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Drittes Kapitel.

Junge Talente, junge Freuden und Leiden.

Luise mochte mit ihrem staunenden Ausruf, was ich für ein wunderbares Kind sei! nicht Unrecht haben. Wenigstens war ich sicher ein sehr eigentümliches Kind, wohl eines der seltsamsten kleinen Geschöpfe, die jemals Sand und bunte Steine für große Herrlichkeiten hielten und sich mit ihren Puppen herumschleppten, als seien das winzige Menschen.

Dabei war ich ein so zärtliches, liebebedürftiges und liebesehnsüchtiges kleines Wesen, daß mich die Heftigkeit meiner Empfindungen oft krank machte. Bei solcher Anlage war es denn nicht verwunderlich, wenn ich mich nicht damit begnügte, mein Mütterchen »gräßlich« und Luise »schrecklich« lieb zu haben; sondern auch einen großen Teil meines Liebesreichtums auf Dinge warf, die entweder Ideen oder leblose Gegenstände waren. Zu der ersten Gattung dieser heiß Geliebten gehörten meine sämtlichen Märchengestalten, zur zweiten natürlich meine Puppen. Meine Einbildungskraft beschenkte sie sowohl wie mich selbst mit allen denkbaren irdischen und unirdischen Herrlichkeiten. Mittels meiner Phantasie konnte ich Wunder vollbringen. Freilich wurden mir diese schimmernden Gebilde durch einen andern skeptischen und auflösenden Zug meines Wesens gewöhnlich wieder auf das Grausamste zerstört. Dann war ich eine Zeitlang ganz elend, bis ich mir eine neue Phantasmagorie hergestellt hatte.

Im Idealisieren maßlos, geriet ich nur zu leicht auch in der entgegengesetzten Empfindung völlig ins Extrem. Dieses Doppelwesen meiner Natur wurde in dem Verhältnis zu meinen Puppen am schärfsten ins Licht gesetzt. Hier idealisierte ich, was ich nur konnte. Alles an diesem kümmerlichen Spielzeug sah ich glänzend und prachtvoll. Ich beseelte es mir und ließ dann daraus mein eigenes phantastisches Ich in einer mir selbst unverständlichen Sprache reden und predigen. Durch dieses Vermenschlichen von etwas Leblosem versetzte ich mich in eine geradezu krankhafte Aufregung, bis zuletzt auch hier nach dem Rausch die unbarmherzige Entnüchterung eintrat. Plötzlich sah ich meine herrlichen Gestalten als aus Holz, Leinwand und Pappe verfertigt, mit schlechtem Flitter behangen. Die Engelsmienen waren bemaltes Wachs, die strahlenden Augen Glas, die »goldenen« Locken Seide und Flachs. Einmal bis zu dieser Erkenntnis gelangt, scheute ich mich nicht, meinem schmerzenden Herzen auch den letzten Wahn zu benehmen: die Leiber meiner Puppen zerfielen unter meinen zerrenden Fingern, häßliches Gefüllsel streute sich aus – nun hatte ich Wirklichkeit.

Eine Menge ähnlicher Züge beweisen Ähnliches. Ich war eben eine sehr gemischte Natur. Bald übermäßig froh, bald übermäßig traurig; jetzt in ausgelassenen Jubel ausbrechend, dann über die Lust selbst in Schwermut verfallend.

In ernsthafteren Dingen zeigte ich mich übrigens einheitlicher. Ich besaß eine große Wahrheitsliebe und früh bemerkte meine Mutter einen leidenschaftlichen Hang zur Grübelei in mir. Mit trotziger Liebeskraft strebte ich allem zu, was mir zu eigen zu machen ich mir vorgenommen. Erkannte ich jedoch die Unmöglichkeit des Besitzes, so war ich gleich bereit, Wunsch und Hoffnung aufzugeben. Es kam oft vor, daß irgendein bescheidenes Vergnügen, worüber ich lange vorher stürmische Freude empfunden, vereitelt wurde oder beim Beginn abgebrochen werden mußte. Wenn ich dann so ruhig, fast gleichmütig entsagte, freute sich meine Mutter über ihr »vernünftiges« Kind. Ich besaß eben ein großes Talent zum Entsagen. Nun, dafür bin ich Frau.

