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Zweiter Teil.
Reden und Prägungen


Rede über die Gestalt

Das Thema, über welches ich zu Ihnen sprechen will, ist nichts weniger als zeitgemäß, denn wir leben in einer von der Gestalt abgewendeten Epoche, ja, in einer, die die Gestalt nahezu verloren hat. Der Ursachen sind viele, sie stehen mit unserm ganzen Schicksal in Zusammenhang, und was an die Stelle der Gestalt getreten ist, kann leicht benannt werden; es ist die Meinung, die Gesinnung, die Doktrin, die Lehre.

Indem ich diese beiden Kategorien in einen Gegensatz bringe, Gesinnung, Meinung, Lehre einerseits und Gestalt andererseits, wird Ihnen vielleicht damit schon bewußt, was ich unter der Gestalt verstehe oder von welcher Richtung her sie zu erfassen ist. Sie ist das Beschlossene, das Feste, das Einmalige, das ein für allemal Begrenzte, das schwer Deutbare freilich, aber zugleich Augenscheinliche und Greifbare, mit einem Wort: das Lebendige. Gesinnung und Meinung hingegen sind das Fließende, Umrißlose, Wechselnde, Unbeständige, Unbestimmbare, Schattenhafte und Vergängliche.

Schwer deutbar nenne ich die Gestalt deswegen, weil sie, wie alles Lebendige, die Widersprüche des Lebens in sich trägt. Ja, sie ist geradezu die Trägerin der Widersprüche schlechthin. Beschäftigen wir uns zunächst damit.

Wenn Sie auf Ihre Erfahrungen mit Menschen und unter Menschen zurückblicken, wenn Sie sich vor Augen halten, was von einzelnen Personen Ihres Umgangs oder denen, die wesentlich in Ihre Existenz gegriffen haben, Gutes oder Schlechtes, Beweisendes oder Erläuterndes auszusagen ist, stoßen Sie sofort auf den Widerspruch. Der Widerspruch begegnet Ihnen in Ihrem eigenen Innern, er begegnet Ihnen in Gesicht und Wesen dessen, den Sie betrachten und beurteilen, er begegnet Ihnen schließlich in der Rede und im Zeugnis aller andern, die Sie befragen und anhören. Man kann getrost behaupten, und Sie werden es oft genug erlebt haben, daß niemals zwei Menschen über einen dritten derselben Meinung sind und auch nicht sein können. Das Auge trügt, Ihres und das des andern, die Miene trügt, die Sprache trügt, sogar das Tun und Handeln trügt. Es fehlt der Zwischenraum, es fehlt die Distanz, es fehlt der Vergleich und oft auch die Möglichkeit zum Vergleich, es fehlt der Maßstab, es fehlt das Unbedingte.

Und ebenso kann man behaupten, daß keine dieser Personen und daß niemand unter Ihnen irgendwie handelnd ins Leben zu treten vermag, ohne sich nach irgendeiner Seite dem Mißverständnis auszusetzen.

Der Widerspruch und das Mißverständnis scheinen also die notwendigen oder wenigstens unvermeidlichen Wirkungen des handelnden Menschen zu sein; der Widerspruch als ein innerliches, gesetzmäßiges Element, das Mißverständnis als ein äußerliches, soziales.

Nun ist aber die Person unseres täglichen Umgangs noch bei weitem keine Gestalt. Nehmen Sie Vater und Mutter, Bruder und Schwester, den Freund und die Geliebte, Sohn und Tochter; ziehen Sie den Kreis weiter und nehmen Sie alle die, die in Ihr Schicksal verwoben sind, alle die, von denen Sie beansprucht werden, alle die, zu denen Sie in sympathischer und bedeutender, in widerstrebender und flüchtiger Beziehung stehen, alle, die Ihnen dienen oder denen Sie dienen, die Ihnen helfen oder denen Sie helfen: eine Gestalt ist darunter nicht und kann nicht darunter sein. Es sind mehr oder weniger wichtige Funktionäre in Ihrem Dasein, Bestandteile eines großen Komplexes von Fügung und Verlauf, Spiel und Gegenspiel von Bewegungen, Handlungen und Charakteren, aber mit der Gestalt haben sie nichts zu schaffen.

Nicht einmal die sind noch Gestalt, deren Taten sich vor unsern Augen zu einer sichtbaren Einheit sammeln, politische Führer, Feldherren, Könige, die geistigen Häupter der Nation. Ich möchte etwas paradox sagen: gerade durch die leibliche Sichtbarkeit werden sie verhindert, als Gestalt zu erscheinen, und ich hoffe, daß dieses Paradoxon sich Ihnen bald als ein ganz natürlicher Vorgang enthüllen wird. Gestalt können sie erst werden, zur Gestalt können sie sich erst kristallisieren von einem ganz bestimmten Gesichtspunkt aus gesehen, einem sehr erhöhten und sehr entfernten, unter einer ganz bestimmten Betrachtung, die ihre typischen Eigenschaften teils verwischt, teils verklärt und ihre individuellen zum Maßstab und Vergleichsfaktor für eine große Zahl anderer soziologisch und psychologisch verwandter Existenzen macht. Mit einem Wort: sie müssen aus der bedingten Sphäre in die unbedingte emporsteigen.

Da aber einem solchen Prozeß das reale Leben mit seinen Widersprüchen und Mißverständnissen fortwährend hemmend und verzerrend entgegentritt, kann die Gestaltwerdung unmöglich durch Meinung und Urteil erfolgen, sondern durch eine davon unabhängige Macht, nämlich durch die Phantasie.

Nicht nur unabhängig ist die Phantasie von Meinung und Urteil; in den meisten Fällen verhält sie sich sogar feindselig dagegen.

Greifen wir zum nächstliegenden Beispiel. Prüfen Sie Ihre Eindrücke bei der Lektüre eines Buches, das Ihnen eine bisher unbekannte Gestaltenwelt eröffnet. Gestaltenwelt: es ist allerdings das Seltene schlechthin, aber der Fall kommt dennoch häufig genug vor, solange es Leser gibt, die den Weg zu Dichtern suchen. Nun, Sie werden, auch wo Sie willig sind, auch wo Sie mit reinem Sinn empfangen, alsbald die Wahrnehmung machen, daß gerade das Figurenhafte in der Darstellung Sie am meisten verwirrt; daß gerade dort, wo Sie das Körperliche finden, das Bild, das Gesicht, das, was Ihnen ohne Kommentar und Deutung plastisch und eigenlebend vor Augen tritt, Ihre Unsicherheit am stärksten erweckt wird, daß gerade dort der Widerspruch am trotzigsten sich meldet, dem Mißverständnis die reichste Nahrung geboten ist.

Woher kommt das? Ohne Zweifel von der getrübten Anschauung. Und wodurch ist die Anschauung getrübt? Ohne Zweifel durch Meinung und Urteil, oder durch Vor-Meinung und Vor-Urteil, was ja nicht ganz dasselbe ist. Sie ist getrübt durch Verstandes-Schlüsse, durch verfrühte Kritik, durch irregeleitete Kritik, durch übereiltes Wertmessen, durch falsche Analogie, durch den Mangel an Vertrauen, durch den Mangel an Hingabe. Sie sind eingestellt auf ein Wollen; Sie bemächtigen sich des Buches als wollender Mensch und nicht als schauender; das Wollen vergewaltigt das Schauen; Sie sind erfüllt von einem Wissen von woandersher, Sie tragen das Wissen absichtslos, aber zwangsläufig in die fremde Materie und verschleiern sich auf diese Weise selbst deren Form.

Vielleicht kann ich durch einen literarischen und literarhistorischen Exkurs besser verstanden werden.

Bei den uns überkommenen großen Dichtungen hat die Zeit, haben die Jahrhunderte selbsttätig das vollendet, was ihre Schöpfer von Anfang an erstrebten. Die Schlacke von Meinung und Gegenmeinung ist abgefallen; sie ist von der beständig mit ihr beschäftigten Phantasie der Generationen gleichsam weggeglüht worden; die Widersprüche, in und mit denen sie geboren, haben sich zu einer organischen Einheit zusammengeschlossen; die Nebel des Mißverständnisses sind gewichen, sind sozusagen von der Sonne der Unsterblichkeit aufgesogen worden, und nun stehen die ewigen Gestalten unangreifbar vor uns da, in gleicher Art gestützt durch Autorität wie durch Liebe. Die Zeit waltet da als eine Richterin von unantastbarer Gerechtigkeit; wir, die an die Stunde und an die Jahre gebunden sind, an die täuschenden Merkmale und trügerischen Wegzeichen dieser Gebundenheit, wir ahnen wenig und erfahren nichts von dem Sinn ihrer geheimnisvollen Verdikte, deren Ergebnis und Niederschlag wir Geschichte nennen; wir irren und wir müssen irren, sonst könnten wir gar nicht existieren. So wenig einer von vornherein sein eigenes Geschick erkennen kann, so wenig vermag er das Innerste und die Fügung der Dinge um sich her rein zu erkennen; das wäre gleichbedeutend mit der Aufhebung des Lebens selbst, dann wäre er Gott oder das Widerspiel Gottes, der Teufel.

So ist auch jede neue Gestaltenwelt und Gestaltenschöpfung aufs neue dem Irrtum unterworfen. Und soll es sein; denn darin erweist sie sich, daran entzündet sie sich; dadurch verkettet sie sich mit dem Allgemeinen und wird ein Teil des Lebens. Nur müssen wir eben zwischen Irrtum und Mißverständnis genau unterscheiden. Der Irrtum ist Sache des Gemüts und ein zeugendes Element, das Mißverständnis ist Sache des Intellekts und ein tötendes Element. Irrtum fehlt; Mißverständnis sündigt; Irrtum schafft Leiden, Mißverständnis schafft Dunkelheit und Haß.

Wo und wann immer die Gestalt auftaucht, ist sie dem einen oder dem andern preisgegeben oder auch beiden, und der in ihr selbst ruhende Widerspruch, als ein Bestandteil ihres Seins, Bestandteil jeglicher mit Willen und Besinnung begabten Kreatur, tut das übrige hinzu, sie zur Zielscheibe des Haders und der kämpfenden Leidenschaften zu machen. Ich erinnere Sie an die Fehden, die Erscheinungen wie Hamlet oder Don Quichotte das ganze achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert hindurch aufgerührt haben; an das Für und Wider heftig erregter Meinungen um eine Figur wie Goethes Werther; an die zahllosen Auffassungen, Erklärungen, Deutungen des Faust; an den Sturm, den ihrer Zeit die Hebbelsche Judith hervorrief oder Jahrzehnte später Ibsens Peer Gynt und Nora. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, aus jedem Bezirk der Kunst, aus jedem auch der Religion und der Geschichte. Ich selbst, in meinem engen Kreis, wenn es erlaubt ist, davon zu sprechen, habe immer die Erfahrung machen müssen, daß gerade das Gestalthafte und Gestaltete am meisten Zweifel und Ablehnung, Unsicherheit und Befremden erweckte, und oft war mir zumut, als hätte ich etwas gebaut, was nur für mich und die Augen weniger naher Menschen vorhanden war, für die übrige Welt aber aus eitel Dunst bestand. Man wollte den Augenschein nicht annehmen; man vermutete Absichten, wo keine waren; man erklärte, nicht sehen zu können, was so unleugbar dastand wie ein Tisch; man argwöhnte Beziehungen nach außen, wo nur im Gebilde sich alles aufeinander bezog; man fragte, was unmöglich zu beantworten war; man wollte Nutzzweck und Nutzanwendung finden und haben, wo Bild und Symbol nach ihren besonderen Gesetzen wirkten. Erst die Jahre, auch in meinem engen Kreis, machten das Unsichtbare langsam sichtbar und beruhigten mich darüber, daß ich mich nicht in phantasmagorischen Spielereien verblutet hatte. Es war der umgekehrte Vorgang wie im Märchen mit des Kaisers neuen Kleidern, und bisweilen wieder erschien ich mir wie der Clown, der auf die Bühne kommt, seinen Hut und Rock vertrauensvoll an einen eingebildeten Nagel in der Luft hängt und nicht bemerkt, daß sie am Boden liegen, denn die Leute sagten ja immer: Was will der gute Mann? Führt er uns oder führt er sich selbst hinters Licht? Da ist ja gar kein Nagel, da ist nicht einmal eine Wand.

Ich will damit weder anklagen noch mich beklagen: es ist ein beinahe selbstverständliches Los. Was an Dichtungen, an Kunstwerken zunächst Eindruck macht, heute Eindruck macht, ist nicht, was in ihnen geformt ist, sondern was sie aussagen. Entweder eine allgemeine Lebensstimmung des Urhebers, sein Verhältnis zu gewissen Fragen und Problemen, seine Gefühlseinstellung; oder die Art der Stoffbehandlung, die Führung der Fabel, die Originalität, die Neuheit, die Bizarrerie der Erfindung, die Leidenschaft und Eigenwilligkeit der Darstellung, stilistische Besonderheit, bildnerische Besonderheit, im ganzen irgend etwas Ungewohntes, