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Bürgerliche Ehe

Offener Brief an den Grafen Keyserling

Verehrter Graf Keyserling.

Als Sie mich zur Mitarbeit an Ihrem Buch über die Ehe aufriefen, war ich gerade mit dem Abschluß eines lange geplanten, lang vorbereiteten Eheromans beschäftigt, der wahrscheinlich zur selben Zeit wie das von Ihnen herausgegebene Werk erscheinen wird. Ich erhielt damit wieder einmal den Beweis, daß jede Epoche von gewissen Ideen, Wandlungen, Wandlungsvorbereitungen trächtig ist und daß wir in dem Bezug oft nichts anderes als Geburtshilfe verrichten. Wenn in einem so vorzüglichen, der seelischen wie der sozialen Not der Gegenwart so aufmerksam zugekehrten Geist wie dem Ihren der Entschluß reifen und Formulierung gewinnen konnte, ein Problem des Tages und der Welt einem Areopag berufener Persönlichkeiten zur Aussprache und Beratung vorzulegen, und nicht nur dies, sondern auch selbst das Wort dazu zu ergreifen, so muß eben dieses Problem von äußerst dringlicher Beschaffenheit sein und das Übel, dessen Kern es ist, die Wurzeln von unser aller Existenz bedrohen.

Das ist mir auch in vollem Maß während der Niederschrift meines Romans »Laudin und die Seinen« bewußt geworden; fühlbar geworden. Der Zudrang der Gestalten und Lebensfigurationen war kaum zu übersehen und schwer zu bändigen; Erfahrungs- und Erlebnismaterial durchdrang und steigerte sich gegenseitig; es war zuweilen mehr ein geistiges Fieber als Disziplin und Festsetzung, und ich hatte durchaus, wie noch bei keinem Buch vorher, das Gefühl einer mir aufgetragenen Sendung.

Lassen wir die private Seite der Sache samt ihren Besonderheiten und Schmerzlichkeiten; auch was an persönlichem Schicksal dahinter liegt. Es eignet sich eher zu einem Gespräch unter vier Augen als zur öffentlichen Diskussion. In einem solchen Gespräch könnte ich auf die merkwürdigen Zusammenhänge hindeuten, die auch in diesem Fall zwischen Leiden und Denken, Erfahrung und Bild, Erlebnis und Symbol statthaben, und welcher Kräfte des Gemüts, welcher sinnlichen Umstellung und inneren Distanzierung es bedarf, damit das zersetzte, zufallshafte, taghaft-niedrige Element zu einem gesetzmäßigen, ja gestaltmäßigen höheren werde. Wir empfinden und überschauen in erlesenen Stunden, in gereinigtem Zustand, manchmal das gesamte Übel der Welt; um auch nur einen geringen Teil davon auszudrücken und vermittelst Idee oder Vision der ratlosen Menschheit Trost, Weg, Antwort zu geben, müssen wir uns ein vom Selbstleiden bereits geläutertes Auge erworben haben, die Ruhe eines Gottes fast, der den Zweck der Stürme weiß, während sie wüten.

Sie verlangen Schweres von mir, und indem ich mich Ihrem Verlangen füge, wird mir immer klarer, daß die Schwierigkeit beinahe unüberwindlich ist. Von der notwendigen Zugemessenheit des Raumes abgesehen, bin ich ganz und gar nicht gewohnt, mich redend oder gedanklich mitzuteilen, und muß sehr fürchten, vor einem durch Zucht und Systemisierung ausgezeichneten Manne wie Ihnen eine schlechte Figur zu machen. Die Fülle des Stoffes ist ungeheuer, die Fülle der Erscheinungen lähmt und verwirrt, tausendfaches Schicksal, jedes in seinem Bereich unbedingt, macht das Urteil feig. Ich sehe den und den und den Menschen nach seiner Art, nach seiner Überzeugung, nach seinem Charakter, seinen äußern und innern Umständen so und so handeln, sich so und so verhalten; zwangvoll; zwangsläufig, wie man sagt; und so auch wieder ganze Gruppen, Schichten, Kasten; da sie alle ein Gesicht haben, eine Wesenhaftigkeit, eine bestimmte Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit, mangelt es mir an Mut, vielleicht auch an der Befähigung, die gültige Formel für ihr Tun und Sein zu finden, und was im einzelnen Figur annimmt, in der Gesamtheit zu beleuchten.