Schreiben und Lesen hatte mich die Mutter gelehrt. Später wurde ich Schülerin derselben Anstalt, an der mein Vater sich so viele Jahre lang abgequält. Wohl mochte es meiner Mutter tief wehmütig sein, ihr Kind denselben Weg gehen zu lassen, den täglich der Unvergeßliche zurückgelegt und sich ihre Tochter in denselben Räumen denken zu müssen, welche die Gegenwart des Verstorbenen geweiht. Weil ich wirklich fleißig war, leicht faßte und mit voller Lust arbeitete, ward ich bald von den Lehrern bemerkt und bevorzugt. Doch war das gewiß nicht der Grund, daß ich unter meinen Mitschülerinnen keine Freundin, kaum eine Kameradin fand. Und das ist so geblieben – bis heute! Ich habe niemals eine Freundin gehabt. Forsche ich nach der Ursache dieser befremdenden und traurigen Erscheinung, so muß ich sie wohl oder übel in mir selber finden. Ich fürchte, daß mein Geschlecht mich nicht für liebenswürdig hielt und das wahrscheinlich mit vollem Recht. Ohne mir einfallen zu lassen, mich besser als sie zu dünken, fühlte ich, daß ich anders war. Dieses dumpfe Bewußtsein machte mich trotz meines heißen Bedürfnisses, Zärtlichkeit zu empfangen und zu geben (ich rede von meiner Kinderzeit), scheu und verschlossen. Wie gern hätte ich mich damals mitgeteilt, wie gern meine junge, stürmische Empfindung in ein anderes, ebenso junges, ebenso bewegtes Herz ausströmen lassen! Schüchterne Versuche, die ich machte, mißlangen vollständig. Obgleich ich in meiner natürlichen Sprache zu ihnen redete (wie hätte ich anders können!), war dieselbe ihnen doch eine völlig fremde. Sie verstanden mich nicht und ließen mich allein. Wie darf ich mich darüber beklagen?

Später wurde ich dann sehr bald eine zu entschiedene Individualität, um mir damit Freundinnen erwerben zu können.

Wir »duldenden« Frauen sind so unduldsam, was Frauen anbetrifft! Wir, für die alles Ungewöhnliche beim Manne einen so gefährlichen Reiz besitzt, fordern von unserem Geschlecht, daß es typisch sein solle. Können wir es doch kaum einer Frau verzeihen, wenn sie sich anders kleidet als andere. Von der Coiffüre bis zur Schleppe soll sich bei uns alles gleichen. Dabei sind wir jedoch sehr bereit, selbst durch einen überraschenden Schnitt aufzufallen, wie wir es denn gewiß weit lieber haben, nachgeahmt zu werden, als nachzuahmen. Dulden wir also selbst nicht bei der Toilette Individualitäten, wie sollten wir uns dann einander Abweichungen und Ausschreitungen in unseren Persönlichkeiten gestatten und vergeben?

