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Fernows Nähe muß ein falsches Gerücht gewesen sein; ich habe keinen Augenblick daran geglaubt. Bin ich denn krank? Stehe ich denn in Gefahr? Nein, meine Zeit ist noch nicht da.
Ich habe mein Projekt durchgeführt und eine eigene Gesellschaft engagiert und fühle mich nun weit freier, weit leichter. Natürlich sind die Kräfte nur mittelmäßig, aber doch gut eingeübt. Dem Publikum ist es ja ziemlich gleich: es will mich haben und nichts als mich. Ich gebe dem Publikum also, was es will. Die Presse ist natürlich wieder gegen mich; ich lese keine Zeitungen mehr.
Veronika hat als Maria Stuart debütiert. Der Erfolg war nicht so durchschlagend, als ich erwartet hatte. Ich spielte die Elisabeth. Mir kam Veronika sehr groß vor, ich begreife das Publikum nicht. Doch zeigt mir dieser Vorfall wieder einmal deutlich, wie recht ich habe: sie verstehen eben nicht viel von wahrer Kunst.
Veronika benahm sich sehr königlich. Sie hatte allerdings die Rezensenten für sich. Man prophezeite ihr einstimmig große Dinge, wenn sie sich hüte, in meine Fußtapfen zu treten. Die Herren sagten mir damit nichts Neues. Veronika hat als Schauspielerin den Namen ihrer Mutter angenommen.
Dadurch, daß sie bei ihrer Jugend schon so ganz und gar Tragödin ist, kann ich in meiner Gesellschaft kaum Rollen für sie finden. Das ist sehr schlimm. In den meisten Stücken, in denen ich auftrete, weiß ich sie nicht zu beschäftigen. Rollen, wie Emilia Galotti und die Miß sind ihr förmlich zuwider. Es wäre auch ganz gegen ihre Natur, ebenso wie es nicht zu ihrer Gestalt, nicht zu ihrem Organ, nicht zu ihren Bewegungen paßt. Ich lasse also ihretwegen Schiller spielen. Um zu glauben, was sie aus der Luise macht, muß man es sehen. Die abscheuliche Lady wird dagegen immer kläglicher. Trotzdem gebe ich sie; ja und wirke sogar damit. Ich spiele sie aber auch mit einer Leidenschaft, mit einer Realität – –
Ich fürchte, Veronika und ich werden uns trennen müssen; sie muß an eine große Bühne, in ein reineres Element. Sie könnte doch bei mir Schaden nehmen und wie wollte ich das verantworten.
Ich schrieb bereits an die Hofbühne von ... und erwartete täglich die Antwort. Wie würde ich mich freuen, wenn sich ihr Talent voll und ganz entfalten könnte. Edles, stolzes Mädchen!
Kürzlich erhielt sie Nachricht von ihrem Bruder, die sie sehr froh machte. Pfarrer Andreas fängt an, in seinem Vaterlande eine große politische Rolle zu spielen. Er will nächstens kommen, um seine Schwester auf der Bühne zu sehen. Der wird staunen! Ich will für diese Zeit, so gut es geht, die Jungfrau einstudieren lassen; denn als Jungfrau muß er sie sehen. Veronika ist glücklich.
Ich fürchte mich vor diesem Besuch. Er wird doch hoffentlich allein kommen?
Bei Fernow ist Luise.
Die Antwort der Hofbühne ist da; Veronika hat Gastspiel auf Engagement erhalten, gerade wie einst ich, und doch wie so ganz anders als ich. Doch daran denkt man nicht mehr.
Veronika nahm die Nachricht großartig auf. Auch über unsere baldige Trennung scheint sie sehr gelassen zu denken. Dennoch weiß ich, daß sie mich liebt wie niemand auf der Welt, selbst ihren Bruder nicht ausgenommen.
Zwischen uns ist etwas anderes getreten, eigentlich ein reines Nichts – so wenigstens kommt es mir vor. Ich kann es nicht einmal nennen. Sie wird über Nacht berühmt werden, aber niemals glücklich sein. Doch das will sie auch nicht.
