Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nicht ohne Mißtrauen und Abwehr las ich die Ankündigung dieser Publikation. Es gibt kaum einen Dichter, der dem philologischen Pedantismus so wenig Stoff böte wie gerade Dostojewski. Der Grund, scheint mir, ist einfach der, daß sein Werk noch nicht Kruste angesetzt hat. Von Leben flammend, wie es noch ist, kann es erlebt werden, ist aber nicht äußerlich berührbar, womit vor allem gesagt ist, daß es keine Klitterung verträgt und der philologischen Bemühung spottet. Vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, wo es abgekühlt sein wird. Dann wird es seine historischen Aspekte deutlicher zeigen. Dostojewskis Schöpfung gehört eigentlich nicht der Literatur an; sie wurzelt nur in ihr, und das bloß wie zufällig; es ist das Reich der Vision, der Prophetie und eines neuen slawisch-asiatischen Mythos, aus dem sie gewachsen ist; ihr besonderer nationaler und politisch-religiöser Einschlag wird sie dem europäischen Menschen stets fremd oder doch nie ganz vertraut erscheinen lassen, und nur die beispiellose Genialität der Menschengestaltung hat die Schranken wegzuräumen vermocht, die ihn und seine Welt von uns und unserer Welt scheiden. Ich kenne Männer und Frauen, die sehr wohl imstande sind, einer geistigen Mode durch Selbsturteilen und Selbstfühlen Widerstand zu leisten und die sich allerdings seiner gewaltigen Dichterinfluenz nicht entziehen, die aber nicht fünfzig Seiten eines seiner Bücher lesen können, ohne im Innersten zu schaudern, ja gleichsam zu erkranken.
Bei einem solchen Schriftsteller ist die Ausgrabung des Nachlasses und Veröffentlichung der Korrespondenz, somit die grelle Beleuchtung des Privatlebens überhaupt, weit mehr in Gefahr, den Charakter der Indiskretion und überflüssigen Neugier anzunehmen, als etwa bei den Kunstpoeten und geaichten Parnassiens, bei denen das psychologische Exempel, da es ja oft genug durchgerechnet worden ist, in der Regel glatt aufgeht. Über Dostojewskis dichterisches Wesen ist so viel Dunkelheit ausgebreitet, daß man die aus seinem menschlichen neu hinzufließende scheuen muß. Es gibt Geheimnisse der schöpferischen Natur, die nicht entschleiert werden sollten, da ihre Preisgabe die Ehrfurcht beschädigen kann, auf die der Genius Anspruch hat und die in einer Zeit der zerfallenden religiösen Bindungen vielleicht den einzigen Ersatz bietet für mangelnden Aufblick und geistigen Gehorsam. In der Tat läßt sich eine peinvollere Lektüre kaum denken als der Band »Dostojewski am Roulette«. Man wohnt einem Schauspiel bei, dessen ermüdend weitschweifiger Inhalt darin besteht, die zügellose Leidenschaft eines von der Wahnvorstellung des Spielgewinstes geblendeten Mannes in allen ihren Phasen, Steigerungen und Wiederholungen zu zeigen. Ich denke an einen unbefangenen Leser, dem die Werke des großen Dichters zum Bestandteil seines inneren Lebens, seiner seelischen Existenz geworden sind, dem Figur und Wort gewissermaßen für bare Münze gelten, für den die Dichtung einen Schimmer von Heiligkeit hat und nicht ein Erzeugnis der Literatur ist, das man klassifizieren kann, und wenn ich mich in seine Phantasie versetze, mit seinen Augen zu sehen versuche, so erschrecke ich vor der Enttäuschung und traurigen Ernüchterung, die ihn erfassen muß und die wahrscheinlich um so nachhaltiger ist, als er sie sich nicht klarzumachen, ja nicht einmal einzugestehen weiß. Er kann sich nicht wie der ausgepichte und in allen winkelzügigen Feinheiten der Analyse erfahrene Literat mit profunden Maximen und der Bereicherung seines Beobachtungsmaterials trösten; ihm ist ein Bild zerstört, und wenn nicht zerstört, so doch umschattet und vom Zweifel verdüstert. Man hat gut einwenden: wer sich dagegen sträubt, daß seine Götter zu Menschen werden, kann auch kein fruchtbares Verhältnis zur Menschheit gewinnen; solange weise Erkenntnis und echte Anschauung nur bei Einzelnen und Wenigen zu finden sind, empfiehlt es sich, die leicht zu gefährdende und leicht zu verwirrende Einbildungskraft der andern als nicht sehr tragfähig zu schonen.