Mein ganzes Leben lang ohne Freundinnen, möchte ich mir doch jetzt die eine oder die andere zur Freundin erwerben. Ich, die ich nie so glücklich gewesen, einer Frau mein Herz ausschütten zu dürfen, tue das nun in diesen Blättern. Kann doch schließlich nur die Frau die Frau verstehen! So schreibe ich denn diese Aufzeichnungen – diese Bekenntnisse! – für euch, meine Schwestern, nieder. An eure Herzen wende ich mich, zu euren Herzen rede ich. Möchtet ihr mich in meinem Unglück liebenswürdiger finden, als eure Gefährtinnen das taten, da sie mich für glücklich hielten, für überschwenglich, für beneidenswert glücklich! Ich habe mich immer nach euch gesehnt, nach euch, meinen Leidensgenossinnen. Denn das seid ihr! Alle habt ihr ja gelitten! Freilich – ihr werdet meine Liebe Verirrung nennen, mein Leiden die gerechte Buße für eine schwere Schuld. Aber, wenn ich euch mein Herz offen darlege und vor euren Augen seine tiefen, blutigen Wunden rinnen lasse, werdet ihr vielleicht milder denken über Vergehen, in denen wir Frauen – beklagen und bereuen wir es nicht allzusehr! – so leicht zu Sünderinnen werden, sobald wir uns nur gestatten, völlig das zu sein, als was wir geschaffen sind – ein Weib.

Nachdem ich mir dies vom Herzen gesprochen, bin ich noch einmal wieder ein Kind.

 

Von den Lehrgegenständen, die nach und nach meinen kleinen Kopf füllten, war mir Geschichte bei weitem das liebste, Geschichte, deren Helden jetzt die Stelle der Gestalten meiner Märchen einnahmen. Ihre Wirkung auf mich war beängstigend groß. Statt mit Schneewittchen, Dornröschen und Rotkäppchen zu leiden, tat ich das fortan mit Virginia, Lukrezia und Thusnelda. Die beiden Grundzüge meines Wesens: einen Gegenstand zu idealisieren und ihn dann gewaltsam auf seine Realität zurückzuführen, konnten hier friedlich nebeneinander wirken. Wenn ich über den Tod Virginias begeisterte Tränen weinte, ihr mit jedem Gefühl nachstarb, brauchte ich mich danach keinem noch heißeren Schmerz hinzugeben; denn Virginia war eine Tatsache der Geschichte, während schon das Kind vor dem Pfefferkuchenhäuschen der Frau Holle und dem Glaspantoffel Aschenputtels bald nach dem ersten Entzücken qualvolle Unsicherheit empfunden hatte.

Ich versuche nicht, die Verzückung Luisens auszumalen, wenn ich, mit einer Decke oder einem Bettuch drapiert, vor sie hintrat, um als Horatia pathetische Klage zu erheben, darüber, daß mein Bruder meinen Geliebten erstochen. Wenn es so weit kam, daß ich bei dem furchtbar großartigen Ausruf Horatios: »So ergehe es jeder Römerin, welche den Feind betrauern wird!« erstochen werden sollte, sank Luise ganz schwach auf einen Stuhl, über das »Ungetüm« von Bruder in wilde Entrüstung ausbrechend. Jedoch meinen größten Triumph errang ich vor diesem empfänglichen Publikum, als ich, in eine weiße Gardine gewickelt, einen Rosenkranz auf, mir vor Luisens eigenen entsetzten Augen deren großes Küchenmesser auf die Brust setzte, um mir als Lucrezia das Herz zu durchstoßen. Laut schreiend stürzte Luise auf mich zu, riß mir die Mordwaffe aus der Hand, brach in eine Flut von Tränen und Vorwürfen aus: ich hätte es auch gar zu natürlich gemacht!

Wenn ich nur die Küche als Bühne und nur Luise als Auditorium erwähne, so zeigt das, wie ich dergleichen Vorstellungen vor meiner Mutter geheimhalten mußte. Ich tat es unter den heftigsten Gewissensbissen; aber der Drang zum Schauspielern in mir war so unwiderstehlich, daß ich's nicht zu unterlassen vermochte. Ich konnte es auch nicht für mich allein tun, sondern mußte gehört und gesehen werden, wobei mir jedoch der Beifall nicht nur durchaus Nebensache, sondern im Gegenteil geradezu verhaßt war. Besonders gern hielt ich diese Vorstellungen in Abwesenheit der Mutter auf unserem Altan ab. Die Gartentür war verschlossen, drunten auf einem Stuhl saß feierlichst Luise, den Strickstrumpf zwar in der Hand, aber vor Erregung selten dazu kommend, ihre Nadeln in Bewegung zu setzen. Erwartungsvolle Pause –- dann erschien unter dem grünen Gerank eine kleine, weiße Gestalt, die nun zu sprechen begann.