Meine Hilflosigkeit vorausahnend, gaben Sie mir den Rat, es mit einer einfachen Schilderung des bürgerlichen Zustandes mit möglichst wenig ausgedrückter Kritik zu versuchen, und obwohl eine solche Schilderung, soll sie auch nur annähernd Bild und Begriff geben, nichts weiter sein kann als ein matter Aufriß dessen, was ich in meinem Roman darzustellen unternommen habe, obwohl mir die geratene Vermeidung kritischer Betrachtungsweise kaum durchführbar schien, weil hier jeder Einzelfall wie auch jede Phase der allgemeinen Entwicklung dazu drängt, eine ungenügende Individual- und Gesellschaftsverfassung an einer idealen oder geträumten zu messen (falls dies noch Kritik zu nennen ist), beschloß ich doch, eben diesen Weg zu gehen, und nur um nicht das bereits Geförderte, bereits Gegebene noch einmal und vielleicht unzulänglicher formulieren zu müssen, ziehe ich eine charakteristische Partie des Buches aus und setze sie her. Es handelt sich um Leben und Tätigkeit eines bedeutenden Advokaten (Doktor Friedrich Laudin), dessen Spezialität es ist, Ehen zu scheiden, und es heißt da wie folgt:

»Wäre er Sittenschilderer oder Gesellschaftskritiker gewesen, so hätte er den gründlichsten Traktat über die Ehe und ihre Entwicklung im zwanzigsten Jahrhundert verfassen können. Er hätte vielleicht die Motive entfaltet, die zur Schließung von Ehen führten, und diejenigen, die zu ihrer Lösung drängten. Er hätte die zahllosen Bündnisse aus Leichtsinn und Leichtgläubigkeit, wie sie ihm untergekommen waren, ebenso trocken und sachlich vermerkt wie die aus hastiger Leidenschaft und augenloser Sinnlichkeit; diejenigen, die auf Ehrgeiz, auf Eitelkeit, auf Streberei, auf Geldgier, auf gutmütiger Schwäche oder auf einer vorübergehenden gemeinsamen Liebhaberei beruhten, ebenso wie die in vollkommener Gleichgültigkeit oder trostloser Resignation geschlossenen; er hätte die Figuren von Männern umreißen können, die sich eine Frau erlisten, wie sie sich eine Stellung oder einen Tip auf der Börse erlisten; von solchen, die sich in die Ehe begeben wie in ein Kaffeehaus und zu einer Kartenpartie; von solchen, die die Wahl hatten zwischen Heirat und Selbstmord, und sich für die Heirat entschieden; von solchen, die ihre Geliebten mit dem Geld der Gattin bezahlten und solchen, die die Gattin zur Dirne machten und vom Erträgnis den großen Herrn spielten in einer Gesellschaft, die von allem wußte und die zu allem die Augen schloß, solange es nicht zum Skandal kam; von jahrelang Hintergangenen, die für die Treue der Gefährtin ihre Seligkeit verpfändet hätten; von moralischen Faulpelzen, die es bequem fanden, nichts zu sehen, um ihr Behagen nicht opfern zu müssen; von Liebesohnmächtigen, die zu Heloten der Frau wurden, von solchen, die den Körper einer Frau zugrunde richteten, weil sie ungefähr soviel davon verstanden wie ein Schlächter vom Seidenspinnen.

Er hätte von Frauen erzählen können, denen ein Ballkleid das Wohl ihrer Kinder aufwog, und von andern, die sich zu Haustieren erniedrigten, aus Furcht vor dem Gatten bisweilen und bisweilen aus Verblendung gegen ihn; von solchen, die den Mann als einen Gott anbeteten und in ihrer Idolatrie lieber sich das Herz ausrissen, als sich überzeugen ließen, daß er ein kleiner Sterblicher mit ein wenig Neigung zur Schurkerei war; von solchen, die ihre Kraft in jährlichen Wochenbetten erschöpften, indes das Oberhaupt der Familie mit dem Gefühl erfüllter Pflicht die Nächte in Wirtshäusern, in Klubs oder bei Mätressen verbrachte; von solchen, die das schwer erarbeitete Gut des Mannes achtlos vergeuden, und solchen, die mit jedem Heller sparten, während der Mann Hunderttausende in unsinnigen Spekulationen auf die Straße warf; von Wohltätigkeitsfurien, deren Heim unwohnlich wie ein Bahnhof war, von geistig und seelisch Unmündigen, die zur Ehe vergewaltigt wurden, um darin zu verbluten.

