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Wie ein Kind lernte ich wieder leben, Fernow lehrte es mich. Seine Hand führte mich in das neue Dasein ein. Ich brauchte ihn nicht zu fragen: nicht wahr, du warst immer bei mir? Wie ich auch, ohne dah er mir's gesagt hatte, wußte, wo er immer bei mir gewesen: in jenem Hause, das meinen Namen trug, als dessen erster Bewohner ich eingezogen. Wie viele Jahre mag das her sein?
Allmählich erriet ich, wo ich mich befand. Wie die Bilder eines alten, lang ausgeträumten Traumes stieg es vor meinen inneren Augen auf. Ich sah zwei Menschen, die sich liebten, die mit ihrem Glück den Neid der Götter erregen wollten. Die Welt kennend, wollten sie aus der Welt flüchten. Ein einsames Alpental sollte die beiden Glücklichen aufnehmen. Dort wollten sie sich ein Haus bauen, dort wollten sie leben, wie es sterblichen Menschen nicht beschieden ist, wie es das Schicksal nicht zuläßt. Das Haus war gebaut worden – wo aber waren die beiden glücklichen Menschen?
Fernow konnte mich bald viel allein lassen. Er hatte sich eine Tätigkeit gebildet, die ganz war wie der Mann: aufopfernd, voller steter Selbstverleugnung. Weit und breit gab es keinen Arzt: denn die nächste Stadt lag entfernt und die Gegend ringsum war die ärmste des Landes. Der größte Teil des Tales bestand aus Sumpf und Moor. Das Felsengebirge trug kaum Weideplätze genug, um kümmerlich einige Herden zu ernähren. Die Felder, die in der Nähe des Stromes lagen, wurden regelmäßig alle Frühjahr durch Überschwemmungen verwüstet. In Hütten, die der langen, kalten Winter wegen Höhlen glichen, hausten die Menschen eng beieinander. Überall Mangel und Not, Krankheit und Armut; überall mußte geholfen werden.
Das war die Tätigkeit, die in überquellender Lebenskraft ein anderer für sich gewünscht hatte und welche Fernow ganz in demselben Sinn, in dem er in diesem Tal unser Haus gebaut, sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte. Die Straße, die das Tal durchschnitt und dieses mit dem nächsten größeren Orte verband, war sein erstes segensreiches Werk. Ablenkung und Abdämmung der vielen Wildwasser und des Flusses ward begonnen; für Moor und Sumpf Abzugskanäle und Drainierungen in Aussicht genommen.
So hoffte man gutes Ackerland und fruchtbare Wiesen zu gewinnen. Das Gebirge sollte von neuem mit Kiefern- und Tannenschlägen bepflanzt werden. Wohin man sah, regte sich neues Leben, welches in der Folge aus einer Wildnis einen Garten machen konnte, Hunderte von Menschen ernährend und zu einem edleren Dasein erziehend.
Fernow legte mir alle seine Pläne vor, besprach und beriet alles mit mir. Das waren glückliche Stunden! Wieder erhielt ich aus seiner Hand ein kostbares Geschenk: die Arbeit. Ich sollte ihm in allem helfen, in allem seine Gefährtin sein. Übrigens fand ich seine ganze große Tätigkeit bereits völlig organisiert. Er hatte zu seiner Hilfe tüchtige Leute berufen: Landwirte, Ingenieure, Förster. Für mich war ein bestimmter Teil vorbehalten worden: die Schule. Fernow hatte unter dem Volke ein merkwürdiges Talent zum Zeichnen und Schnitzen entdeckt und baute darauf die schönsten Hoffnungen. Beide Fähigkeiten sollten entwickelt und ausgebildet werden. Eine Mädchenschule sollte direkt unter meiner Aufsicht stehen und ihr im Schlosse selbst einige Zimmer eingeräumt werden. Die Mittel zu allen diesen Anstalten gewährte mir der Verkauf meines fürstlichen Witwensitzes. Wie dankbar war ich jetzt für Güter, die ich sonst so gering geschätzt.
