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Fünfzehntes Kapitel.

Auf der Wasserfallalm

In der Nacht nach dem Begräbnis verschwand Veronika. Von dem Pfarrer angeführt, durchsuchte man das Gebirge nach ihr, ohne sie jedoch zu finden. Auch der Pater wurde vermißt. Um mich nicht unnütz zu ängstigen, verschwieg Fernow mir die Ereignisse; als aber am zweiten Tage vor Einbruch der Nacht Pfarrer Andreas zu Tode erschöpft und aller Fassung beraubt ins Schloß kam, mußte ich die Wahrheit erfahren.

»Eben haben sie die Leiche des Alois gefunden,« berichtete unser Freund mit heiserer Stimme. »Man hat ihn ganz zerschmettert in der Nähe der Sennhütte aus dem Bach gezogen.«

Mich durchzuckte ein entsetzlicher Gedanke.

»Habt Ihr in der Höhle unter dem Wasserfall nach ihr gesucht?«

»Die Höhle unter dem Wasserfall! Was ist das?«

»So weiß ich, wo sie ist!« rief ich aus. »Nur sie und Alois scheinen diesen seltsamen Ort zu kennen und vielleicht – vielleicht noch ein einziger anderer. O, weshalb habt ihr mich schonen wollen?! Aber laßt uns sogleich aufbrechen.«

So schnell ging das nicht, denn Pfarrer Andreas war wie vom Schlage getroffen.

»Nur Veronika und Alois wußten davon, der im Wasserfallbach zerschmettert aufgefundene Alois und – und vielleicht noch ein einziger anderer?«

Er stöhnte auf, er wankte und mußte sich an Fernow anlehnen. Nach einigen Augenblicken erholte, erhob er sich wieder.

»So laßt sie uns suchen!« sagte er stark. »Gott gebe, daß wir sie dort finden, wo sie den Alois herausgezogen haben.«

Ich mußte seinem Gebete beistimmen; aber sagen konnte ich nichts. Nach einer Viertelstunde befanden wir uns bereits unterwegs. Ich beschrieb Pfarrer Andreas die Lage der Grotte.

Eine dunkle, sternenlose Nacht war angebrochen, auch windete es stark. Wir mußten mit Fackeln ziehen, die im Sturm hoch aufloderten und von denen fortwährend Funken in die Schwärze hineingejagt wurden. Wir hatten unsere zuverlässigsten Leute mitgenommen und uns mit Stricken und Hilfsmaterial versehen. Nur ich ritt. Fernow schritt an meiner Seite, der Pfarrer war uns allen weit voraus. Von Zeit zu Zeit sahen wir ihn, seine Fackel hochhaltend, in greller Beleuchtung. Dann verschwand er wieder hinter den Felsblocken, welche über ihm im Feuerschein erglühten. Auf unser Rufen antwortete er nicht.

Wenn jetzt mit der Seele dieses Mannes ein Geist rang, so war es sicher ein Dämon.

Je höher wir kamen, desto stärker ward der Sturm, Der wilde Weg schien kein Ende zu nehmen. Jeder Schritt vorwärts, mußte zuerst mit der Fackel beleuchtet werden. Mehr als einmal riß Fernow mein Tier vom Abgrund zurück. Der Pfarrer war unseren Augen entschwunden. Immer heftiger ward meine Angst, immer vorsichtiger mußten wir empordringen. Als wir durch das Felsentor die Alpenwiese erreichten, hörten wir es im Tal in dumpfen Schlägen Mitternacht läuten.

Auch hier war nichts von dem Pfarrer zu sehen.

Fernow verbot das Rufen und empfahl uns die größeste Ruhe. Doch hätte ich fast laut aufgejubelt, als ich in der Ferne, hoch über dem Tannenwald schwebend, unmittelbar am Rand des Wasserfalls, dessen Gischt geisterhaft die Nacht durchleuchtete, einen schwachen Schein aufglühen sah: die Fackel des Pfarrers.

Bei der verschlossenen Alphütte mußten wir über den Bach. Scheu deuteten unsere Leute auf eine dunkle Masse, die neben dem Wasser unweit des Pfades lag. Ich konnte nichts anderes als zusammengehäufte Tannenzweige erkennen; aber an der Gebärde Fernows, mit der er uns vorüber trieb, erriet ich, was darunter lag.

Das Gebet des Pfarrers war bis jetzt noch nicht in Erfüllung gegangen.