Diese Heimlichkeiten, die Luise nicht nur zugab und begünstigte, sondern zu denen sie mich sogar zuletzt förmlich trieb, machten mein Verhältnis zu ihr immer vertraulicher – immer bedenklicher. Ihre Wirkung auf mich war durchaus nicht mehr harmloser Art. Durch ihre maßlose Bewunderung fing sie an, mir ernsthaften Schaden zu tun. Ich verlor meine schöne Unbewußtheit, wurde eitel, war kein so reines Kind mehr. Meine Mutter bemerkte diese Veränderung mit tiefem Kummer, ahnte vielleicht deren Grund, war aber zu schwach, eine sofortige Abhilfe zu treffen, wozu es auch bereits zu spät gewesen wäre. Indem sie mich inniger und inniger an ihr schönes Herz zog und mir ihre edle Seele zu empfinden gab, hob sie vieles von jenen schlechten Einwirkungen wieder auf.

Natürlich wurde mein deklamatorisches Talent auch in der Schule bemerkt und auch hier mit größerer Aufmerksamkeit behandelt, als mir gut war. Jede deutsche Stunde, in der ich ein Gedicht aufsagen durfte, galt als ein Ereignis für die ganze Klasse. Viele hatten es vor mir gesprochen, die meisten nicht gut – jetzt wurde mein Name gerufen. Wie mein Herz pochte! Wie mir alles Blut ins Gesicht stieg! Ich erhob mich. In die Klasse kam lebhafte Bewegung, der Lehrer mußte Ruhe gebieten, alles sah auf mich. Mit bebender Stimme begann ich, bald jedoch hatte ich meine Umgebung vergessen.

Noch sensationellere Erfolge erzielte meine junge Kunst bei den öffentlichen Prüfungen, die jede Klasse zweimal des Jahres zu bestehen hatte. Das Sprechen eines Gedichtes war der Höhepunkt dieser Produktion. Jedesmal ward die Deklamation mir übertragen. Sobald der wichtige Tag kam, war die Aufregung im Häuschen groß. Bereits eine Woche vorher, hatte Luise im Waschen und Plätten meines weißen Mullkleides ihr Meisterstück geliefert.

Dieses weiße, oft gewaschene Mullkleid! Mit Wehmut erinnere ich mich seiner recht bescheidenen Pracht, die mir damals als die denkbar größte Herrlichkeit erschien. Das köstliche Gewand durfte nur wenige Male des Jahres angelegt werden: an dem Geburtstag der Mutter, des Vaters und Luisens, an meinem eigenen und an eben jenem festlichen Ereignis in der Schule. Zum Glück hatte das Kleid sehr viele Falbeln: von diesen wurde jedes Jahr eine oben abgenommen und unten wieder angesetzt.

Dieses liebe köstliche Kleid ward an bewußtem festlichen Tag unter heftigem Applaus Luisens angelegt, durch eine rosaseidene Schärpe prächtig verschönt. Um die braunen Locken, die heute von den liebevollsten Händen mit besonderer Sorgfalt geordnet waren, wand sich ein Rosenkranz, von denselben gütigen Fingern verfertigt. So geschmückt betrat ich den weiten, mit Menschen angefüllten Saal, deklamierte, erhielt unter allgemeinem, oft geradezu stürmischen Beifall den Preis.

