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Sechstes Kapitel.

Große Entscheidungen.

»Du sollst Lehrerin werden!« war über mich beschlossen worden und ich hatte dazu nicht nein gesagt. In einiger Zeit sollte meine Ausbildung beginnen. Die Mutter sprach bereits bangvoll von dem ersten Examen.

Seit Monaten trug ich's in mir: beängstigend zweifelnd, schwankend, einen Sturm von Empfindungen, den mein Gemüt kaum auszuhalten vermochte. Meine Heiterkeit sollte nur dazu dienen, die Mutter zu täuschen und mich selbst zu betäuben. Immer wieder und wieder fragte ich mich in meinen schlaflosen Nächten: »Sollst du für immer entbehren, für immer entsagen?! Oder sollst du, ehe du das schweigend und ergeben tust, dich erst von der Notwendigkeit einer derartigen Resignation überzeugen?« Ich empfand zu deutlich, daß es sich um mein Lebensglück handle. Zugleich fühlte ich einen mächtigen, wenn auch dunklen Drang, mich, sogar meiner heißgeliebten Mutter gegenüber, als ein freies, über sich selbst entscheidendes Geschöpf hinzustellen. Wie oft hatte ich sie darüber klagen hören, daß mein Vater einen Beruf ergriffen, der gegen seine innerste Natur gewesen. Wie anders hätte er sich entwickelt, wenn er seiner freien, starken Neigung gefolgt wäre und sich nicht durch ›Rücksichten‹ gegen andere, die ebenso viele Verbrechen gegen sich selbst waren, um das volle Glück seines Lebens gebracht haben würde. Volles Lebensglück aber ergab nur ein Lebensberuf, der aus innerlichstem Drang erwählt ward, ein Satz, der ebensogut für die Frau gilt. Bereits damals sah ich ein, daß man jedem Menschen, wie man allein ihn zur Verantwortung für die Folgen seiner Taten zieht, so auch ihm allein die Berechtigung überlassen muß, diese seine Taten selbst zu bestimmen.

Um der verhaßten Lehrerin zu entgehen, hätte ich mich demnach nur an das Herz meiner Mutter zu wenden brauchen, um sofort verstanden zu werden. Doch ich bedurfte anderes und mehr, und hier konnte mir meine Mutter mit aller ihrer unendlichen Liebesgewalt nichts helfen. Ich hatte keinen Berater als mich selbst. Nun, ich riet mir.

Das erste, was geschehen mußte, war, zu erfahren: hatte ich Talent oder hatte ich keines? Ich natürlich glaubte daran wie ein Priester an seine Mission. Aber meine Berechtigung und Befähigung zu dieser Mission mußte ich von anderen bestätigt hören und zwar von solchen, deren Entscheidung ich als unfehlbaren Richterspruch anerkennen mußte. Luisens pathetische Stimme vermochte ich beim besten Willen nicht für ein Orakel zu nehmen; hegte ich doch sogar gegen den Applaus, der mir während meiner Schulzeit zuteil geworden war, ernstliche Bedenken. Also vor allem Wahrheit, Wahrheit! Und sollte ich auch durch sie hoffnungslos werden.

Welcher Mund sollte mir diese Wahrheit geben?!

Eines Morgens stand ich in dem Bureau des königlichen Schauspielhauses und erkundigte mich – mit welchem Herzpochen! – bei wem man sich prüfen lassen könnte. Gefällig gab man mir Bescheid, mit der Bemerkung, daß der Mann der berühmteste Vortragsmeister seiner Zeit sei.

Nun kannte ich also den Mund, der die große Entscheidung über mich aussprechen würde. Es sollte sogleich geschehen.

In einem vornehmen Hause wohnte der große Mann. Ich faßte mir endlich das Herz, an seiner Wohnung die Glocke zu ziehen. Ein Diener öffnete und ließ mich, ohne weiter nach meinem Begehr zu fragen, sogleich ein. Ich trat in ein prächtiges Vorzimmer, das voller Wartender war: meistens Damen, jung und alt, hübsch und häßlich, elegant gekleidet, oder doch wenigstens mit dem Schein von Eleganz. Wie ich sie beneidete, ich, die sonst so Neidlose!

Es ging ungemein laut und ungeniert zu. Als der Diener mich eingelassen, trat in dem Geschwirr von Stimmen ein Moment tiefer Ruhe ein. Aller Blicke richteten sich auf mich, musterten mich, wandten sich gleichgültig wieder ab.