Seltsam! Wenn ich an unsern Abschied denke, bleibt es auch in mir ziemlich ruhig. Es ist mir ganz unheimlich. Ich werde doch dem Leben nicht schon so abgestorben sein, daß ich nichts mehr betrauern oder beweinen kann? Ich bin doch noch und scheine nicht nur zu sein?!
Welche Leere in mir, welche Öde!
Wir arbeiteten fleißig an der Jungfrau, Veronika wird herrlich sein. Über ihren dritten Akt war ich heute entzückt und hingerissen. Darin leistete sie das Höchste. Auch in der Szene mit dem Walliser war sie überwältigend, namentlich was das Spiel anbetrifft. Sie ist Zoll für Zoll eine Heldin aus dem Volke. Ihre letzte Szene dagegen ist schlecht. Sie spielt Johannens Tod so unwahr, wie er gedichtet worden.
Und wie schön sie ist!
Über mich nur so viel: Auch ich habe neulich vor einem Parterre von Fürsten gespielt. Es war mir sehr gleichgültig und zwar so sehr, daß ich es mir merken ließ. Dennoch empfing ich alle möglichen Ehrenbezeugungen. Wie lästig!
In der nächsten Woche erwarteten wir den Pfarrer. Ich werde mich darauf vorbereiten; doch das wird kaum nötig sein. Ich brauche mich im Leben nur noch vor einem zu hüten, was mir gefährlich werden kann: das ist das Denken. Wen der Himmel liebt, den bewahre er vor Gedanken.
Da sollte bei Mensch doch lieber gleich ohne Gedanken geboren werden.
Der Pfarrer ist seit einigen Tagen da und wirklich, wirklich – es hat nichts in mir aufgewühlt.
Ich bin immer so schwach. Das empfinde ich auch beim Spiel; für den letzten Akt reicht mein Organ nicht mehr aus. Mit halbem Organ und gar keinen Kräften spiele ich das Stück zu Ende. Aber wie spiele ich es! Ihr solltet sehen, wie sie an meinem Munde hängen, wie sie zittern und schaudern. Und dann der Jubel! Gott mein Gott, dieses Leben ist doch schön!
Die beiden zusammen zu sehen – ich spreche von Veronika und ihrem Bruder – das tut sogar mir wohl. Merkwürdig, daß der Pfarrer mir so gar nichts von seiner Wirksamkeit erzählt. Ich nehme doch gewiß Anteil daran, oder bildet er sich ein, daß dies nicht mehr der Fall sei, daß ich mich so verändert hätte? Welche Täuschung! Ich bin vielleicht etwas müde, das ist alles!
Warum war er so erschrocken, als er mich sah? Warum sprechen die beiden immer heimlich zusammen und verstummen, sobald ich zu ihnen trete? Was ist denn mit mir geschehen! – – Still! Denke daran, nichts denken zu wollen.
Unser Freund hat mich bis jetzt erst einmal spielen sehen und das nicht einmal bis zu Ende: ich wurde nämlich in der Adrienne etwas unwohl und fiel auf der Buhne bewußtlos hin. Das Publikum war sehr erschrocken und verließ lautlos das Haus. Ich glaube, die halbe Stadt hat sich nach meinem Befinden erkundigt; man scheint mich also wirklich gern zu haben. Merkwürdig.
»Wollen Sie sich denn zu Tode spielen?« rief der Pfarrer heute in Verzweiflung aus.
Mich zu Tode spielen – könnte ich das? Mich zu Tode spielen – daran habe ich noch gar nicht gedacht – –
Die Vorstellung der Jungfrau hat stattgefunden. Ich saß in der Loge neben dem Pfarrer. Es war ein merkwürdiger Abend. Veronika spielte göttlich. Der Bruder war bewegt, wie ich ihn nie gesehen. Das Publikum benahm sich besser, als ich erwartet hatte und anerkannte das Genie. So war es denn eine gemeinsame Feier. Nach der Vorstellung sind wir drei noch lange beisammen geblieben. Wie gut sie gegen mich sind. Wie sie mich lieben! Rührend ist mir's zu beobachten, wie unserm Freunde seine Schwester beinahe geweiht erscheint. Er spricht ganz anders zu ihr als sonst, beinahe ehrfurchtsvoll.
