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Als mich eine große deutsche Zeitschrift aufforderte, ich möge mich zum Tode Walter Rathenaus äußern oder meine persönliche Erinnerung an ihn formulieren, erfaßte mich Schrecken. Wie, man kann sich also in einem solchen Falle »äußern«, war mein Gedanke, man kann Meinungen, Eindrücke, Urteile von sich geben, man soll es, es wird gewünscht, es gibt Leute, die es wichtig finden, es erwarten, es für eine Pflicht erklären? Bis in unser stilles Gebirg hier drang die Kunde der Mordtat, vor der Zeitung noch, lief scheu und unsicher von Mund zu Mund, und ich hatte sogleich eine eisige Lähmung in mir verspürt, die zur Stunde noch nicht gewichen ist. Arbeit erscheint schal, Verkehr mit Menschen schal, Lektüre schal, in der gewohnten Regel weiterexistieren sinnlos und abstoßend zwecksüchtig. Alles dies nicht etwa, wie es auf das erste Hinhören klingen mag, weil ich persönlich einen unersetzlichen Verlust erlitten hätte, nicht weil mir Rathenau nähergestanden wäre, als er vielleicht hundert andern gestanden ist, die gleiches und größeres Anrecht haben, um ihn zu trauern, ihn besser kannten und durch stärkere Bande mit ihm verknüpft waren, sondern weil ich bei keinem Ereignis wie bei diesem die Empfindung hatte: das gilt dir, das raubt dir Ungeheures, Zusammengehörigkeit, Vertrauen, Bindungen, die dir teuer waren, Heimatsboden unter den Füßen, Glut der Gemeinsamkeit und des Füreinanderstehens, dieses raubt es und bringt Tod in einer vorher nicht gespürten Weise. Darüber spricht sich schwer. Es ist eine Erfahrung, die man kaum zum zweitenmal machen kann, weil die seelischen und geistigen Funktionen nach ihnen in ein eigentümliches Stocken geraten und mit der Intensität des Aufnehmens auch der Prozeß der inneren Befreiung ermattet. Eine lebenswichtige Illusion ist zu Boden geschlagen worden, die letzte vielleicht, die auf eine bestimmte Regelung des sozialen Daseins, eine humane Ordnung zu hoffen wagte; es bedarf stärkerer Nerven und einer minder erschütterten Zuversicht in die menschlichen Dinge, um den Schlag zu verwinden.
Seit einer langen Reihe von Jahren gehörte es zu den feststehenden Gepflogenheiten meines jeweiligen Berliner Aufenthaltes, daß ich ein- bis zweimal einige Stunden mit Rathenau verbrachte, meist in seinem Hause und meist allein mit ihm, denn er liebte es, allein mit Menschen zu sein, denen er etwas zu sagen hatte und denen er etwas zu bedeuten glaubte. Er liebte es, einen solchen Menschen ins Licht zu setzen, ohne Figur gesprochen, sich selbst aber in den Schatten, ebenfalls ohne Figur. Er liebte es dann, zu philosophieren, breite Ausblicke ins Allgemeine zu geben, sein Verhältnis zur Welt zu erörtern, über Personen und Dinge, über Gesellschaft und Staat, über Zustände und Geschehnisse, über Werke und Institutionen, über Fragen, die ihn bedrängten wie sie mich bedrängten, in einer ruhigen, eindringlichen, gemessenen und sehr profunden Art gleichsam Vortrag zu halten. Er liebte nicht besonders die Gegenrede des Partners; am Stichwort war es ihm genug; er hatte keine auffallende Neigung für das Zuhören, aber ich habe niemals bemerkt, auch gegen den Geringsten nicht, daß er es ohne Wohlwollen tat, höchstens mit der verschleierten Ironie, mit der ein gutmütiger Riese das Piepsen eines komischen Zwerges hinnimmt. Er liebte es, sich zu entfalten; eine gewisse Königlichkeit war ihm darin eigen, die ihm das Kreuz und Quer lebhafteren Gesprächs zu meiden riet, wahrscheinlich weil er eine Fremdheitsschranke aufrechterhalten wollte, und deren Unbequemes gemildert war durch einen Ernst, welcher im Ausdruck des Physischen sowohl wie des Geistigen mit jedem Kontur in eine nicht leicht faßliche Tragik der Erscheinung hinüberfloß.
