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Zwölftes Kapitel.

Lehrmethoden

Als den ersten Baustein zu dem neuen Kunsttempel, der in mir aufgeführt werden sollte, muß ich jene Stunden bezeichnen, in denen Fernow mit mir Lessing las.

Nicht etwa, daß wir gleich mit den Dramen begonnen hätten – bewahre! Zur Einführung in die köstliche Klarheit Lessingschen Geistes wurden die theologischen Streitbriefe gegen Götze gewählt. Diesen folgte Laokoon.

Mir ward wundersam groß zumute, als mein Geist, von dem des Freundes geleitet, in diese Welt eintrat. Ungeahntes erschloß sich mir wie mit einem Zauberschlag. Bei Lessing war keine Dämmerung, keine Dumpfheit möglich! Wie Tag strömte es in meine Seele ein, wie höchstes Bewußtsein! Jener eine Zug meiner Doppelnatur erfaßte die wunderbare Lessingsche Realität wie eine Offenbarung. Was der Freund mir prophezeit hatte, geschah: Plötzlich wußte ich, was Natur sei! Ich war nicht berauscht: ich war tief glücklich.

Nach Laokoon, der mir die Erleuchtung über Ruhe und Maß gab, folgte zuerst Minna von Barnhelm, danach Miß Sarah, dann Emilia. Erst zuletzt kam Nathan.

Laßt mich bei diesen edlen Stunden einige Augenblicke verweilen!

In meinem Hinterstübchen saßen wir beide. Mochten im Hof die Sperlinge ein wahres Getös anheben, mochte Luise in der Küche wild mit ihren Tellern klappern – wir hörten nichts! Vor uns Lessings Büste, ein Geschenk des Freundes, und vor uns Lessings Werke, aus der Bibliothek des Vaters, wetteiferten Schülerin und Lehrer miteinander im Glück des Genusses. Es ward dämmerig, es ward dunkel. Ich mußte mich entschließen, aufzustehen und die Lampe zu holen, wobei ich für Luisens satirische Nebenbemerkungen kein Ohr hatte. (Sie sprach in solchen Fallen nur in Paranthesen!)

Mein lieber Arzt wußte wohl, von wem er für seine Leidende Hilfe zu erwarten hatte: von dem Gesunden. Wie liebenswürdig war er in diesen Stunden! Wie erfüllt von der Größe seines Dichters, den mit seinen Augen zu sehen er mich lehrte. Er sagte mir nie: das ist groß! sondern ließ es mich selbst fühlen. Nur auf die köstlichsten Feinheiten Lessingscher Prosa ward ich aufmerksam gemacht; aber immer in einer Weise, daß er nur den ersten Anstoß gab. Dann mußte ich weiter suchen und entdecken.

»Lessing ist für mich ein Mensch, der immer auf der Erde schreitet und immer zum Himmel aufblickt,« sagte er mir einmal. »So müssen auch Sie sein: eine Künstlerin, die Irdisches mit der Sonne des Schönen verklärt.«

Am Vormittag studierte ich nach seiner Anordnung in folgender Weise: Kaum war ich aufgestanden, so machte ich meine Organübungen; nie länger als fünf Minuten! Ich sprach mit voller Stimme alle Vokale, die schwersten Konsonanten und gewisse Worte, die ich mir selbst bildete, mit Lauten darin, die irgendwelche Schwierigkeit für mich hatten. Diesem Tonturnen (es erweckte beständig Luisens grimmige Entrüstung) folgten die gymnastischen Übungen. Erst dann durfte ich frühstücken. Von einem kurzen Spaziergang zurückgekehrt, kam die hauptsächlichste Arbeit des Tages: das Rollenstudium. Ich lasse es zum Beispiel die Emilia Galotti sein. Das ganze Stück war mit dem Freund gelesen und Szene für Szene mit ihm besprochen worden. Ich hatte es ihm erzählen müssen wie eine Geschichte.

Emiliens Denkungsart und Empfindung waren mir völlig vertraut; völlig vertraut war mir die bürgerliche Luft in ihrem Elternhause, die wollüstige bei den Grimaldi. Ich kannte ihr Verhältnis zu ihrem starren Vater, zu ihrer gutmütigen Mutter, zu ihrem edlen, aber kühlen Bräutigam, so genau, als wäre sie – wohlverstanden nicht ich selbst, wohl aber meine beste Freundin. Alles mit ihr erlebend und erleidend, betrachtete ich sie durchaus objektiv. Ich wußte von ihr, daß sie den Prinzen lieben würde, daß sie, wenn ihr Vater keinen Dolch gehabt, ihre Haarnadel hätte gebrauchen müssen.

Ich dachte viel über sie nach. Wiederum kam ein Gespräch mit dem Freund; dann erst durfte ich das Buch zur Hand nehmen. Im Zimmer auf und ab gehend las ich, sprach ich vor mich hin – nichts weiter! Plötzlich an irgendeinem Nachmittag sagte Fernow: »Wir wollen doch einmal sehen, was unsere Emilia macht.«

Er nahm das Buch und jetzt war mein Stübchen ein Zimmer im Hause des Obersten Galotti – und es war das Vorgemach im Lustschloß des Prinzen. Fernow las die anderen Personen, ich sprach die Emilia, so einfach, so harmlos und natürlich wie nur irgend möglich.