Sehr bald mußte mir in dieser Versammlung eine große Verschiedenheit des Wesens und Benehmens auffallen. Während einige ängstlich die Wände drückten, benutzten andere die Lehnstühle und Sofas, als befänden sie sich darauf zu Hause. Sie studierten halblaut ihre Rollen, lasen einander aus Theaterzeitungen vor, kritisierten, skandalierten. Ein Herr und eine Dame probierten sogar eine Szene. –- Daß alle diese Überglücklichen ihr Glück so gelassen tragen konnten! Ich begriff es nicht.

Auf einer Chaiselongue lag ›hingegossen‹ ein Fräulein im auffallendsten Kostüm, das, einen französischen Chanson trällernd, sich von einem jungen Manne (wohl der Liebhaber einer Vorstadtbühne) den Hof machen ließ, wobei sie frech zu einer majestätischen Schönheit hinüberblickte, die sich von einem fetten Herrn mit ihrem Fächer Kühlung zuwehen ließ. Ich hatte den besten Willen, beide zu bewundern!

Jedes Wort, das ich hörte, galt dem Theater. Das Spiel des Herrn X. und des Fräulein Y. wurden ›heruntergerissen‹, die Toiletten verschiedener Damen eingehend besprochen. Ich vernahm, daß der Graf Soundso der Liebhaber bei R. sei, und daß das Rosenbukett, welches neulich der V. zugeworfen worden, vom französischen Gesandten gewesen. Die Rollen eines neuen Stückes waren verteilt worden, mehrere Damen beklagten sich heftig, daß sie infolge der Intrigen der Frau A. schlechte Partien bekommen; andere, daß sie darin gar nicht beschäftigt würden. Ich hatte gern alles unirdisch schön gefunden!

Unter den Schweigsamen befanden sich Mütter, hochaufgeputzt und siegesgewiß, welche ihre Töchter dem großen Mann zur Prüfung vorführen wollten. In einer Ecke stand ein alter Mann, beinah ärmlich angezogen; neben ihm seine ganz junge Tochter, ein blasses Mädchen mit großen schwarzen Augen. Ich weiß nicht, warum mir die beiden so sehr leid taten.

So oft die Tür sich öffnete und ein zweiter Diener den Nächstfolgenden in das Zimmer des großen Mannes einließ, sah der Alte angstvoll das Mädchen an. Diese legte beruhigend ihre Hand auf seinen Arm. Ich war so mit ihnen beschäftigt, daß ich darüber mich selbst ganz vergaß. Wie die beiden eingelassen wurden, klopfte mir das Herz, als hieße das blasse traurige Mädchen: Rolla. Die Dame auf der Chaiselongue lachte laut auf, als die beiden dürftigen Gestalten an ihr vorübergingen. Nachdem die Tür sich geschlossen, lauschte ich, ob ich etwas vernehmen könne; aber es war nicht möglich. Bereits nach wenigen Minuten öffnete man wieder. »Nicht das geringste Talent!« hörte ich eine barsche Stimme sagen. »Lassen Sie Ihre Tochter Putzmamsell werden; auf der Bühne lacht man sie aus.«

»Ach, komm doch, Vater,« sagte das Mädchen, das allein auf der Schwelle stand.

Ich hörte etwas wie ein Aufschluchzen, wie eine schüchtern gestammelte Bitte; dann ein noch barscheres: »Adieu!« Die beiden kamen heraus – was für traurige Menschen! Das Fräulein auf der Chaiselongue lachte wieder laut auf, die anderen bekümmerten sich gar nicht um sie. Ich mußte mich zusammennehmen. um nicht an das arme Mädchen heranzutreten und ihr wenigstens still und mitleidsvoll die Hand zu geben. Wußte ich doch, wie ihr zumute war, ging ich doch vielleicht in wenigen Augenblicken selbst mit solch einer zerschmetterten Hoffnung zum Zimmer hinaus. Was sollte denn aus mir werden?

Während der ganzen Zeit, die ich nach diesen beiden noch zu warten hatte, mußte ich immerfort an sie denken: wie der alte Mann durch die Straßen schlich, und wie sein Kind ihn nicht zu trösten vermochte: sie hatten beide so fest geglaubt!

Endlich, nach fast zwei Stunden Harrens, kam an mich die Reihe. Der Diener machte mir ein Zeichen – ich raffte allen meinen Mut zusammen. Die Tür öffnete sich vor mir, ich schlug einen schweren Vorhang zurück, trat ein – – Noch ein Augenblick und ich stand vor dem großen Mann.

»Was wünschen Sie?«

»Sie bitten, mich zu prüfen,« brachte ich kaum über die Lippen.

»Haben Sie schon gespielt?«

»Nein.«

»Haben Sie schon einen Lehrer gehabt?«

»Nein.«

»Wie alt sind Sie?«

»Sechzehn Jahre.«

»Verfügen Sie über Mittel?«

»Nur über geringe.«

Eine Pause entstand. Ich glaubte mich hoffnungslos.

