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Zwanzigstes Kapitel.

Sie wächst und wächst

Die Flut wächst und wächst. Jede Stunde kann sie die Dämme zerreißen, die Ufer durchbrechen, das Land überschwemmen, zerstören, zermalmen, vernichten.

Von der Wasserfallalm zurückgekehrt, begab ich mich sogleich in den Pfarrhof. Veronika hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und ließ mich nicht zu sich. Ich mußte es ihr durch die Tür zurufen. Sie gab mir keine Antwort.

Am Abend, kurz vor Einbruch der Nacht, ist der Pfarrer zu uns gekommen. Ich habe mich bei seinem Eintritt an seine Brust geworfen und konnte nicht reden. Wie stark er ist, ein Neugeborener! Er teilte uns das letzte volle Ergebnis seiner Heldenrede mit.

Der größere Teil, alle Besseren sind die Seinen geworden, die übrigen auf der Wasserfallalp bei dem Pater zurückgeblieben. Sie gehören fast ausschließlich dem Dorfe an. Das erste, was getan werden muß, ist: in der allerletzten Stunde das Dorf noch so viel als möglich vor den Fluten zu schützen. Man wird die ganze Nacht hindurch arbeiten. Was wir von Leuten behalten haben, schicken wir natürlich hinunter; auch alle Mägde. Werden doch selbst die Kinder helfen müssen. Der Pfarrer freut sich darauf, die Hacke zu schwingen.

Sodann gilt es, unsere kleine Heerschar mit Waffen und Munition zu versehen und das so bald als möglich. Ein Transport über das Joch würde zu lange dauern. Man muß also durch die Schluchten in die südlichen Täler hinab und den Einkauf auf feindlichem Gebiet bewerkstelligen. Das will Axel tun. Noch diese Nacht reist er ab, von unserem zuverlässigsten Beamten begleitet.

Nachdem dies beschlossen, hat sich Pfarrer Andreas auf ein Pferd geworfen und ist zu den Dämmen gestürmt. Ich muß jetzt alles für das kühne Unternehmen meines liebsten Freundes vorbereiten.

 

Er ist fort und ich fürchte, ich habe ihm den Abschied schwer gemacht. Mir wurde plötzlich so bang! Als ich seine Sachen zusammenpackte, ertappte ich mich, wie ich denken mußte: wann werde ich sie wieder auspacken? Das wird spätestens in zwei Tagen sein. Ich sagte es mir immer vor, wie um es mir selbst glaublich zu machen. Es ist töricht! Aber glücklich bin ich jetzt, daß ich die letzte Stunde nicht von seiner Seite wich. Es war so schwül in den Zimmern; ich zog ihn hinaus ins Freie, auf den Schloßhof. Auch dort konnte ich nicht aufatmen. Ein heißer Föhn wehte, kein Stern war am Himmel zu sehen, schwarzes Gewölk lag tief herabgesunken. Es war trostlos! Deutlich hörten wir das Rauschen und Brausen des wütenden Stromes. Mich faßte Grausen. Kaum daß ich mir Gewalt antun konnte, Axel meine Sorge und Angst, mein ganz vernunftlos schmerzliches Trennungsgefühl – meine Liebe, nicht merken zu lassen. Immerfort mußte ich von neuem mich an ihn drängen und von ihm umfassen lassen, immerfort ihn von neuem beschwören, an mich zu denken, um meinetwillen so rasch wie möglich wieder zurückzukehren.

Er dagegen war nicht im mindesten besorgt ober unruhig, ahnte nicht im mindesten meinen eigentlichen Zustand. Er scherzte und lachte mich aus; er war übermütig wie ein Knabe, ganz ausgelassen, wahrhaftig!

Endlich ließ er mich gehen, endlich riß er sich los. Er war mit seinem Begleiter schon fort und ich stand, auf die Hufschläge der Pferde lauschend, als er noch einmal zurückgesprengt kam. Ich eilte ihm entgegen, er sprang vom Pferde, hob mich zu sich auf, drückte mich mächtig an sich, flüsterte: »Mein geliebtes Weib,« ließ mich sanft los – dann im Karriere davon.

Lange konnte ich mich nicht entschließen, ins öde Haus zurückzukehren. Über mir rauschten schwermütig die Gipfel der Edeltannen und das Gewölk schien sich immer tiefer herabzusenken. Wäre er jetzt noch einmal zurückgekommen, diesmal hätte ich ihn nicht fortgelassen oder wäre mit ihm gegangen. Warum war ich's überhaupt nicht? Doch jetzt war es zu spät: alle Leute, alle Pferde arbeiteten bei den Dämmen. Die Vorwürfe, die ich mir machte, steigerten meine Unruhe.

