte er nach seinem Messer.
»Mädchen,« lachte der Bückler gutgelaunt, »wat stehste und kuckste? Ja, morgen sind wir am Reiler Hals, dat sag deinem Vatter. Komm, setz dich eweil noch e bißche zu mir!« Er richtete sich aus der Bläsius Armen auf und winkte Maria zu sich heran.
Aber sie streckte abwehrend beide Arme aus – er kannte sie wohl nicht mehr, sonst hätte er doch wissen müssen, daß sie sich nicht so behandeln ließ wie die zwei Weiber da! Sie reckte den Kopf auf und sagte ernsthaft: »Ich danken für die Ehr!«
Allgemeines wieherndes Gelächter. War das eine Spröde! Die Bläsius in den Jungenhosen warf sich hintenüber und strampelte vor Vergnügen mit den Beinen.
Die Röte der Scham stieg Maria heiß ins Gesicht, sie wandte sich ab, um rasch wegzugehen, da fühlte sie eine Hand wie eine Klammer um ihren Fuß.
Der Hunsrücker-Bertes, ein Bursche von noch nicht siebzehn, suchte das Mädchen so zu Fall zu bringen.
Maria stemmte sich und schrie zornig auf. Da schlug die Hand des Bückler dem Frechen hart in Gesicht: »Lausbengel, laß dat Mädche in Ruh! Dat is kein Fressen für dich!«