Warum redet er nur nie von Fernow? Ich kann ihn doch auch nicht nach ihm fragen. Nun bin ich froh, daß er bald wieder fortgeht.
Morgen hoffe ich wieder auftreten zu können. Dann werde ich auch wieder gesund sein. Unser Freund muß doch Fernow von mir erzählen können. Ich will recht gut spielen, recht in seinem Geiste – –
Ich bin sehr traurig: ich habe gespielt, aber nicht so, wie ich hätte spielen sollen, nicht in seinem Geiste. Mein ganzes Sein ist bei dieser Erkenntnis durchzuckt von Weh, so sehr ich eben noch fähig bin, ein Weh zu empfinden. Es geht viel in mir vor, ich weiß nicht was.
Der Pfarrer ist fort, zu Fernow zurückgekehrt – ich muß bleiben. Veronika verläßt mich in den nächsten Tagen – ich muß bleiben. Ich beginne etwas zu begreifen, etwas Fürchterliches!
Jetzt weiß ich's: ich bin keine Künstlerin mehr, ich bin eine Virtuosin geworden.
Gott steh mir bei, aber ich kann den Jammer nicht länger ertragen. Auch du bist mir genommen, auch dich habe ich hingeworfen, heilige Kunst. Zermalme deine treulose Priesterin!
»Wollen Sie sich denn zu Tode spielen,« fragte mich jener treue Freund. Das will ich; aber schnell, schnell! Hinweg mit dir, du abscheuliches Sein!
Ich studiere die Heldin in Franks Trauerspiel, ich werde sie spielen, ich werde – – Schicksal, ich danke dir, so schön zu enden habe ich nicht verdient! – –
Fernow ist angekommen.
Ich bin angekommen. Da Rolla diese Aufzeichnungen nicht mehr fortsetzen kann, bringe ich sie zu Ende. Das ist bald geschehen.
Ich fand die Unselige in einem entsetzlichen Zustand, vollkommen rettungslos. Ihr wahnsinniges Spiel hatte sie geistig wie körperlich völlig zerstört, ihre Qual war unerträglich. Um sich aufrechtzuerhalten, hatte sie seit längerer Zeit in unglaublichen Quantitäten Opium genommen, unglücklicherweise niemals zu viel. Sie litt namenlos.
Dennoch spielte sie; auch ich vermochte nicht, sie davon abzuhalten.
Als ich kam, war sie in einer unheimlichen Weise in das Studium von Franks Tragödie versenkt, eine Beschäftigung, außer welcher sie nichts mehr vom Leben zu empfinden schien – kaum meine Anwesenheit. Ich versuchte sie von der Unmöglichkeit einer Aufführung jenes ungeheuerlichen Werkes zu überzeugen, mußte jedoch einsehen, daß hier alles verloren sei. Sie schloß sich mit ihrer Rolle, welche das Maß aller menschlichen Kräfte übersteigt, in ihrem Zimmer ein und ließ mich tagelang nicht vor sich. Sie trat nicht auf, um sich für die eine Aufführung vorzubereiten – auszuruhen, wie sie es nannte. Dazwischen nahm sie immer Opium – leider niemals zu viel. Nichts flößte ihr mehr Teilnahme ein, selbst Veronikas aufsehenerregender Erfolg in der Hauptstadt berührte sie nicht. Mit großer Anstrengung schrieb sie ihr einige Worte: »Werde niemals, was ich geworden bin; wenigstens überlebe es nicht. Laß meinen Namen in dem deinen erlöschen. Lebe wohl.«
Wenn sie mit mir sprach, so war es nur über zwei Gegenstände: über ihre neue Rolle und ihr Virtuosentum.