Mühsam drangen wir durch die Tannen vorwärts. Über uns rauschten die sturmbewegten Wipfel wie Meereswogen; darunter war es ruhig, fast unbeweglich.

Glühende Bilder tauchten vor uns auf und versanken wieder ins Dunkel. Der Donner des Wasserfalls war uns bereits ganz nahe. Zu seinem Rand hingelangt, ging es von neuem an das Aufwärtsklimmen. Ich mußte vom Maultier absteigen, bei dem einer der Leute zurückblieb. Nun hieß es für das letzte schwierigste Ende die letzten Kräfte aufraffen.

Pfarrer Andreas mußte die Höhle gefunden haben. Ringsum war es dunkel.

Fernow ging den grausigen Pfad voran, seine Fackel hoch über sich haltend. Ich hielt mich dicht hinter ihm. Unaufhörlich wurden wir von dem Staubgeriesel des Falles benetzt, dessen Wasser zu unseren Füßen wirbelten und kochten. Wenn der Sturm den Sprühregen völlig nach unserer Seite hingetrieben, hätten unsere Fackeln erlöschen müssen und der gefährliche Weg wäre unmöglich zu unternehmen gewesen.

Wir hatten uns der Stelle genähert, an der der Pfad aufhörte. Hier war es, wo Fernow plötzlich stehenblieb, lauschte, uns stumm zuwinkte, zurückzubleiben und dann allein vorwärts schritt. Meinen lauten Ruf: um Gottes willen vorsichtig zu gehen, da hier jeder Schritt todbringend sei, schien er nicht zu hören.

Nach einigen, in höchster Angst verbrachten Augenblicken sahen wir ihn von neuem stehenbleiben, sich herabbeugen, mit der Fackel eine dunkle Gestalt beleuchten, die dort neben dem Abgrund niedergesunken war. Fast besinnungslos stürzte ich vor, zu Fernow hin. Wie fuhr ich zurück, als ich den Pater erkannte.

»Ist er tot?«

»Nur bewußtlos. Er hat in einem Kampf um Leben und Tod eine tiefe Wunde empfangen.«

»Von dem Pfarrer?«

»Das ist unmöglich. Der Blutung nach zu urteilen, muß der Mann schon lange hier liegen, vielleicht schon volle zwei Tage. Es ist ein Wunder, daß er sich nicht verblutet hat; denn dieser Verband, den er sich selbst angelegt haben muß, konnte kaum schützen.«

»Das ist gräßlich! Aber um Gottes willen, wo mag der Pfarrer sein?«

Da stand er vor uns, mitten im Eingang der Höhle.

»Sie ist dort drinnen,« sagte er und keine Miene in seinem Gesicht zuckte, »und sie lebt. Aber sie ist dem Verschmachten nahe. Schnell etwas Wein oder sie stirbt.«

Fernow wollte hinein, aber der Pfarrer wies ihn zurück.

»Spenden Sie diesem Ihre Hilfe und wenn Sie können, retten Sie ihn. – Folgen Sie mir, liebe Freundin.«

Er nahm mir den Krug mit Wein ab, ergriff meine Hand und zog mich sich nach, tief in den Hintergrund der Höhle hinein. Dort hatte er die Fackel zwischen zwei Felsen eingeklemmt; weiterhin, wo ihr blendendes Licht nicht mehr hinfiel, lehnte Veronika gegen das Gestein, das Gesicht darauf gedrückt.

Der Pfarrer faßte meinen Arm, daß es mich schmerzte, und raunte mir zu: »Vielleicht sagt sie einer Frau, was sie einem Manne nicht sagen kann und dann – dann – Gehen Sie zu ihr!«

Er ließ meinen Arm fahren und trat von mir hinweg. Ich hörte, wie er sich entfernte. Dann begab ich mich zu Veronika.

Sie war zu schwach, sich bewegen oder reden zu können: aber sie schlug die Augen auf, um sie indessen sofort wieder zu schließen. Doch mußte sie mich erkannt haben. Wie eine Sterbende sah sie aus.

Ich wollte ihr Wein einflößen. Sie preßte jedoch Lippen und Zähne so fest zusammen, daß es unmöglich war. Alle meine Bitten, Vorstellungen, Beschwörungen zeigten sich als vollkommen nutzlos. Da verließ ich sie in meiner Angst und suchte ihren Bruder, den ich bei der Felsenspalte fand, regungslos in die Strudel starrend, die über ihn hinwegbrausten. Ich führte ihn fort, in die Höhle zurück, damit er mich verstehen könne.