Hier freilich, bei der weiterdringenden Aufhellung und wenn man von dem Gegenstand sein obenauf liegendes Verletzendes abgestreift hat, ändern sich Eindruck und Ergebnis. Ich sehe ab von dem Motiv, das, um der Spielleidenschaft Dostojewskis das Gepräge des Niedrigen zu nehmen, in dem Buch zu öftern Malen als vorherrschend betont wird, daß er nämlich, bloß um die von ihm übernommenen Verpflichtungen seines geliebten Bruders zu erfüllen und dessen Hinterbliebene vor Not zu schützen, seine ganze Hoffnung auf das Roulette gesetzt habe; ohne Zweifel war das ein Antrieb; ohne Zweifel war es aber auch ein selbstgeschaffener Vorwand, obschon ein stichhaltiger und nobler, wie ja überhaupt die Beziehung Dostojewskis zu diesem Bruder und zu seinen Verwandten die ergreifendsten menschlichen Züge seines Wesens enthüllt, eine fast erhabene Simplizität der Güte. (Hier geschieht das Wunderliche, daß die scheinbare Schwäche den Charakter göttlicher Langmut annimmt.) Aber obgleich die Armut, in der er lebte und die seine Existenz zu einer Kette von Demütigungen, sein Schaffen zu einem Passionsweg machte, eine düstere Anklage gegen seine Nation und gegen die bürgerliche Gesellschaft ist, waren es im Grunde doch ganz andere Gewalten, die diese dumpf kochende Seele dem Kampf um subalterne Peinlichkeiten überantworteten. Der prophetischste Geist, den die Menschheit in Jahrhunderten hervorgebracht, das von ungeheuern Visionen beladene Auge, starr hinunter gewendet zu den kleinen Tücken kleinen Zufalls, Gesetze suchend und Entscheidungen erzwingen wollend im Spruch der Zahl und Ungefähr des Kartenwurfs: da liegt mehr und Tieferes als die banale Faszination des Durchschnittsspielers. Ich ahne zweierlei. Erstens das Bedürfnis psychischen Rausches, Schicksalsrausches gleichsam, das beim Hasard gemäß der Vergrößerung, die aus ungebändigter Phantasie hervorging, Befriedigung fand und eine Art Vergessenheitsentgelt bot gegen das maßlose Leiden an der Welt und an seinen Gesichten; wie ihn das Werk, die Gestalt davon im großen erlöste, so vielleicht das Spiel im kleinen, und schließlich spielen ja die Dichter, auch indem sie Werke schaffen, mag ihr Tun noch so qualvoll für sie sein; ein göttliches Spiel treiben sie, ein höllisches, und ein sehr rätselhaftes. Zweitens scheint mir, daß sich Dostojewski dabei zur Wehr setzte, den schmerzlichen Druck, den er von oben her, vom Fatum her erfuhr, nach unten weitergab, ausgleichshalber, um sich in Balance zu halten und um die Dämonen, in deren Fängen er sich allerwegen befand, abzulocken und sozusagen anderweitig zu beschäftigen. Denn Dostojewski war ja kein dämonischer Mensch, weit gefehlt; er war im Gegenteil ein von Dämonen besessener Mensch. Was aus den Büchern, von denen hier die Rede ist, zur Genüge erhellt.
Doch kommt den bisher erschienenen drei Bänden ein noch unfraglicheres Verdienst zu, nämlich dieses, daß sie von Anna Grigoriewna, der Gattin Dostojewskis, über die man Wesentliches noch nicht erfahren hatte, ein anziehendes und merkwürdiges Bild geben; nicht mittels Schilderung, nicht durch Urteil und Bemühung eines parteihaft eingestellten oder übereifrigen Biographen, sondern auf dem allereinfachsten, allerunbezweifelbarsten Weg: durch sie selbst, ihre Aufzeichnungen, ihre Briefe, ihre Erinnerungen. Das wahrhaftigste Bild eines Menschen entsteht ja, wenn die geheimnisvollen Zusammenhänge in seinem Tun und Verhalten sich vor dem zuschauenden Auge als gesetzmäßige Bewegung darstellen; je unabsichtlicher und naturhafter dies geschieht, desto zwingender wird die Erscheinung im Leben wie in der Kunst. Ich weiß nicht, wie es kommt, daß die Bescheidenheit dieser Frau mich in allen ihren Äußerungen geradezu erschüttert. Vielleicht weil etwas Elementares darin steckt, in der bewußtlosen Urtiefe der Seele Ruhendes. Leiden versteht sich für sie von selbst; Opfer, dazu ist sie angetreten; Fügsamkeit und Geduld, sie sind ihre eigentlichen Kräfte. Frauen werden sagen: nur ein Mann kann dergleichen schreiben und noch dazu einen Ruhm daraus machen. Ich antworte: ihr mögt die schweigende Demut von der ersten Reihe der Tugenden in die letzte setzen, ihr mögt sie sogar, in einer auf Revolte gestellten Zeit und Weltstimmung mit Recht oder mit Unrecht, je nachdem, zu den veralteten und schädlichen Sklavinneneigenschaften zählen; die Möglichkeit, das Leben eines Dostojewski zu teilen, hat eben dies gefordert und nur dies; jeder geringere Preis als ein Martyrium wäre vielleicht zu gering gewesen. Wem in einer streng geteilten Geistersphäre die Traumhälfte von Teufeln bevölkert ist, der hat vielleicht die meiste Gewähr, daß sich ihm in der Wirklichkeitshälfte ein Engel gesellt; nur kann es ihm dann passieren, daß er es zuweilen nicht bemerkt und zuweilen vergißt. Dostojewski hat sie wohl stets empfunden, die engelhafte Begleitung, aber ziemlich oft nicht bemerkt und manchmal vergessen, eine Schuld, die er zu seinen übrigen Belastungen hinzunahm. Anna Grigoriewna verhehlt sich diese Tatsache nicht; sich darüber zu beklagen, fällt ihr nicht ein. Seltsam, wie kleinbürgerlich der Zuschnitt ihrer ganzen Existenz und Denkungsart von Anfang an ist und wie sie darin mit der Dostojewskischen Lebensform zusammentrifft, so stark, daß sie sie zugleich wieder aufhebt; echt russisch-kleinbürgerlich. Eine solche Verfassung kennt der europäische Westen gar nicht, Mischung von seelischer Bedrücktheit, materieller Enge, sozialer Gefangenschaft und schwerblütiger Tradition; ebenso seltsam, wie aus dieser Schicht, unverbrauchtem Mutterboden, Persönlichkeiten, besonders Frauen von eigentümlicher Spannkraft und innerer Schönheit hervorgegangen sind; man kann da von einem neuen Idealismus sprechen, der das Produkt einer weit in die Tiefe des Volkes reichenden moralischen Umwälzung ist. Das alles ist noch im Fließen und Werden. Es gibt da keine Grenzen, keine Bollwerke, gegen Finsternis nicht, gegen Feuer und Zerstörung nicht. Der Osten droht herein, leuchtet herein, und was wir gegenwärtig, als scheinbar gesichertes Gut, in Dichtung und Gestalt von ihm besitzen, ist möglicherweise nur ein vorläufig hingeworfenes Bruchwerk. Ein Jahrhundert wird nicht genügen, es festzustellen, und es ist noch kein halbes seit Dostojewskis Tod vergangen.