Mit jedem Tage ward ich der Welt mehr und mehr zurückgegeben, mit jedem Tage erkannte ich mit tieferer Erschütterung, wie viel mir noch immer übriggeblieben. Man soll uns Frauen doch nicht arm nennen, wenn wir das verloren haben, was man gewöhnlich als unsern Lebenszweck bezeichnet, als unsern Reichtum, als jene hohe Aufgabe, die zu erfüllen wir geboren werden. Wie können wir darben, wo das Leben so reich ist, so reich an Tätigkeit. Und kann man sich die Tätigkeit ohne Glück denken? Ist nicht die Tätigkeit, die in dem Beruf der Frau liegt, so unerschöpflich, so weit und grenzenlos, daß der Mann, der überall der Gedanke ist, wo wir nur die Empfindung, uns um unsere Überfülle schöner und großer Lebensart beneiden könnte? Nicht wenn man uns unsere Liebe nimmt, sind wir Frauen verlorene Geschöpfe – wir werden das erst mit dem Verlust unserer Arbeit.
Allmählich lerne ich die Menschen kennen, die außer uns in der Einsamkeit hausen; zuerst freilich nur aus den Schilderungen des Freundes.
Da sind vor allem der Pfarrer und seine junge Schwester. Der geistliche Herr ist eines Bauern Sohn aus der Gegend. Als Gaisbub wuchs der Knabe in seinen wilden Bergen auf. Wochenlang sah er oft keinen Menschen. Seine Eltern wollten ihn auch des Winters nicht in die Schule schicken, weil er dem Vater helfen mußte, aus Fichtenholz rohe Kruzifixe und Heiligenbilder zu schnitzen. Jeden der guten Heiligen, denen der Knabe Gestalt und Antlitz verlieh, flehte er inbrünstig an, ihn lesen und schreiben lernen zu lassen. Eine Zeitlang legte sich der kleine Andreas jeden Abend in der festen Überzeugung zu Bett, daß er, wenn er am anderen Morgen aufwachte, werde lesen und schreiben können, wie der hochwürdige Herr Pfarrer selbst. Als das sicher erwartete Wunder sich niemals erfüllte, ward der Knabe vor Kummer fast krank. Er glaubte, die guten Heiligen seien ihm böse, weil er die ganze Zeit über, während er sie nachbildete, sich nach dem Sommer sehnte, nach seinen Bergen, seinen Ziegen, seiner Einsamkeit. Er versuchte, die Erzürnten dadurch zu versöhnen, daß er ihre Gewänder recht schön blau, rot und gelb anstrich; aber sie blieben nach wie vor taub für seine Bitten. Einmal verstieg sich ein vorwitziges Zicklein. Andreas suchte es und kletterte dem entlaufenen Tiere auf einer Felsenwand nach, von welcher weder er noch das Zicklein wieder herunter konnten. Niemand hörte sein verzweifeltes Rufen. Andreas kannte seine Berge. Er wußte, daß sich an diesem Ort selten eines Menschen Fuß verirrte, daß er hier, auch wenn man ihn suchte, nicht gefunden werden würde. Er wußte, daß er sterben mußte, verhungern, verschmachten. Während das Zicklein ganz vergnügt die saftigen Kräuter abweidete, die in den Felsspalten wucherten, bereitete sich der Knabe auf den Tod vor. Von der Welt wußte er nicht viel mehr, als daß es darin Gebirge, Ziegen und arme Gaisbuben gab, die gar zu gern Lesen und Schreiben gelernt hätten. Der letzte ungestillte heiße Wunsch genügte, um ihm den Abschied von der Welt schwer zu machen. Seine Eltern waren harte, kalte Menschen. Lieb hatte den einsamen Jungen nur sein kleines Schwesterchen, ein Kind mit schwarzen krausen Haaren und einem seinen, blassen Gesichtchen, darin die großen, dunklen Augen, bald in ausgelassener Lebenslust, bald in tiefer Schwermut erstrahlten.