Ich entsinne mich eines Abends im April 1918, als ich von Brüssel kam und im ganzen Volk die Ahnung der nahenden Katastrophe wie eine Erstarrung fühlbar war, da merkte ich die ihm und seinem Wesen eigentümliche lastvolle Schwere, diese dumpfe niederbeugende Tragik mit einer außerordentlichen Schärfe. Ich war völlig irritiert, völlig bestürzt, und ich entsinne mich, daß ich tagelang nachher in demselben verstörten Zustand blieb. Er übersah natürlich die Situation; er kannte die Morschheit der Fundamente; seine Hoffnungslosigkeit war zermalmend; sein Pessimismus bedeckte die Erde, die Zukunft mit einem Bahrtuch; ich haßte ihn deshalb oder etwas in mir haßte ihn, denn man muß sich ja wehren, der animalische Lebenstrieb bäumt sich auf, die kleinen Freudeerwartungen wollen sich nicht ganz zertreten lassen; er aber war kalt wie ein Chemiker und unbeirrbar wie ein Prophet. Ich weiß nicht mehr, ob alle seine Analysen stichhaltig waren oder nicht, ich weiß nicht, ob alle seine Voraussagungen indessen zugetroffen sind oder nicht; ich glaube nicht, aber es kommt auch darauf nicht an, das war es auch im Grunde nicht, was mich so nachhaltig berührte.
Es war da ein Mann, Würdenträger im besten Sinn, Repräsentant im schönsten und einleuchtendsten, ein von seiner Sache besessener, von seiner Mission beschwingter Geist, edler Überzeugungen voll, reich an Gedanken, feurigen Willens, rein von Sitten, Fanatiker der Arbeit, unbestechlich, geborener Herr. Und dennoch: woher kam es, diese Sache und der Mann stießen an irgendeinem Punkt im Raume hart zusammen. Die Sache wie eine herzlose Geliebte, die sich verweigert; der Mann wie ein unbedingt und grenzenlos sich Hingebender, der keinen Lohn findet oder den rechten Lohn nicht, den nicht, auf den er Anspruch erheben darf. Das erkennend, gibt er mehr und immer mehr, verschwendet sich, achtet Tag und Nacht für nichts, das Übermaß seiner Kraft für nichts, und muß doch sehen und erfahren, daß an seiner Leistung selbst dort noch Abstriche geschehen, wo ihr keine gleiche an die Seite gesetzt werden kann, daß seine Person selbst dort noch bezweifelt wird, wo sie allen andern überlegen ist. Das Opfer wurde mißachtet, die Liebe verschmäht.
So hatt' ich es also heraus, da lag es, und so verrat' ich es. Die Tragik der unerwiderten Liebe, nie erwiderten Freundlichkeit und Bereitschaft hat den seltenen Menschen unheilbar verdüstert und sein Gemüt vergiftet. Er ist damit sozusagen dem Tod ein Stück Wegs entgegengegangen, denn der Tod trifft in der Regel dorthin, wo wir ihm die entscheidende Blöße bieten. Kein neuer Fall; kein vereinzelter auch, nur ein sehr erhöhter, sichtbarer und schmerzlicher.
Es ist die Frage, ob der Erfolg, der ihn in den letzten Jahren aufwärts trug (Zuschauer könnten meinen bis zum geträumten Gipfel), ihn in irgendeiner Hinsicht für das unauslöschliche Leiden zu entschädigen vermochte, das hier angedeutet ist. Ich habe in Italien Leute von Belang mit merkwürdiger Ergriffenheit von seinem Auftreten in Genua, der Wirkung seiner Persönlichkeit, der unmittelbar bezwingenden Kraft seiner Rede sprechen hören. Italiener, denen das deutsche Schicksal zu Herzen ging, Engländer und Amerikaner, die in der Haltung Frankreichs das große Unglück nicht bloß der europäischen Menschheit erblickten, sahen in ihm eine Hoffnung, einen der wenigen Kompetenten, der wenigen Führer, der wenigen Männer von Herz, Entschluß und gerechtem Sinn. Bei uns wurde ihm bisweilen seine Eitelkeit zum Vorwurf gemacht; die Eitelkeit, hieß es, verdecke manchmal die hohe Eignung und Gabe. Man sollte aufhören, mit dem Begriff Eitelkeit denjenigen einen Strick zu drehen, bei denen sie nur ein Verzweiflungszustand ist, mittels dessen sie sich aus der Menschenverachtung in das gläserne und trotzige Gefängnis ihres Stolzes retten. Hier war eine Wunde, die jeder Behandlung spottete; der Eiter erzwang sich einen Abfluß.
Die Frage bleibt, wie gesagt, im Vordergrund, ob das anscheinend erreichte Ziel ihm mehr als die äußerlich banale Genugtuung geben konnte; und ich glaube, daß ihr Abstand von der inneren gar nicht zu ermessen ist. Denn mit dem Grade des Gelingens wuchs ja eben der geheimnisvolle Widerstand, den Opfer und Hingabe nicht nur nicht zu besiegen vermochten, sondern der durch sie nur immer frische Nahrung erhielt. Es gab da keine Argumente, keine Auseinandersetzungen, kein Ringen der Kräfte, keine Erkenntnis, keinen Dank, keine Gnade, keine Vernunft; es gab sie nicht, es gibt sie nicht, es gab und gibt … ja was? Da beginnt die Hölle. Diene du nur, wird ihm zugerufen, verschwende dich für uns, beseele mit deinem heißesten Atem, was unter unserer Berührung weder Leib noch Geist wird, bahne Wege, grabe Schächte, sprenge Tore, schlage Wasser aus den Felsen und entzünde das verfinsterte Firmament, sei Mensch, sei Genius, sei ein Gott; in unserm Meinen zählst du nicht, in unsern Augen bist du nicht, wir nehmen dich nicht an, wir nehmen dich nicht auf, denn du bist von fremdem Blut und folglich Schädling, Feind und Verderber: Jude. Außerordentliche Logik, nicht wahr? Desungeachtet eine gängige und approbierte, obwohl sie dem Wahnsinn zum Verwechseln ähnlich sieht und dem Selbstmord zum Verwundern. Weshalb aber diesem Wahnsinn die Ehre erweisen, durch ihn bis in die Tiefen der Existenz zu leiden? Steht man da nicht vor einem unheimlichen Rätsel? Die Erklärung liegt darin, daß jene Stimmen von der Seite der Legitimität her kommen oder wenigstens von der Legitimität ihre Suada und ihr Pathos borgen. Nun vermag aber der sittlich geordnete Charakter, der höhere Mensch überhaupt, sich selbst und die Welt nur vom Gedanken der Legitimität aus zu erfassen, der, ist er auch von anderer Richtung und Beschaffenheit als der Schlacht- und Hetzruf einer Partei, doch auf verwandte Wurzel zurückgeht. So wird dann ein edelstes Lebensgesetz ins Mißverständnis umgebogen, ein Irrtum des Herzens umkränzt das Absurde noch mit einer Gloriole, und das scheußlichste aller Verbrechen hat längst, ehe es verübt wurde, seine Schatten in das Gemüt des Opfers geworfen.
»Ich sage euch aber, meinen Freunden: fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können.«
Es ist schwer, Worte aneinanderzureihen, wenn man weiß, daß sie wie Steine in einen Abgrund fallen und nichts wirken als den Schall und nichts fruchten als ein Aber und ein Wenn. Wie soll man weiterleben? Vielleicht nur ein Orkan, der die Guten mit den Schlechten vernichtet und das Erdreich samt dem Anschwemmsel davonträgt, kann uns von der Atmosphäre von Ekel und Grauen befreien und dem Gebirge von Unrat, das die Politik und die Politisierung des Lebens um uns aufgehäuft haben.