Der Wind trieb mich ins Haus zurück. Wie verlassen, wie tot alles war! Meine Kammerfrau kam mir entgegen und fing laut zu lamentieren an. Ich schickte sie auf ihr Zimmer. Nun war ich ganz allein.

Wie ein Heer von Gespenstern überfielen mich die Gedanken; kein Angstruf konnte sie bannen. Als fürchterliche Wirklichkeiten standen die Erscheinungen vor mir: alle meine Gestorbenen, meine toten Menschen sowohl wie meine toten Wünsche und Hoffnungen. Zuletzt erhob sich warnend, drohend mir zuwinkend, die blasse Hand meiner Mutter.

Ich flüchtete ans Fenster.

Vom Dorfe her leuchteten durch die Nacht die Feuer der Dammarbeiter herüber. Ich glaubte, die dunklen Gestalten zu erkennen, den wütenden Strom daran vorüberrasen zu sehen. Ich erblickte als schmalen, blassen Streifen, der sich durch die Dunkelheit zog, die Landstraße und starrte so lange darauf hinab, bis sie sich vor meinen Augen zu bewegen, zu mir heraufzuwinden schien, näher und näher.

 

Ich will mich jetzt aufraffen, mich diesem Bann gewaltsam entreißen. Die Nacht ist immer wilder geworden. Mein liebster Freund muß sich bei dem Sturm die schaurigen Engpässe hindurchkämpfen, der Gefahr entgegen. – – Wenn ich doch nicht an seiner Seite sein kann, weshalb bin ich nicht draußen, dort, wo Gefahr droht?

 

Eben graut der Morgen, eben bin ich zurückgekommen. Ich bin zu Tode erschöpft, aber ruhen kann ich nicht. So schreibe ich denn.

Nur mühsam konnte ich durch den Sturm bis zum Dorf dringen. Mit geschlossenen Augen schwankte ich die Straße dahin, von dem Heulen der Windsbraut, den wilden Stimmen des Wassers betäubt. Als ich in der Dorfstraße ankam, fand ich auch hier überall Fackeln entzündet; aber ich begegnete keinem Menschen. Die Kirche war erleuchtet und stand offen. Ich ging hinein: auch hier alles öde! Doch in der Sakristei schien jemand zu sein. Ich trat ein und erblickte: Den düsteren phantastischen Raum erhellte eine einzige Kerze, deren flackerndes Licht auf die hohen Holzschränke und braunen Kirchengemälde fiel. Das ganze Gemach lag voller alter Rüstungen und Waffen, die man hierher zusammengetragen. Mitten unter den Büchsen, Partisanen und eisenbeschlagenen Kolben stand Veronika, in der Hand eines dieser letzteren furchtbaren Kampfwerkzeuge, das sie eben aus dem Haufen emporgehoben haben mußte. Sie prüfte die Waffe, sie schwang sie. Dann stand sie regungslos, die schwere Keule hoch über ihrem Haupte erhoben, das Gesicht ganz farblos, die Züge hart, beinahe grausam. Mehr sah ich nicht. Schaudernd wich ich zurück, verließ das Gotteshaus und schlug den Weg ein, der zum Strome führte. In wenigen Augenblicken war ich dort.

Welch ein Nachtbild! Männer, Weiber und Kinder in voller Arbeit an den braunen Erdwällen, von denen die Pechbrände blutrot aufloderten. Der Wind wehte sie hin und her, graue Qualmsäulen stiegen empor. Alles arbeitete schweigend. Nur dann und wann ertönte ein kurzer Befehl, hineingerufen – hineingeschrien in den Sturm und das Rauschen der Wellen. Immer war es die Stimme des Pfarrers. Er arbeitete mit der Schaufel an dem am meisten gefährdeten Damm. Über alle Gesichter zuckte der Feuerschein, die Haare der Frauen waren vom Sturm gelöst; einige hatten sich ihre Tücher von der Brust genommen und um den Kopf gewunden. Man arbeitete, als gälte es das Leben.

Das galt es auch.

Ich erklimmte einen der Wälle. Dicht unter mir schossen die Fluten dahin, gelb und schlammig. Entwurzelte Bäume trieben ans Land, schwankten eine Weile hin und her, wurden von den Wirbeln wieder gefaßt und davongerissen. Ganz nah von meinem Standpunkt befand sich die Brücke. Nur noch wenige Zoll Raum war zwischen ihr und dem Wasser. Aber noch hielten die Balken. Vom jenseitigen Ufer war nichts zu erkennen.