Dann von neuem, womöglich in noch unfreundlicherer Weise: »Deklamieren Sie etwas!«

Ich fühlte wie mich ein Schwindel ergriff; nur mühsam konnte ich fragen: »Was wünschen Sie?«

»Sprechen Sie etwas aus Schiller.«

Ich sprach etwas aus Schiller, was mir gerade einfiel. Noch heute weiß ich nicht, ob es aus der Jungfrau oder aus Maria Stuart war. Bereits nach einigen Sätzen ward ich unterbrochen: »Es ist gut.«

Natürlich glaubte ich. daß es schlecht sei. Ich mußte meine Augen schließen: ich sah lauter Farben, alles war Glanz.

Wieder eine Pause, unendlich lang, fürchterlich!

Ich hielt mich für verloren.

Als ich meine Augen wieder zu öffnen wagte, sah ich den großen Mann in seinem Lehnstuhl lehnen und heftig mit einem goldnen Bleistift spielen. Ich erwartete mein Todesurteil zu hören, als er aufstand, zu einem Bücherschrank ging, einen Band herausnahm, ihn aufschlug und, ihn mir hinreichend, sagte: »Lesen Sie das, die ganze Szene.«

Es war Clavigo, der Auftritt zwischen Marie und ihrem Bruder, die schönste und schwerste Prosa der dramatischen Literatur.

Ich hatte zu Ende gelesen und bemerkte jetzt, wie der große Mann mich unverwandt auf das Schärfste fixierte. Er erhob sich, ging aufgeregt im Zimmer umher. Plötzlich blieb er vor mir stehen, sah mich von neuem scharf an, dann – ich wagte nicht zu atmen – meinte er: »Sie haben Talent.«

Daß ich nicht laut aufjubelte! Daß ich dem Freundlichen, Glück- und Lebenspendenden nicht zu Füßen sank! – – »Sie haben Talent.« Verlangen, Wunsch und Sehnsucht – ich hatte sie nicht vergebens so lange zu meinen schmerzlichen Gefährten gehabt. »Sie haben Talent.« – – Erfüllung, des größesten Vaters schönste Tochter stieg auch zu mir hernieder, Erhörerin meines Gebetes, Geberin meines Glücks. – – »Sie haben Talent.« Die Opferflamme mochte angezündet werden, steigern und lodern. Am Altar stand die junge Priesterin, bereit zum getreuen demütigen, dankenden Dienst.

Die Stimme des großen Mannes entriß mich meinem Taumel.

»Kommen Sie morgen um diese Zeit wieder. Sie können meine Schülerin werden. Adieu.«

Ich schwankte aus dem Zimmer. Meine Audienz hatte so lange gewährt, daß ich von allen böse angestarrt wurde. Ich hätte jedem freundlich zunicken mögen. Der Diener, der mich hinausließ, machte nicht gleich wieder hinter mir zu; er stand wohl und sah mir nach. Auch auf der Straße taten das gewiß viele. Ich fühlte gar nicht, daß ich ging, daß unter mir die Erde war. Ich kam zu Hause an, stürzte in das Zimmer der Mutter, warf mich an ihre Brust: »Mutter, Mutter, Mutter – ich werde Schauspielerin!« Und jetzt brach es aus meinen Augen hervor, ein Strom seliger Tränen, die glücklichsten, die ich jemals geweint. Erst als ich mich beruhigt hatte, gewahrte ich, wie bleich und still meine Mutter dasaß. Sie war auf einen Stuhl niedergesunken und erschien wie entgeistert. Ich kniete vor ihr, aber sie drückte mich nicht an ihre Brust. Sie sah mich an und plötzlich wußte ich's. – – Daß mir jetzt der Schmerz die Besinnung nicht nahm, die mir die Freude gelassen! Aber ich fand sogar noch Kraft zu versuchen, meine Mutter zu beruhigen.

»Ich habe es gefürchtet,« sagte sie leise. »Ich habe es immer gefürchtet. Aber ich habe doch immer wieder gehofft.O , Kind! Kind!«

»Ich hätte es auch fürchten sollen,« erwiderte ich ebenso leise. »Ich meine deinen Kummer. Aber auch ich habe immer gehofft. Es macht mein Glück sehr traurig; aber dennoch – Gott helfe mir, Mutter, ich kann nicht anders!«

»Ich weiß es. – Ach, mein armes, unglückliches Kind!«

Und sie legte sich meinen Kopf an ihre Brust, als sei mir ein großes Unglück geschehen.


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