Eine Szene wurde so lange wiederholt, bis es war, als käme ich wirklich aus der Kirche zurück, wo ich dem Prinzen begegnet, als ginge ich wirklich hinaus, um mir »husch, husch« eine Rose ins Haar zu stecken, die der einzige Schmuck von Appianis Braut sein sollte.

Solcher Art lernte ich, baute ich wieder auf.

Sehr streng achtete Fernow darauf, daß ich von einem Stück, in dem ich spielen wollte, mehr als meine eigene Rolle kannte. Ja, er verlangte, daß ich jeden Charakter mit der gleichen Aufmerksamkeit behandle, wie denjenigen, den ich selbst darstellte.

»Denn,« so sagte er, »bei euch Schauspielern muß man geradezu erstaunen, wie falsch ihr oft ein Stück beurteilt. Das kommt wohl daher, daß die meisten von euch selten ein Stück als Ganzes betrachten, also selten es als ein Kunstwerk respektieren. Indem jeder sich die Gestalt herausreißt, die er für seine schauspielerische Individualität am geeignetsten hält, mit der er für sich die größeste Wirkung zu erzielen hofft, zerstückelt er die Dichtung und es mag vorkommen, daß er von derselben nicht mehr kennt, als seine Rolle. Je nachdem diese ihm persönlich zusagt oder nicht, beurteilt er nun, wirft er sich zum Kritiker auf, der, weil er Schauspieler ist, sich in seiner Meinung über Schauspiele für unfehlbar hält.«

Auch bei Stücken, die wir nur lasen, um mich damit bekannt zu machen, mußte ich mir über Fabel und Charakter völlig klar werden. In anmutiger Plauderei führte mich der Freund tiefer in den Stoff ein, zeigte er mir die geheimnisvolle Arbeit des Dichters, sowie Absicht und Zweck der Dichtung selbst. Jede der Personen betrachtete er zuerst als Individuum für sich, dann im Zusammenhang mit den andern. Besonders tüchtig wurde an eine möglichst plastische Hinstellung des Helden und der Heldin gearbeitet. Bei dieser Lektüre unterbrach er mich, sobald ich ihm etwas falsch aufgefaßt oder mich falsch ausgedrückt zu haben schien. Wir gingen erst dann weiter, wenn ich den nach seiner Ansicht richtigen Ton gefunden hatte.

Bei dem Sprechen meiner Rollen fand auch das Spiel in Fernows Lehrplan seine Berücksichtigung. Die ersten Male mußte ich Mienenspiel und Gebärden streng unterdrücken. Auch hier waren ihm – namentlich was Bewegung anbetraf – die ersten Bedingungen der Kunst Ruhe und Maß, möglichste Einfachheit, möglichste Großheit. Hierbei war ihm ein Zuwenig lieber als ein Zuviel. Von einem Einstudieren vor dem Spiegel sprach er mit Abscheu.

»Wenigen wird hierbei einfallen, darauf zu achten, ob ihre Bewegungen unschön sind, sondern die meisten werden versuchen, ihre schöne Person möglichst unnatürlich zu machen. Sie, liebe Rolla, haben Anmut und Sie haben vor allen Dingen Würde; brauchen also durchaus keinerlei Raffinement anzuwenden, um auf der Bühne schön gefunden zu werden. Streben Sie, wenn Sie sich später Ihre Kreise auswählen können, sich viel in der besten Gesellschaft zu bewegen, wo Sie nur edlen Formen begegnen. In dieser Beziehung ist unsere vornehme Welt eine ganz vorzügliche Bildungsanstalt. Leicht und oberflächlich mag man darin sein, die Form mag das Wesen darin erstickt haben; aber das geht uns hier weiter nichts an.

Auch das gereicht Ihnen bei Ihrer Natur zum Vorteil: Ich habe noch nie bemerkt, daß Sie im Negligé gehen, weder an Ihrer Person, noch in Ihrem Wesen; sowie Sie auch des von mir gehaßten sogenannten Sonntagskleides nicht bedürfen, um immer festlich gekleidet auszusehen. Das sind Kleinigkeiten; aber unter Umständen können sie große Wirkungen haben.«

In solcher Weise verfloß mein Leben mit dem vortrefflichen Mann. Er blieb sich immer gleich und ebendiese seine schöne Gleichheit war es, die mir in seiner Freundschaft ein so himmlisches Gefühl von Frieden, Ruhe und Sicherheit gab. Ich konnte mir nicht denken, daß dieses ernste, edle Antlitz jemals ohne sein menschenfreundliches Lächeln für mich sein könnte, daß diese sanfte, starke Hand sich einmal nicht ausstrecken würde, die meine zu fassen. Ich mochte mich verändern und verwandeln – er mußte bleiben wie er war. Ich konnte irren und mich verirren, aber ihn würde ich finden: immer gleich hilfreich, edel und gut.

Wie diese starke, ernste Empfindung mir guttat, wie sie mich gut machte!


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