Was war's für ein Glück, wenn ich, so ausgezeichnet, mit strahlenden Augen nach den Meinen hinübersah. Dort saßen beide! Ich glaubte auf dem sanften Gesichte meiner Mutter einige Freude zu erkennen. Wie eine Päonie glühend, thronte Luise majestätisch im Staatskleid, heftig die Arme bewegend. Nickend und winkend, gestikulierte und pantomimierte sie ihr höchstes Entzücken zu mir herüber, so daß alle im Saale auf sie blickten. Was scherte sie das? Wie schön war der Heimweg, in Luisens Augen der Triumphzug, wobei sie fortwährend auf alle Begegnenden schielte, ob mich auch alle nach Gebühr anstaunten. Welche Entrüstung, wenn sie das nicht taten! Zu Hause gab's dann eine kleine, festliche Mahlzeit, zu welcher Luise einen wunderbaren Kuchen gebacken. Den ganzen Mittag und Abend gestattete sie uns nicht, von irgend etwas anderem zu reden.

Ich war vierzehn Jahre alt, als ich zum erstenmal ein Schauspiel sah.

Was hatte dieses Wort seit meinem ersten Erinnern für einen geheimnisvollen, mächtigen Klang für mich gehabt! Der Rattenfänger von Hameln hätte mich damit hinter sich her durch die ganze Welt gelockt.

Seit meine Mutter ihren lieben Lehrer geheiratet, war sie in kein Theater gekommen. Aber Luise war einigemal dort gewesen und erzählte mir davon, wie man sich denken kann, in nicht weniger wunderlicher Art, als von ihren Märchen. Da erhielt ich denn seltsame Begriffe. Schließlich malte ich es mir in meiner eigenen Weise aus und schuf mir so auf der Welt eine zweite Welt. Und – was soll ich's nicht gestehen – mir deuchte die selbstgeschaffene, die schönere.

Jedesmal, wenn ich zur Schule ging, blieb ich an den Straßenecken stehen, wo auf gelben, roten und blauen Zetteln zu lesen stand, welches Stück heute in dem und dem Theater gegeben wurde. Ich las die Titel, die Personen, die Namen der Schauspieler, fabulierte mir daraus die Handlung zusammen, wählte die Gestalt, die ich vorstellen würde, und setzte dahinter meinen Namen: Rolla. Ich fühle noch jetzt die Sehnsucht, die mir in jenen Zeiten wie ein glühender Strom zum Herzen drang; sehe mich noch jetzt an sonnigen und trüben Tagen an den Straßenecken stehen, ein kleines schmächtiges, mehr als einfach gekleidetes Ding. An mir vorüber brauste das Getriebe der Großstadt, rollten die Wagen, drängten sich die Menschen – ich hörte nichts! Vor mir stand mit großen Buchstaben: Die »Jungfrau von Orleans«, oder »Kabale und Liebe«, oder »Faust«. Ich stand, staunte hinauf und vergaß darüber das Leben.

Ich hatte auch noch nie ein Schauspiel gelesen, und jetzt sollte ich gar eines sehen!

Erst einen Tag vorher ward mir mein Glück angekündigt: es machte mich fassungslos. Von armen, kleinen Leutchen, die wir waren, konnte für das teure königliche Schauspiel nur ein Billett für die letzte Galerie erschwungen werden. Das Theater (es geschah an einem Sonntag) war ausverkauft: eine berühmte Tragödin gab Maria Stuart.

Schon das große, glänzend erleuchtete, von Menschen erfüllte Haus, der dunkelfarbige gewaltige Vorhang, der etwas Geheimnisvolles von uns abschloß, die Klänge des Orchesters, das Schwirren der Stimmen – alles das versetzte mich in einen Zustand von Fieber und Traum. Als der Vorhang aufging, wagte ich kaum hinzusehen und von der ersten Szene zwischen Sir Paulet und der Kennedy verstand ich kein Wort. Als man sagte:

»Da kommt sie selbst – den Christus in der Hand,
Die Hoffart und die Weltlust in dem Herzen!«

erhob ich mich, wie magnetisch angezogen. Die Mutter mußte mich niederdrücken: ich hatte gar nicht gehört, daß die Menschen, die hinter mir saßen, laut über mich murrten. Dann kam sie.