Ich überlegte, wie lange man bei fortdauerndem Steigen der Flut dieselbe noch vom Dorfe werde abhalten können. Wahrscheinlich zählte es nur nach Stunden.

Ich ging zum Pfarrer, der seine Arbeit keinen Augenblick unterbrach. Eine Weile stand ich neben ihm und sah ihm zu. Dann ließ ich mir eine Schaufel geben und arbeitete mit.

Ich war ganz glücklich und nickte meinem Gefährten freundlich zu. Der lächelte über meinen Eifer. Plötzlich sah ich Veronika kommen.

»Sie hat, was wir an Waffen besitzen, aus allen Häusern in die Sakristei zusammengetragen,« rief Pfarrer Andreas mir zu und sah seine Schwester mit einem leuchtenden Blick an. »Sie ist ein echtes Tiroler Kind.«

Dann schaufelten wir weiter, Veronika half uns.

So verging eine Stunde, nach welcher wir Ablösung bekamen. Nur der Pfarrer blieb am Platz und war nicht zu bewegen, mit uns auszuruhen. Ich wollte mich nach dem Pfarrhof begeben, um ihm einige Erfrischungen zu holen und sah mich nach Veronika um. Vor einigen Augenblicken befand sie sich noch an meiner Seite, jetzt war sie verschwunden. So trat ich denn ohne sie den Weg ins Dorf an.

Plötzlich erblickte ich sie wieder vor mir. Ich rief sie, doch sie hörte mich nicht. Sie wandte sich vom Dorf ab und schlug den Weg zur Brücke ein. Da ich nicht begreifen konnte, was sie dort wollte, folgte ich ihr.

Veronika betrat die Brücke und hinter ihr ich. Der Boden schwankte unter meinen Schritten, fürchterlich gurgelte und gluckste es unter uns. Schwindel ergriff mich. Ich hatte die entsetzliche Vision von einem, der in dieser gräßlichen Flut versank und unterging. Ich strauchelte und mußte mich, um nicht zu stürzen, am Geländer festklammern. Dabei blickte ich unter mir in die Wasser hinab. Mir war, als sähe ich daraus ein bleiches Haupt auftauchen, von lichten Locken umwallt, mit den Zügen eines unvergeßlichen Toten. Ich sah dieses Antlitz, ehe die Flut es verschlang, wundersam aufleuchten. Dann schwankte ich weiter und lebte erst auf, als ich unter mir wieder festen Boden fühlte.

Ich mußte mich zuerst besinnen, wo ich mich befand. Allmählich erkannte ich das andere Ufer: ein ödes Steinfeld, darüber schwarzes Gewölk lagerte. Ich blieb stehen, spähte nach Veronika aus und entdeckte sie noch immer vor mir, mitten auf dem wilden Gefilde, wie eine Erscheinung dahinwandelnd. Sie schritt geradeswegs auf eine dunkle Gestalt zu, die dicht am Ufer stand.

Es war der Pater, der sein Opfer widerstandslos zu sich hinzog. Einmal an seiner Seite und sie war verloren. Eher begrübe er sich mit ihr zusammen in den Fluten, als daß er sie wieder herausgabe. Sie hatte ihn vermutlich vom andern Ufer aus gesehen und mußte nun zu ihm, sie mochte wollen oder nicht.

Ich mußte sie retten.

Sie stand fast schon vor ihm, als sie dicht hinter sich einen Namen rufen hörte, der sie von ihrem Dämon zurückriß.

»Denke an Frank!«

Bewirkte mein Herrlicher noch im Tode Wunder, nur dadurch, daß man seinen Namen nannte? Rief die bloße Erinnerung an ihn Sterbende wieder ins Leben zurück?

Veronika war stehengeblieben. Ich fühlte es an dem Schauern meiner eigenen Seele, wie sie bei dem Namen erbebte und nun nicht mehr zu jenem anderen hinkonnte, sie mochte wollen oder nicht.

»Hierher!«

Er rief sie, aber sie hörte ihn nicht mehr, sie hörte nur: »Denke an Frank!«

Sie wich zurück, sie wandte sich. Ihr Dämon stürzte auf sie zu; aber schon war ich bei ihr, die sich in meine Arme flüchtete.

Ich hielt die Gerettete umschlungen, es ihr noch einmal sagend, diesmal zärtlich flüsternd: »Denke an Frank!«


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