»Gehen Sie mit mir zu ihr und rufen Sie einigemal ihren Namen; weiter sagen Sie nichts.«

»Stirbt sie?!«

»Sie wird leben bleiben.«

Ich schritt vor, als ich mich von dem Pfarrer zurückgehalten fühlte.

»Vielleicht wäre es besser, wir zwängen sie nicht, Wein zu trinken; vielleicht – –«

»Kommen Sie zu Ihrer Schwester.«

Er folgte mir zu ihr hin, warf sich neben ihr nieder, faßte ihre beiden Hände und rief sie an: »Veronika! Veronika!«

Die Wirkung dieser Stimme war mächtig. Ein Schauer durchlief ihren ganzen Leib, dann – wir warteten mit Todesangst – dann öffnete sie die Lippen und schlürfte den ihr gebotenen Wein; zuerst nur tropfenweise, zuletzt ganz gierig.

Noch immer auf den Knien, sah der Pfarrer ihr zu, mit dem Ausdruck höchsten Entzückens, als nähme Veronika das Abendmahl.

»Jetzt dürfen wir ihr ohne Fernow nichts mehr geben,« flüsterte ich ihm zu.

Sie hatte mich gehört und machte eine angstvoll abwehrende Bewegung. Aber ihr Bruder rief sie wieder an: »Veronika! Veronika!«

Da seufzte sie tief auf und schien sich zu ergeben. Ihr Bruder wollte aufstehen, Fernow zu rufen; ich bedeutete ihm, daß ich das tun werde.

Gerade als ich die Höhle verlassen wollte, kam mir Fernow mit den Leuten entgegen, die den Pater trugen.

»Bleibt! Nicht hier hinein!« rief ich unwillkürlich.

Die Leute standen still.

»Tragt ihn hinein und legt ihn sanft nieder,« gebot Fernow. Dann wandte er sich zu mir.

»Wie geht es ihr?« fragte er mich leise.

Ich sagte es ihm und auch daß ich ihn hätte holen wollen. Als wir uns anschickten, uns zu entfernen, hörten wir den Pater schrecklich aufstöhnen. Fernow ging schnell zu ihm und kam sogleich wieder zurück.

»Er wünscht Sie zu sehen, liebe Rolla.«

»Wird er leben bleiben?« fragte ich Fernow, indem ich mich mit ihm zu dem Verwundeten hinbegab.

»Das ist schwer zu sagen. Der Mann hat eine mächtige Natur. Als ich ihn aufheben ließ, war er bei vollem Bewußtsein; dennoch, obgleich er geradezu Qualen ausstehen muß, tat er keinen Laut. Sehen Sie nur!«

Es war ein furchtbarer Anblick. Von dem wilden Schein der Fackel umloht, sah ich einen mit geronnenem Blut überzogenen Körper bei meinem Nahen sich aufrichten, ein verzerrtes, völlig farbloses Antlitz sich erheben. Aber die Augen, die mich ansahen, waren voll Bewußtsein und glühten in einer unheimlichen Leuchtkraft. Der schreckliche Mensch bedeutete mir, ganz nahe zu ihm hinzutreten und mich zu ihm herabzubeugen. Mein Grausen überwindend, gehorchte ich.

»Sagen Sie ihr,« röchelte er, »ich befehle ihr, hören Sie wohl: ich befehle ihr, zu leben. Sie gehört mir.«

Damit sank er zurück, um sich zugleich noch einmal aufzurichten, mir mit seinen Blicken seine Worte wiederholend. Schaudernd wich ich, floh ich.

»Was hat er Ihnen gesagt? Sie sind totenblaß. Sie zittern.«

Ich schüttelte abwehrend den Kopf.

»Schnell zu dem unglücklichen Mädchen!«

Ich fand den Pfarrer wie ich ihn verlassen, Veronika hatte ihre Lage etwas verändert. Ihr Bruder hielt noch immer ihre beiden Hände.

»Sie hat meine Hand küssen wollen,« flüsterte er uns mit erstickter Stimme zu.

Veronika mußte ihn verstanden haben, denn sie wiederholte ihren Versuch, wobei sie tief aufseufzte.