»Du sollst sehen, ich sterbe noch einmal als Künstlerin,« sagte sie dann mit einem stillen Lächeln.
Die grandiose Gestalt schuf sie mit einer Meisterschaft ohnegleichen.
»Ich will ihn unsterblich machen!«
Da ihre Rolle das Drama war, so konnten wir das Stück für die Bühne einrichten. Das geschehen, begannen die Proben, die eine unendliche Arbeit kosteten. Rolla kam nicht von der Bühne fort, nachts studierte sie dann. Und sie lebte noch immer!
Ich führte das Werk in die Öffentlichkeit ein, schrieb über den Autor, über sein Leben und sein Stück. Meine Mitteilungen machten Aufsehen; alle Welt war in Spannung und in Erwartung. So rückte der verhängnisvolle Tag der Aufführung näher und näher.
Schon in den letzten Proben zeigte Rolla sich ihrer kolossalen Aufgabe völlig mächtig. Sie war bewundernswert. Sobald sie nicht sprach, schien sie zusammenbrechen zu müssen. Ich konnte ihren Anblick kaum ertragen.
Welche Proben! Das dämonische Werk versetzte das ganze Personal in Fieber; man erwartete einen Erfolg ohnegleichen.
In den letzten Tagen besprach Rolla die ganze Vergangenheit mit mir. Es war, als ob sie dieselbe aus einem Buche ablese, so klar war sie sich über alles. Sie hatte willig damit abgeschlossen.
Aber wie sie litt! Ohne daß sie es ahnte, belauschte ich sie einmal! Fast kriechend erreichte sie den Ort, wo sie ihre Opiumflasche hatte, trank und konnte dann wieder leben. Ich war feige: ich floh!
Die Tragödie wurde gegeben und – fiel durch. Nur Rollas gewaltiges Spiel verhütete einen Skandal. Sie wußte, daß das Stück verloren war. Im dritten Zwischenakt schwankte sie zu mir hin, umklammerte mich und raunte mir zu: »Ich will es nicht überleben, verstehst du mich: ich will nicht!«
Sie war bereits im Todeskampf; aber ich wußte, daß sie nicht sterben würde, daß sie sich noch länger quälen müsse.
Da entschloß ich mich.
Rolla hatte in der letzten Szene mit ihrem Geliebten – mit Frank! – den Giftbecher zu leeren. Ich begab mich in die Garderobe, nahm das Opiumglas, ließ mir im letzten Zwischenakt von dem Inspizienten den Becher geben, schüttete das ganze Glas hinein und setzte den Becher selbst an die Stelle, von welcher Rolla ihn im Spiel fortzunehmen hatte. Dann wartete ich darauf, daß sie es tat.
Ich stand hinter der dritten Kulisse in unmittelbarer Nähe des Bechers. Der letzte Akt – man hatte nach dem vierten Zeichen des Unwillens gegeben – nahm seinen Anfang.
Nach den ersten Szenen wollten viele das Haus verlassen, denn es war elf Uhr vorüber. Da trat Rolla auf und keiner ging. Sie trug ein weißes Kleid und ein goldenes Stirnband. Ich mußte immer nach dem Schimmer um ihre marmorblasse Stirn blicken. Zuletzt sah ich nichts als Glanz.
Ich kannte jedes Wort ihrer Rolle – näher und näher kam sie ihrem letzten Worte. Ehe ich den Gedanken fassen konnte, war es schon so weit.
Sie ergriff den Becher – sie nahm ihn. – – Da sah sie mich stehen. Einen Augenblick schaute sie zu mir herüber. Dann – den Becher erhebend und mir mit ihm zunickend, trank sie.
Welches Spiel!
Die Tragödie war aus, aber die Schauspielerin konnte nicht vor der jauchzenden Menge erscheinen. Der Regisseur mußte sie entschuldigen.
Ich brachte die Todmüde nach Hause und wachte die ganze Nacht bei ihr. Hätte ich auf ihr Erwachen warten können! Nein, es ist besser so. – – Ich habe sie sehr geliebt.