Er hätte sagen und erklären können, wie alle diese Menschen, Paar um Paar, in die Ehe stürzten, frivol und unwissend, halb fremd einander oft, ohne zureichende Verantwortung und ohne Festigkeit des Gemüts; getäuscht und täuschend; wie sie Verträge unterschrieben, die zu halten sie schon nicht mehr gesonnen waren, wenn sie die Feder weglegten und die Tinte noch naß war; wie sie Kinder zeugten, denen das Leben der Eltern Beunruhigung und quälender Traum war; wie sie zu ihm kamen, Weib oder Mann, und danach lechzten, der eine oder der andere oder beide, wieder voneinander befreit zu sein; wie sie haderten; wie kurz ihr Gedächtnis war; wie schimpflich sie voneinander redeten; wie sie einander preisgaben; wie Haß, Verachtung, Überdruß und Beleidigung jede Würde, jede Erinnerung an den Austausch heilig gewesener Gelöbnisse auslöschte.

Er hätte dies alles aufzuzeigen vermocht und hätte am Ende noch das Vergnügen des Statistikers an unwiderleglichen Tatsachen und dem Gesetz der Folge haben können.

Aber es scheint, daß in seiner Brust ein Abgrund war, in den jeder einzelne Vorgang und jeder Träger und Urheber davon hinabfiel wie ein Stein in einen Brunnen. Er behielt ihn in der Tiefe; er war nicht mehr zu ergreifen und zu sehen.

Die Wiederholung des Gleichartigen bringt oft eine lähmende Wirkung auf das Gemüt hervor. Trotzdem ist nicht anzunehmen, daß gerade dies den Druck ausmachte, der nur allzu merklich den Advokaten Laudin beschwerte und der nichts mit der bloßen Arbeitsbürde zu schaffen hatte. Vielleicht traten hier Umstände hinzu, die er selbst nicht in Berechnung ziehen konnte, und diese Umstände waren stärker, mühseliger, peinigender als jeweilige Begegnung, Verhör und Verhandlung mit den Parteien. Möglich, daß ein Protokoll mit seinen trockenen Aufzählungen und Registrierungen manchmal eine beredtere Sprache für ihn hatte, als der weitschweifigste mündliche Bericht und als aller Jammer und alle Unzufriedenheit, die die Männer und Frauen selbst vor ihm dartaten. Dahinter lag so vieles; und so war auch, was sie äußerten, nicht das Entscheidende, das ungeheuerlich Ernüchternde und Zerrbildhafte. Sondern was dahinter lag. Denn es ist zu bedenken, daß er von alledem wußte und wissen mußte, was dahinter lag, vielfach und düster, Labyrinthen und Freudlosigkeiten, Aufsammlung von Material, Geschriebenem und Gedrucktem, Beleg und Beweis von Verrat und Betrug, in allerlei Papieren verhaftet, die vorgehalten und aufbewahrt wurden und später in der Aktenregistratur vergilbten. Sie waren gleichsam die Schlüssel, mit denen er ihre Behausungen öffnen konnte, Stätten des Zerwürfnisses und der Gehässigkeit, die Schlafzimmer, in denen ihre Küsse zu Gift und ihre Umarmungen zu Wutkrämpfen geworden waren. Er kannte ihre geheimen Wege, ihre lichtscheuen Beziehungen; es war seine Aufgabe; es wimmelte in diesem Arsenal der Zwietracht von Beweisstücken; Erinnerung und Einbildungskraft waren damit gefüllt wie die Bude eines Trödlers mit wurmstichigem Kram, mit Unsauberem und Bizarrem, Kleinlichem und Widerwärtigem, vom besudelten Bett bis zur unbezahlten Modistinnenrechnung, vom Arsenikrest in einer Kaffeetasse bis zu einem im Absteigequartier gefundenen Strumpfband, vom gefälschten Meldezettel bis zum gefälschten Wechsel. Dann die Briefe, Berge von Briefen, Berge von Lügen, Gebirge von Leiden und zugefügter Kränkung und heuchlerischen Versprechungen; Briefe, in denen gefeilscht, beteuert, geschworen, beschuldigt, geschmeichelt, gehöhnt, verwünscht und gebettelt wurde; unorthographische und andere in edelstem Stil; geschäftliche: ›ich teile Ihnen ergebenst mit‹, worauf eine kalte Perfidie folgte, und poetische Ergüsse; Uriasbriefe, Drohbriefe, Spionenbriefe, Erpresserbriefe, ergreifende Dokumente der Liebe, der Verzeihung und Briefe voll unversöhnlichem Haß und teuflischer Verleumdung.«