Nach einer Stunde war sie zu voller Besinnung gekommen und lehnte halb aufgerichtet in ihres Bruders Armen. Fernow, der zwischen dem Mädchen und dem Pater ab und zu ging, betrieb den Rückweg, für welchen unsere Leute zwei rohe Bahren, die mit Tannenreisein und Decken belegt waren, vorbereitet hatten. Der Pater sollte nur bis zur Sennhütte gebracht werden, da jeder weitere Transport ihm sicher das Leben gekostet hätte. Schon bis zur Alm hinunter war die Gefahr für ihn groß; aber Fernow bestand darauf, ihn aus der Luft der Höhle hinwegzuschaffen. Doch sollten die Leute zuerst mit Veronika fort, unterdessen wollte Fernow allein bei dem Verwundeten bleiben.«

Wir mußten mit dem Mädchen dicht an seinem Lager vorüber und nicht einmal, daß wir die Fackeln hätten auslöschen oder ihr sonst seinen Anblick entziehen können. Fernow wußte Rat. Die kalte Morgenluft, die bereits am Ausgang der Höhle zu wehen begann, durfte ihr nicht ins Gesicht schlagen. So legte ich denn ein leichtes Tuch über sie.

Sorgsam wurde sie auf die Bahre gehoben und davongetragen. Ich bat Fernow und den Pfarrer, mit mir auf die Seite zu gehen, wo der Pater lag. Ihr Bruder hielt nach wie vor ihre Hand. Je mehr wir uns dem Verwundeten näherten, desto heftiger ward meine Unruhe. Ich sollte recht haben: alle unsere Vorsicht erwies sich als nutzlos. Gerade als wir sie an ihm vorübertragen wollten, rief er sie an: »Veronika! Veronika!«

Welche Stimme – welche Wirkung!

Sie entriß Pfarrer Andreas ihre Hand und sie, die bis dahin völlig kraftlos gewesen, richtete sich mit einem jähen Ruck in die Höhe. Ihre Augen starrten wild um sich.

»Rascher!« gebot Fernow den Leuten.

»Veronika! Veronika!« wurde uns nachgerufen, zornig, wie eine Verwünschung.

Mit einem Schrei sank sie bewußtlos zurück.

Im Morgengrauen stiegen wir bis zur Alpenhütte nieder, dort mußten die Männer ausruhen. Als wir das Felsentor passierten, ward es Tag. Die ganze Alpenkette lag vor uns mit rosig erglühenden Gipfeln, darüber sich ein tiefblauer Himmel spannte. Drei Stunden später langten wir im Tal an. Im Dorf standen alle Bewohner versammelt; aber nur Schweigen und finstere Blicke empfingen die Schwester des Pfarrers. Dieser trug die Wiedergefundene hochaufgelichteten Hauptes in sein Haus.

Als man im Dorfe hörte, daß auch der Pater gefunden worden und wie er gefunden, widerhallte die Straße vom Jammergeschrei der Frauen. Niemand hatte eine Ahnung davon, was vorgefallen, aber jeder hielt den Alois auch dieser Bluttat schuldig, Veronikas Name wurde nur mit Verwünschungen genannt, obgleich kein Mensch einen Begriff davon hatte, welche Rolle sie in der Tragödie gespielt. Am unheimlichsten gebürdeten sich die Eltern Augustins, die Verwundung des Paters mehr bejammernd als den Tod ihres einzigen, blühenden Sohnes. Am Mittag zog das halbe Dorf auf die Wasserfallwiese. Unterwegs begegneten den Zügen die Träger mit der Leiche des Alois. Kaum daß die Männer diese vor den Mißhandlungen des Volkes zu schützen vermochten. Des Toten alte Mutter, die neben der Bahre hinschlich, mußte mit ihrem Körper den Sohn schützen. Man hätte auch sie am liebsten gesteinigt.

Fernow erzählte, daß der Pater bei seinem Eintreffen bei der Sennhütte von den Dorfleuten empfangen worden wäre. Unter dem Wehklagen aller habe er den Verwundeten in dem Blockhause niederlegen lassen; kaum daß seine Leute vor dem Andrang des Volkes hätten die Tür geschlossen halten können. Die meisten seien während der Nacht oben geblieben.

Pfarrer Andreas ließ die Leiche des Alois noch spät abends in geweihter Erde begraben. Bereits einige Stunden nachher wurde sie von dem Volk herausgewühlt, im Triumphzug unter Gejohl bei dem Pfarrhaus vorüber getragen und in den Fluß geworfen.

Sobald der Zustand des Paters es erlaubte, ließen Augustins Eltern ihn in ihr Haus transportieren. Nur mit Widerstreben und geheimem Haß ward Fernow in Ermanglung eines anderen Arztes die Behandlung des Kranken gestattet. Veronika ging wieder umher, über die Ereignisse in der Höhle kam kein Wort über ihre Lippen.


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