Ein Applaus, der das Haus erschütterte, begrüßte sie, ein Regen von Blumen fiel ihr zu Füßen. Noch ehe sie gesprochen, stürzten mir schon die Tränen aus den Augen.

Was soll ich weiter sagen? Ohne mich zu regen, saß ich da und starrte in die Tiefe hinab. Wenn die große Tragödin agierte, hätte ich – ich kann es noch heute nicht ausdrücken! Ihr wie eine der Blumen zu Füßen liegen, den Saum ihres Kleides berühren zu dürfen, erschien mir als Glück ohnegleichen.

Ich bin durchaus nicht sicher, ob ich mir an jenem Abend bewußt ward, was es eigentlich mit Maria Stuart und Elisabeth von England für eine Bewandtnis habe. Nach dem dritten Akt vergingen mir fast die Sinne. Ich erholte mich und sollte nun durchaus nach Hause. Doch meine Bitte: bleiben zu dürfen, war so beängstigend leidenschaftlich, daß meine Mutter aus Furcht, mich noch mehr zu erregen, sie mir gewähren mußte. Als der Vorhang zum letztenmal fiel und das Publikum klatschte und klatschte, stand ich da, schluchzte und schluchzte, als ob mir das Herz brechen wollte. Wie die Tragödin hervortrat, hätte ich beinahe einen Schrei ausgestoßen: Maria Stuart war ja tot! Dann konnte ich gar nicht begreifen, daß es aus sei und wir fortgehen mußten. Aus Maria Stuarts Kerker wieder in unser Häuschen zu Luise zurück, das erschien mir nicht möglich.

Auch von den traumhaften Tagen, die diesem unirdischen Abend folgten, vermag ich nichts niederzuschreiben. Luise zeigte sich ungemein entrüstet, daß ich über das große Ereignis keine Silbe äußerte. Wir waren zu arm, als daß die Seligkeit: von neuem für einen Abend Besitzer von zwei Galerieplätzen zu sein, sich sobald hätte wiederholen können. Trotzdem ich für einen nochmaligen Eintritt gern gestorben wäre, war ich verständig genug, meiner Mutter kein Wort zu sagen. Wußte ich doch, wie weh es ihr getan hätte, den Wunsch ihres Lieblings nicht erfüllen zu dürfen. Und ich wußte auch: manche Mitternacht verging, bis die Mutter in das Kämmerchen kam, darin sie mich in festem Schlummer glaubte, sich endlich gleichfalls zur Ruhe zu legen. Im Wohnzimmer saß sie bei trüber Öllampe und ließ ihre armen, müden Hände rastlos, rastlos Blumen verfertigen. Die Tochter wuchs heran, kostete viel Schulgeld, und obgleich Luise für gar kärglichen Lohn eine so treue Dienerin war, gab es Sorgen genug.

So bekam ich denn früh Gelegenheit, mich im Entbehren zu üben. Maria Stuart wurde kein zweites Mal gesehen, wohl aber immer wieder von neuem erlebt, wobei indes der eine Unterschied war, daß die unglückliche schottische Königin statt von der großen Tragödin von der kleinen Rolla gespielt wurde. Im übrigen begnügte ich mich, mit noch mehr Beharrlichkeit als früher, vor den Theaterzetteln zu stehen und sehnsuchtsvoll hinaufzublicken. Den Titeln nach kannte ich bald ganz das Repertoir des königlichen Schauspielhauses auswendig. Trat meine Künstlerin auf – sie war engagiert worden – so war dies, obgleich ich nichts davon zu sehen bekam, ein Ereignis für mich.

Als am Weihnachtsabend dieses Jahres die Lichter an unserem Tannenbäumchen brannten, lagen darunter – wie jauchzte ich auf! – Bücher! Bücher: Schillers sämtliche Werke.

 


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