Und wie sie ihre Gebete hersagte!
Daran dachte der verlassene Knabe und fing darüber selbst an, mit lauter Stimme zu beten. Es war der zweite Tag und die Kräfte des Kleinen waren erschöpft. Nur wenige Stunden hatte er schlafen können. Die ganze übrige Zeit kauerte er auf seiner schmalen Klippe über dem Abgrund und starrte über die Tiefe hinweg nach den Felsenhäuptern und grasigen Berglehnen hinüber, über die er mit seiner Ziegenherde so oft frei dahingeschritten war. Adler und Falken flogen an seinem Felsen vorüber, über ihm sangen die Bergfinken und er konnte kein Glied rühren. Oder wenn er es gewagt und nur einen Schritt vorwärts getan, so wäre er hinuntergestürzt. Dicht neben ihm wuchs alles voll Edelweiß. Das hatte es besser als er! Ein wunderliches Gefühl überkam den Knaben: der Mensch schien ihm weit weniger unter Gottes Hand zu stehen, als Tiere und Blumen. Das machte ihn unsäglich traurig. Nachts sah er den Sternen zu, wie sie strahlend über den grauen Massen auftauchten, gerade als sprängen sie aus dem Gestein hervor. Glanzvoll glitten sie die dunkle Himmelsbahn dahin und tauchten flimmernd wieder hinter den Alpen unter. Das verlassene Kind stellte sich vor, daß liebliche Engel dahinschwebten, jedes ein Kerzlein tragend, welches sie sich an dem großen Sonnenlicht angesteckt hatten, um damit dem lieben Herrgott zu Bette zu leuchten. Er freute sich darauf, daß er auch bald dazu gehören werde und suchte sich schon am Himmel den Weg aus, den er mit seinem Lichtlein ziehen wollte: an den hohen Sänten herauf, über seiner Ziegenweide und beim Tale, darin seine Eltern wohnten, wieder herunter. Andreas nahm sich vor, Gott recht herzlich zu bitten, die Menschen ebenso liebzuhaben wie Vögel und Blumen und allen Gaisbuben das Lesen und Schreiben lernen zu lassen. Darauf verfiel er in neue Ermattung. Das Zicklein, das alle Kräuter, zu denen es hingelangen konnte, abgefressen hatte, schmiegte sich angstvoll an seinen treuen Hirten an. Dieser träumte: er glitte Hand in Hand mit seiner kleinen Schwester, von weißen Flügeln getragen, pfeilschnell durch die Sterne dahin.
Kalte Morgenluft erweckte den Knaben. Er konnte sich vor Schwäche kaum bewegen, aber es tat ihm nicht mehr weh. Noch vermochte er, wie er's jeden Morgen gewohnt war, hinzuknien, seine Hände zu falten und sein Gebet zu sagen, darin er die Heiligen bat, ihn und seine lieben Gaisen vor Gefahr zu behüten. Das Zicklein, das jämmerlich meckerte; umschloß er mit beiden Armen. So fanden ihn einige Stunden später, bewußtlos an der Felswand lehnend, die Männer, die zwei Tage nach dem Verlorenen gesucht.
Dies Ereignis hatte große Folgen für den Knaben. Seine geängstigten Eltern hatten das Gelöbnis getan: wenn der Himmel ihnen den Sohn wiederschenke, diesen Gott und den Heiligen zum Opfer bringen zu wollen. So ward aus dem Hirtenbuben ein Priester: ein Mann, der nicht nur Gottes Wort las und predigte, sondern lebte. Er blieb ein Sohn der Alpen, dessen Herz krank war vor Heimweh, wenn er im Frühling den Donner der Lawinen und an fröhlichen Sommerabenden die Schalmeien der Hirtenknaben nicht hören konnte. Wild und öde wie sein Heimatstal war, liebte er es mit aller Leidenschaft eines starken Gemütes. Ebenso tief war seine Liebe zu seinem Volk gewurzelt, dessen rauhe Tugenden er kannte wie die Schönheit seiner Berge; dessen Dumpfheit und Unwissenheit, dessen Armut und Leiden ihn schmerzten und quälten, wie die rohen Naturgewalten, die so schrankenlos über das Tal die Herrschaft führten und für die er auch keine Abhilfe hatte. Er war stark im Mitleiden, das bei ihm zum Mithandeln wurde, sobald er nur konnte. Dies sagt, welchen Freund, welchen Helfer Fernow in ihm gefunden.
Auch das muß ich noch über diesen Mann mitteilen.
Der Hauch der freien Natur weht mit dem kräftigen Atemzug der Alpen durch seinen Gottesglauben, den der Knabe am Rande des Abgrundes – am Rande eines Grabes – rein und unentweiht empfangen hatte. Wenn er seiner kleinen Gemeinde predigt, tönt seine Stimme so mächtig, sind seine Worte so einfach und kräftig, als stünde er auf freier Bergeshöhe. Nächstenliebe ist erstes Gebot. Dafür wird er von dem bigotten, fanatisch erregten Volk, trotzdem er daraus hervorgegangen, mit Mißtrauen betrachtet.
Seine Schwester Veronika muß nach Fernows Beschreibung ein eigentümliches Mädchen sein, mit etwas Verstecktem, Geheimnisvollem und Unergründlichem in ihrem Wesen. Dabei ist sie sehr schön, eine Gestalt, die wie eine Königin unter dem verkümmerten, armseligen Volke einherschreitet. Ihren Bruder liebt sie schwärmerisch. Sie ist streng katholisch. Fernow hat sie einmal laut beten hören und ist von dem Ton ihrer Stimme, von der unterdrückten Leidenschaft ihres Gebetes tief ergriffen worden. Unter den Talleuten lebt sie ohne Freundin, ohne Kameradin, in stolzer Abgeschlossenheit.
Einen unheimlichen Eindruck macht auf mich eine dritte Gestalt, die das Pfarrhaus bewohnt. Es ist dies ein junger Jesuitenpater, welcher dem Pfarrer Andreas zur Beihilfe im Amt zugeteilt worden. Der Pater ist ein Fanatiker und gilt daher bei dem Volk mehr als der Geistliche selbst. Das Verhältnis der beiden Männer kann bei so verschiedener Sinnesart kein freundliches sein. Fernow fürchtet ein schlimmes Ende. Der asketische, leidenschaftliche Priester scheint über die freie, stolze Seele des Mädchens eine Gewalt auszuüben, gegen welche diese sich vergebens zu wehren sucht.
Bald sollte ich diese drei Menschen persönlich kennen lernen.
Ich weiß jetzt, daß Fernow mich für völlig geheilt hält; aber er wünscht die langsamste Gewöhnung an meine Umgebung und die Menschen. Da meine Teilnahme für beides mit jedem Tag mehr und mehr wachst, fällt mir dieses Zurückhalten schwer. Während des langen Schlafes, darin meine Seele gelegen, konnte so vieles in mir ausruhen; ja mir ist, als seien meine Kräfte gewachsen, als seien neue hinzugekommen. Ich muß an den Acker denken, der Jahre hindurch brach gelegen und den nun die Pflugschar für die neue Saat bestellen soll: wenn der Himmel seinen Segen gibt, kann die Ernte köstlich werden.
Ganz wunderbar erscheint mir, wie der Freund wieder das Rechte für mich getroffen. Heute haben wir beide darüber gesprochen; es hat mich nicht einmal so sehr erregt, obgleich Fernow sich deswegen Sorge machte. Mit derselben Ruhe, mit der wir es uns sagten, will ich es hinschreiben.
Frank ist fort und wird nicht wiederkommen. Ein Jahr nach der Katastrophe verließ er Europa mit demselben Schiffe, welches Fernow nach Australien bringen sollte. Als ein Pfadfinder für Nachkommende ist er dort in die Wildnis gedrungen. Ob er Wege gefunden und Wege gebahnt hat, wissen wir nicht. Ein Mensch wie er, muß Spuren zurücklassen. Freilich können es Spuren der Zerstörung sein. Er hat mehreremal an Fernow geschrieben und dieser an ihn: kurze Notizen mit Nachrichten über mich, die Fernow damals für unheilbar hielt. Auf sein letztes Schreiben erfolgte keine Antwort; beide halten wir ihn für tot. Unter welchen Riesenbäumen der Wildnis mag sein Grab liegen, welche Hand es ihm geschaufelt haben? Wenn ich sie kennte, würde ich die Welt durchwandern, um sie in der meinen zu halten und sie an meine Lippen zu drücken.
Fernow versprach, mir später seine Briefe zu geben – später. Er ist tot! Wie kann er das, da ich ihn so ewig lebendig in meinem Herzen trage? Solange der Mensch geliebt wird, stirbt er nicht.
Daß ich in diesem Hause so ganz in ihm lebe, das ist es, was ich als meine vollständige Heilung, als meine Rettung bezeichnen möchte. Und wiederum ist es Fernow, der sie vollbracht. Von seinen vielen gewagten Experimenten war dieses vielleicht das gewagteste: aber es ist ihm gelungen. In jedem Gegenstand besitze ich hier den Verlorenen lebendig; denn jeder Gegenstand bedeutet mir einen seiner lebendigen Gedanken. Der schöne, phantastische Bau ist durchaus nach seinen Plänen ausgeführt worden. Überall umgibt mich sein Geist, überall befinde ich mich in seiner Gegenwart. Wie durchschauert es mich, wenn ich allein schon an der Einrichtung meines Zimmers seine Liebe erkenne. Dieser dunkelfarbige Holzplafond, diese silbergrauen Bekleidungen der Wände, diese vornehme mattgelbe Farbe der Vorhänge und Möbelstoffe, das ist alles ganz in meinem – nein, ganz in seinem Sinne gedacht. Und nun gar die Kunstwerke, mit denen er mein liebes Gemach geschmückt! In der Mitte des Plafonds schwebt Raffaels Psyche zur Wiedervereinigung mit den Geliebten in den leuchtenden Himmel hinein. Wenn ich zu der wundersamen Gestalt aufblicke, so überkommt meine Seele etwas von Psychens stiller Verzückung: sie soll ihn wiedersehen, soll ihn besitzen in ewiger Vermählung. Glückselig, wer da glaubt; wer da glauben kann! Aber auch so ist es schön.
An der einen Wand befindet sich eine Kopie von Guidos Aurora. Wie leicht und befreit wird mir zumute, wenn ich diese ewig heitern, unsterblichen Gestalten betrachte! Wie scheint es von den Lichtfluten, die das Haupt des Sonnenjünglings umwogen, in meine Seele zu dringen! Ein einziges Marmorbild leistet mir Gesellschaft: Donatellos heilige Cäcilie. Nur in der leichten Neigung ihres schönen Hauptes, nur an der leisen Biegung ihres schlanken Halses erkennt man, daß sie spielt. Aber mir ist, als höre ich sie. Welche himmlischen Melodien! O Kunst, göttliche Kunst!
Aber diese Bücher sind mir von seiner Hand hingelegt worden. Wenn ich sie aufschlage, lese ich mit ihm zusammen: Goethes Lieder, Byrons Kain, die Odyssee. Aber welche andere Hand hat mir meine lieben Meister genommen, meine herrliche Penthesilea, meine süße Julia – Faust.
Sollen das auch lauter verklungene Namen für mich sein? Soll ich nie wieder erleben, was ich doch geschaffen habe, was ich doch bin? Sind alle Saiten gesprungen, als in meinem Kopf etwas zerriß, als die fürchterliche Nacht mich umfing?! O mein Arzt, wie soll deine Gerettete leben mit ihrer toten Kunst in der Seele?!
Heute stellte Fernow mir den Pfarrer vor. Er ist ganz so, wie ich ihn mir dachte: ein prächtiger Mensch! Er ist noch jung. Die Falten seines geistlichen Gewandes können nicht verbergen, daß in diesem Kleide ein Sohn der Berge steckt. Kräftig und edel wie seine Gestalt ist sein Gesicht, sind seine Bewegungen, seine Worte, seine Gedanken. Er hat des Tirolers hellblondes, reichgelocktes Haar, darin ich mit immer neuem Erstaunen die geschorene Stelle betrachten mußte. Gleich bei unserm ersten Gespräch bemerkte ich, wie seine hellen, blauen Augen leidenschaftlich, in fast düsterem Feuer aufleuchten können. Doch ist das nur ein Augenblick.
Er trat mir auf das unbefangenste entgegen wie ein alter Bekannter und bewegte sich in den ihm ungewohnten Räumen in einer Weise, die ich vornehm nennen möchte. Nach einigen Augenblicken saßen wir schon in eifrigem Gespräch zusammen, darin sogleich das erörtert wurde, was uns allen dreien gleich sehr am Herzen lag. Einfach und klar setzte Pfarrer Andreas mir die Verhältnisse des Tales auseinander, wie Fernow sie vorgefunden, wie sie jetzt waren, wie sie werden konnten und mußten. Es war viel getan worden, aber nicht genug. Zahlreiche Schwierigkeiten mußten überwunden werden, bevor man von einem großen Resultate sprechen durfte. Doch das war ja eben die Arbeit! Ernster erschienen andere Hindernisse, die sich unserer gemeinsamen Tätigkeit entgegenstellten. Mit den Ausbrüchen einer wilden Natur hofften wir den Kampf aufnehmen zu können, weniger sicher durften wir unserer Sache bei den Menschen sein und das gerade bei denen, welchen wir Hilfe leisten wollten. Seltsam! Kahle Felsen in Wiese und Wald zu verwandeln, Moor und Sumpf in Acker und Garten – so viel Wunderbares ließ sich durch starkes Wollen vollbringen. Aber das trotzige Gemüt eines in Unwissenheit und Aberglauben verwilderten Bauernstammes für eine höhere Kultur zu gewinnen, für solches Werk war aller guter Wille zu schwach. Wir konnten neue Flußbette graben, Ströme zwischen Dämme einzwängen, über Wildwasser Brücken schlagen, jedoch zu den Herzen des Volkes, für welches alles dies geschah, zu gelangen, seinem Fanatismus Grenzen zu setzen, seinen trotzigen Sinn für Verbesserungen seiner elenden Lage zu beugen, das stand nicht in unserer Gewalt.
Ich erkannte die Seelenqual des Mannes, der mir das von einem Volke sagen mußte, dem er selbst angehörte. So sehr er sich auch bezwang, sah ich's in ihm wühlen und verstand sofort, dah dieser Schmerz um sein Volk, das Erkennen seiner Hilflosigkeit, das große Unglück sei, dem dieses starke Gemüt keinen Bibeltrost entgegensetzen konnte. Und aus welcher Quelle kam dieses Unheil? Mit bebenden Lippen mußte er selbst es uns gestehen: aus der Religion, aus derselben Religion, deren gläubiger Sohn und begeisterter Priester er war. Der Born, daraus er schöpfte und für andere schöpfen wollte, Heilsfluten, die so rein sein mußten wie das Wasser seiner Bergquelle dieser Brunnen aller Gnade war von der Kirche zu einem Pfuhl verwandelt worden, der Gift aushauchte. Ich erwähnte des Jesuitenpaters, der als offenkundiger Feind des Pfarrers in dessen Hause lebte. Bei der Nennung dieses Mannes war es, wo ich die hellen Augen so wild aufleuchten sah.
Natürlich war Fernow dem wackeren Mann schuldig gewesen, ihn gleich am Anfang seiner Bekanntschaft über seinen religiösen Standpunkt aufzuklären. Einen Christen konnte der geistliche Herr den Freund wohl kaum nennen, wohl aber einen Menschen. Das einfache Wort, das alles sagt, genügte diesem katholischen Bergpfarrer des Menschen Freund zu werden.
Mir mußte auffallen, daß Pfarrer Andreas sehr zurückhaltend gewesen, als ich seiner Schwester und das mit Worten erwähnte, die meine aufrichtige Freude ausdrückten, dieselben kennen zu lernen.
»Sie wird sicher nicht herkommen,« meinte Fernow. »Dann gehe ich zu ihr. In der Öde muß der Mensch zusammenleben, sonst verödet er. Ich hoffe, mir eine Tochter dieses seltsamen, mißtrauischen Volkes zur Freundin zu erwerben.« – »Die anderen sind scheu,« erklärte er mir den Charakter des Mädchens. »Dieses seltsame Geschöpf aber ist stolz.«
Es war mein erster einsamer Ausgang, der mich über die Grenze des Schloßgartens hinausführte. Mir war ganz feierlich zumute. Fortan würde ich wieder dahin wandeln können, ein Mensch unter Menschen.
Ich ging die Landstraße, die ich von meinem Fenster aus sah, auf der meine wirren Gedanken so oft dahin gewandert waren: ziellos in die Ferne hinaus, die für meinen gestörten Sinn keine Grenzen hatte. Jetzt war es Hochsommer; aber kaum, daß am Weg einige kümmerliche Blumen standen. Ich pflückte sie. Aus ihren duftlosen Kelchen strömte mir die ganze Poesie meiner Kindheit entgegen. Gar zu gern hätte ich mich auf den schmalen Wiesenrand niedergesetzt und mir aus den großen gelben Butterblumen eine Krone gewunden. Es gab auch Schmetterlinge, sogar ein Hänfling zwitscherte sein bescheidenes Lied. Ach, wie war die Welt so schön!
Im Sonnenglanz lagen die Alpen vor mir, eine Schar grauer Felsenwiesen, die sich weiße Königsmäntel über die Schulter geworfen und auf die greisen Häupter leuchtende Kronen gesetzt. Trotzig standen sie da und rissen sich den Himmel auf ihre Stirnen nieder, daß es wie silberne Flocken von ihnen herabhing. Drunten war der Boden purpurfarbener Moorgrund, durch den der Strom sich wälzte. Freilich war es einsam und öde; aber diese Öde war Erhabenheit.
Und an dieser stolzen, starren Schönheit hatten seine Blicke gehangen. War's ein Wunder, daß mir die Welt so verklärt erschien?
Ich gelangte zum Dorf. Es lag zwischen dem Strom und einem Felsen eng eingezwängt, fast baumlos da. Hier waren Ableitungen und Dämmungen am notwendigsten und deswegen auch schon in Angriff genommen. Die Arbeit mußte liegenbleiben, bis fremde Arbeiter kamen: der Jesuitenpater hatte den Dorfleuten streng das Mitarbeiten untersagt. Nur einige Anhänger des Pfarrers wagten nicht zu gehorchen.
Die Dorfstraße bestand aus einer einzigen langen, schmalen Gasse, auf beiden Seiten mit niedrigen Häusern besetzt, die mit ihren ungetünchten Mauern und kleinen Fensteröffnungen einen wahrhaft trostlosen Eindruck machten. Die Straße war ungepflastert und kaum fahrbar. Zerlumpte, lärmende Kinder trieben sich zusammen mit Federvieh und kleinen schwarzen Schweinen vor den Türen umher und verstummten, sobald sie mich sahen. Auch Erwachsene faulenzten auf der Gasse. Sie sahen nicht besser aus als die Kinder, starrten mich feindselig an und dankten meinem Gruß kaum oder gar nicht. Hinter mir her entstand sofort ein Zusammenlauf von Weibern. Ich hörte sie mich die Verrückte nennen. Ein kleines Mädchen lief vor mir fort, stolperte und fiel hin. Ich hob das schreiende Kind auf und wollte es freundlich beruhigen, aber seine Mutter entriß es mir.
Ja, die Arbeit würde schwer sein.
Die Kirche mit dem Pfarrhaus befand sich mitten im Dorf. Ich trat zuerst in das Gotteshaus.
Um den großen, kahlen Raum mit Flittern und ärmlichem Prunk ausstatten zu können, mußten die Leute in ihrer Armut Mangel gelitten haben, übrigens war die Kirche ganz leer. Erschöpft setzte ich mich auf eine der schmalen, braunen Bänke und saß da eine Weile, als ich ganz in der Nähe hinter mir eine unterdrückte Männerstimme heftig und eindringlich reden hörte. Eine Frauenstimme antwortete. Ich horchte hoch auf. Welch ein Klang, welch eine Kraft und Leidenschaft in diesen unterdrückten Tönen! Unwillkürlich hörte ich darauf hin, ohne die Beichtende – denn eine solche war es – sehen zu können.
»Ich bin unglücklich! Alles, was ihr mir sagt, hilft mir nichts. Ich soll mich ganz darein versenken, nichts anderes denken, nichts anderes fühlen, nichts anderes lieben – das kann ich nicht! Es ist auch nicht das Rechte; denn es ist nicht das Leben. Gebt mir etwas zu tun, anstatt zu beten. Ich kann euch nicht glauben, daß ich dafür geschaffen sein soll; ich will es nicht glauben! Es liegt etwas in mir, das ich nicht nennen kann. Aber es ist da, es will ausgesprochen werden, will leben. Was ist es? Sind wir denn so stumme Geschöpfe, daß wir nicht einmal nennen können, was doch unsere Seele ist? Was bedeutet dieses Sichängstigen und -quälen, dieses Suchen und Hasten? Kein Mensch hilft mir und Gott sieht auch ruhig zu! Ich fühle wie ich verderbe, wie ich schlecht und sündig werde, wie ich nicht hingelangen kann, wo ich frei bin. Früher besaß ich noch meinen Bruder, den habt ihr mir genommen. Wißt ihr denn nicht, daß ihr mir damit Gott selbst entrissen habt? Wer seid ihr, daß mir vor euch graut und ich euch dennoch gehorchen muß?«
»Der wahre Priester des Herrn.«
Ich stand auf, verließ die Kirche und ging in das Pfarrhaus hinüber. Es war kaum besser als die andern Häuser. Pfarrer Andreas empfing mich und führte mich in das kleine Gärtchen, das hinter dem Hause, dicht unter dem Felsen lag. Einige Büsche Rosmarin und rote Nelken waren das einzige, was darin blühte. Sie wuchsen vor einem verblaßten Muttergottesbild, das in den Fels eingefügt worden.
Veronika war nicht da; ihr Bruder schien nicht zu wissen wo sie sei. Ich hätte es ihm sagen können.
Ich wollte eben wieder gehen, da kam sie. Auch die Schwester war geradeso, wie ich mir sie vorgestellt: schön und stolz. Auf dieses Düstere, beinah Großartige in ihrem Wesen hatte ich mich indessen nicht gefaßt gemacht.
Ich fühlte mich von der Erscheinung des Mädchens im höchsten Grade gefesselt und angezogen. Sie behandelte mich gelassen und kalt. Bereits auf der Hausflur kehrte ich noch einmal in den Garten zurück, um wenigstens die ersten Versuche einer Annäherung zu machen. Sie ließ jedoch nur mich und ihren Bruder sprechen. Da wurde Pfarrer Andreas von der Magd in das Haus gerufen. Veronika ging, pflückte einige Nelken und etwas Rosmarin und kam damit zurück.
»Sie sind eine Schauspielerin, eine Künstlerin, das muß«- – – Sie atmete so schwer, daß sie nicht weiterreden konnte und wurde ganz bleich. »Das muß groß sein!« schloß sie leidenschaftlich mit leuchtenden Augen. Darauf reichte sie mir mit einer fast demütigen Gebärde ihren Strauß.