Sie werden dieses Gemälde vielleicht sehr düster finden; allzu düster vielleicht, um ihm eine letzte Gültigkeit zuzuerkennen, wobei Sie auch sicherlich in Betracht ziehen, daß sich im dichterischen Gefüge die hellen und dunklen Elemente lebensannähernd gegeneinander stufen und das herausgenommene Eine leicht eine gewisse Verzerrung behält. Dennoch kann ich nicht sehen, daß sich die Erfahrungen meines Laudin von denen schroff unterscheiden, die alle machen mußten und gemacht haben, die zu dieser Materie in einem handelnden, leidenden oder nur beobachtenden Bezug standen. Der Sachverhalt ist einfach der: äußeres Gesetz und inneres Gesetz haben nicht bloß nichts mehr miteinander zu schaffen, sondern zerstören auch einander.

Ehemals waren tief unter der Oberfläche des bürgerlichen Lebens mythische, religiöse, kirchliche, priesterliche Einflüsse und Mächte wirksam, die der Gesellschaft wie auch dem Individuum die Daseinsform vorschrieben, ja aufzwangen; lange Reihen von Geschlechtern wurden zu bestimmten Regeln erzogen, innerlich und äußerlich zu unverbrüchlichen Gepflogenheiten verhalten; wie verschieden sich auch die privaten Existenzen gestalten mochten, wie tragisch im einzelnen die Wirrnisse verliefen, die Schicksalskreise sich ineinander flochten, über dem Ganzen ruhte etwas wie eine zwar scheinhafte, doch widerspruchslos angenommene Ordnung; es war durch eine Tradition zusammengefaßt, die allerdings von ihrer Strenge und Ehrwürdigkeit im Verfluß der Zeiten genau so viel einbüßte, als ihre Verwurzelungen morsch wurden, so daß an Stelle von Gehorsam, Überzeugung und aller damit verknüpften Repräsentationen die bloße Gebärde davon trat, späterhin die bloße Erheuchelung, während zugleich das Joch, die aufgenötigte Belastung immer widerspenstiger ertragen wurde, die aber gleichwohl bis in eine noch nicht ferne Vergangenheit, in spärlichen konservativen Gruppen noch bis heute hemmend, bezähmend, mäßigend und einschüchternd auf der einen Seite wirkten, indes sie auf der andern den Verwesungs- und Verdorrungsprozeß begünstigten und beschleunigten.

Wir haben nicht nur eine ungeheure politische Revolution erlebt und stehen noch in ihrem Fluß, sondern auch eine nicht minder umfassende geistige. Als deren Sinn und Folge stellt sich vor allem heraus, da die alten hohen Bindungen verlorengegangen und neue noch nicht gefunden worden sind, daß sich der einzelne Mensch in sonderbarer, ich möchte sagen in angstvoller Anmaßung zum Selbstverwalter seines Schicksals macht, in jedem Belang sich der Selbstverantwortlichkeit unterfängt (ich spreche von Unterfangen, weil von Errungenschaft, damit werden Sie wohl mit mir übereinstimmen, doch nur bei den Exemplaren von Rang die Rede sein kann), wodurch dann jene Art von Freiheit zur Erscheinung kommt, mit der wir heute alle Welt laborieren sehen. Nicht zum Vorteil der Gemeinschaft, noch weniger im Dienst einer lichtgebenden Idee. Aber es ist, so dünkt mich, eine Zwischenphase, ein Übergangszustand, der nur erträglich wird durch die feurige Bemühung, die je zuweilen bis zum Opfer sich steigernde Hingebung einzelner Vorausschreitender. Das Erwachen des Selbstverantwortlichkeitsbewußtseins und Gefühls des Selbstverfügungsrechtes, ein Prozeß, über dessen unaufhaltsames Wachstum kein Zweifel herrschen kann, da ja die ganze soziale Atmosphäre davon durchsetzt und das ganze öffentliche Leben davon gefärbt ist, hat die bürgerliche Ehe mehr und mehr zu einer höchst fragwürdigen Institution werden lassen. Der Zwang, den Staat und Kirche ausüben und gemäß der überkommenen, das Getriebe der Existenzen regulierenden Ordnung ausüben müssen, trifft nicht nur auf die Willigkeit der Bürger und Angehörigen der Konfessionen nicht mehr, sondern sogar auf ihren Widerstand und ihre revolutionären und reformatorischen Gelüste. Daß infolgedessen die Einrichtung den Charakter der Heiligkeit und Unantastbarkeit längst nicht mehr besitzt, statt dessen den der Zufälligkeit, Flüchtigkeit, Glücksucherei, des Glücksspiels sogar, der blanken Frivolität, der Laune, der Augenblickslockung, der bloß sinnlichen und deshalb untiefen, der bloß ökonomischen und deshalb seelenlosen, der bloß gesellschaftlichen und daher äußerlichen Allianz angenommen hat, kann uns nicht verwundern, Sie nicht und mich nicht, die wir seit Jahrzehnten die Symptome dieser Krankheit, jeder von seiner Warte, mit eben den Befürchtungen beobachtet haben, die die Zeit wahr gemacht hat. Manche werden mir vielleicht entgegenhalten, daß auch in früheren Läuften die Ehe durchaus nicht immer, durchaus nicht von allen als ein Sakrament sei angesehen worden; daß man zum Beispiel in der sogenannten romantischen Periode, namentlich in Deutschland, Ehen schloß, Ehen brach und neue Ehen einging, als handelte sichs um eine Badereise oder um den Tausch von Mobilien; aber erstens betraf dies eine losgelöste Gruppe, deren Treiben von der Allgemeinheit mit Befremden, wenn nicht mit Entsetzen betrachtet wurde, und dann war das Gebaren in der Hauptsache Ergebnis einer auf die Spitze geschraubten Lebensmaxime, nichts Gewordenes, organisch Notwendiges, sondern gewollt, spielerisch ertrotzt oder philosophierend erdacht.

Alles Ehebruchswesen muß ich hier natürlicherweise ausschalten, die lockeren modischen Konventionen, denen es meist entwuchs, mit ihrem bewegten Kreuz und Quer von Beziehungen, die uniforme Tragik oder etwas seichte Ironie und Heiterkeit, womit jahrhundertelang, von einem spezifischen kulturellen Geist beeinflußt, eine ganze Literatur ihr Auskommen fand. (Goethes »Wahlverwandtschaften« schließen diese Entwicklung gleichsam mit einem majestätischen Richtspruch ab.) Ehebruch bestätigt ja die Ehe; die sittliche Basis ist akzeptiert, wo sie nur unter Strafvollzug verlassen werden kann, oder besser gesagt, sie ist akzeptiert, wo die Sünde akzeptiert ist. Das Gewissen straft, die Gesellschaft straft; die Frau verfällt der Ächtung, der Betrogene der Ridikülisierung; das Faustrecht mit seiner durch die Ehrenkodizes bedingten Verfeinerung greift ein, und bei alledem ist die Unzerreißbarkeit des Bandes deklariert, oder Lösbarkeit doch nur unter katastrophalen Begleitumständen, wenigstens für die Frau.

Die Basis ist heute nicht mehr da. Das Übernommene, Überkommene ist aus- und abgelebt; neue Möglichkeit, neue Form entsteht erst und wird von einzelnen Erwählten sozusagen dem Dasein angepaßt und der Gesellschaft abgerungen, wobei sie sich erklärlicherweise auf allen Seiten mit dem trivialen Mißverständnis wie auch mit den Zerrbildern und der Konterfasson auseinanderzusetzen haben, da es doch keine edle Emanzipation gibt, die nicht durch die Mehrzahl der Beteiligten kompromittiert wird. Die gefährliche Schwebe, in welcher sich die Institution gegenwärtig befindet, ist in jeder bürgerlichen Familie zu spüren. Die Wahrnehmung einer so bedrohlichen Erschütterung mag ja auch Sie, lieber Graf, zu dem Appell veranlaßt haben, der mich an Ihre Seite gerufen hat. Was kann aber die Konstatierung fruchten, wo die Unendlichkeit und unendliche Verschiedenheit der Erscheinungen, eine jede würdig, in der Brust Gottes gewogen und geprüft zu werden, der Zusammenfassung Hohn spricht? Ich habe versucht, durch eine Mittelsfigur ein ungefähres Bild zu geben. Ich sehe, es genügt nicht. Was wäre anzuklagen, was zu berichtigen, welche Stützen wären einzureißen, welche aufzubauen, welche Wunde ist die brennendste an diesem sozialen Körper, der wie ein richtiger Hiob aussätzig und verwildert gegen sein Schicksal rast? Jede brauchte einen Arzt für sich, den weisesten, aufopferndsten, und wo das Leiden endet und das Verbrechen beginnt, müßte ein Seelsorger und Richter mit den Eigenschaften eines Heiligen und eines Propheten an seiner Stelle sein. Da ist, Überbleibsel aus barbarischen Zeiten, die Hörigkeit der Frau, die in keinem Verhältnis mehr steht zu ihrer Rolle im öffentlichen wie im privaten Leben; andererseits wieder ihr Luxusdasein, das den Mann zum Arbeitstier erniedrigt; ökonomische und materielle Faktoren überwiegen bei ständig wachsender Schwierigkeit des Existenzkampfes die Rücksichten der höheren Kategorie, die sittlichen und geistigen Werte; Beschränkung der Kinderzahl wird immer entscheidender für den Frieden des Hauses und die wirtschaftliche Prosperität; was die gewohnheitsgewordene Verhinderung der Empfängnis an Sinnen- und Seelenfrieden kostet, was gewaltsame chirurgische Eingriffe nicht bloß an leiblicher Schädigung, nicht bloß an tiefgehender, wennschon zunächst und im einzelnen nicht immer merkbarer Verletzung der weiblichen Psyche, sondern auch an ununterbrochener geheimnisvoller Belastung des Volksgewissens im Gefolge haben, ist ein Kapitel für sich; wäre jemand imstande, die Summe davon zu ziehen, so käme er wahrscheinlich zu erschreckendem Resultat. Hält das Gesetz noch immer mit bizarrer Hartnäckigkeit an der Inferiorität der Frau fest, so rächt sie sich dafür in unbewußter Trieb- und Widerhandlung, indem sie sich erbittert in die Person und die Existenz des Mannes verbeißt und ihn, dessen Freiheitsverlangen auch dann zu Recht besteht, wenn es die Lebenssituation mit Konflikten schwängert, im wahrsten Sinn zum Gefangenen macht. Im allgemeinen freilich führt die Befreiung von der als unwürdig empfundenen Fessel selten zu einem würdigen Zustand; im Gegenteil, die Verwirrung erzeugt Verwirrung, Haß gebiert Haß und Irrtum nährt Irrtum, als ob das Auge, das einmal verblendet gewesen, keines Aufblicks, die Seele, die einmal befleckt worden, keiner völligen Läuterung mehr fähig wäre. Natürlich ist dem nicht so. Es fehlt nur das ethische Diktat, Leitung durch Liebe oder Erkennen; es fehlt Autorität, es fehlt vor allem Gefühl und Ahnung der wahren verbindlichen Wirklichkeiten, die sich vom Geist aus konstituieren. Wo die falschen, ephemeren Wirklichkeiten herrschen, das heißt also, wo Handlung und Urteil durch den Zweck bestimmt werden, hat alles Leiden und Unglück mit Notwendigkeit einen ansteckenden, epidemischen Charakter, gleichwie niedriger Luftdruck die Verbreitung virulenter Krankheitskeime befördert. Kritik ist gar nicht am Platz, Sie haben recht. Wer wollte an einem Schicksal Kritik üben? Man kann lehren, man kann warnen, man kann das Beispiel geben, man kann das Bild malen, man kann sagen: habt Instinkt für euch selbst und in der Wahl des Partners, schärft eure Wachsamkeit, stellt eure Existenz auf gegenseitige Achtung mehr denn auf Liebe und Leidenschaft, vergeudet euch nicht ans Ding, verliert euch nicht ans Wort, verschuldet euch nicht an den Besitz; man kann sich an die Jugend halten, an die Söhne und die Töchter, und ihnen Ehrfurcht einflößen gegen den Wert und die Würde des Menschen, ihr Bewußtsein wecken für die dynamische Bedeutung des geringsten Lebensentschlusses, das alles ist möglich, das alles müßte geschehen, denn aller Wandlung Anfang ist Tun, wie ihr Ende Gestalt ist. Das andere kann nur Füllsel und Behelf sein.

Darf ich zum Schluß noch eine Stelle aus dem bereits zitierten Buch anführen, worin gleichsam der Verlockung eines Traumes nachgegeben ist? Es heißt da:

»Laudin machte eine Pause, strich über die Stirn und fuhr fort: Es schwebt mir etwas vor wie die Umbildung eines Gesellschaftsideals. Ein Gedanke, mit dem ich viel gerungen habe, und der immer wiedergekehrt ist, in allerlei Formen. Immer ging es um das Ich, immer um das Selbst; weil wir doch in Selbstheit und Selbsttum ertrinken. Bald handelt es sich um die Auslöschung des Ichs, bald um seine Sprengung, bald um sein Hinüberfließen in andere Gestalt. Ist ein Individuum in seiner Daseinsform unbefriedigt, so sucht es eine neue, ihm gemäßere und wahrscheinlich auch freudigere. Ich kann den Glauben nicht mehr von mir weisen, daß die Einzelpersönlichkeit, infolge der modernen Überbetonung und seit dem Christentum keine praktische Wirksamkeit zukommt, ihre Bedeutung eingebüßt hat. Es muß erst wieder Humus dafür geschaffen werden, Menschenhumus. Ich finde, der Einzelne ist nicht mehr wichtig für die Gesamtheit, soweit ihre seelische und sittliche Verfassung in Frage steht. Wichtig ist nur das Paar. Für jedes männliche und weibliche Individuum gibt es nur eine einzig mögliche Ergänzung, davon bin ich durchdrungen. Was die menschliche Gesellschaft durch die beständige Zunahme wirklich zusammengehöriger Paarwesen gewänne an Frieden, an Lust, an Schwung, an Reinheit und Reinlichkeit, ist kaum auszudenken. Daher sollte man alle Beschränkungen in der Wahl fallen lassen; Männer wie Frauen dürften nicht gehindert werden, weder durch das moralische Odium noch durch die Paternitätslast, weder durch Mutterschaft noch durch die Tugendprämie, alle im Bereich ihres Wunsches und ihrer Phantasie stehenden Erscheinungs- und Erlebnisformen der Liebe durchzuproben und auszuleben. Besitzen sie Instinkt, so werden sie ihn schärfen; regt sich in ihnen ein Wille zur Gemeinschaft, so wird er sie an ein Ziel führen. Nur nicht das, was jetzt Ehe heißt. Alles, nur nicht das. Besorge man nicht Verwilderung der Sitten oder gänzliche Auflösung. Was kann Schlimmeres kommen nach dem, was uns die Brust beschwert und den Geist verdüstert? Kein Preis ist zu hoch, selbst für den bloßen Versuch zur Wandlung. In jedem Menschen, auch im scheinbar gesetzlosesten, ist eine natürliche Neigung zur Gleichgewichtslage vorhanden. Die wird und muß über die Entartungen schließlich siegen. Ein hysterischer Krampf verkittet unsere Welt mit Bräuchen und Gesetzen, die einmal sinnvoll und notwendig waren, von denen aber heute nur die leeren Hülsen übriggeblieben sind. Seit wir die Todesstrafe abgeschafft haben, gibt es nicht etwa mehr Mörder, sondern weniger. Delikte erziehen Verbrecher, Strafen erzeugen Verbrechen. Es ist etwas im Menschen, etwas Wundersames; eine unauslöschliche Sehnsucht, daß dem Guten in ihm Vertrauen geschenkt werde, auch wenn von dem Guten nur ein winziges Korn da ist.«

Das ist alles, was ich vorzubringen habe. Ziehen Sie die Bedrängnis, in welche mich das Thema versetzt, in wohlwollende Erwägung, wenn Sie es unzulänglich finden.


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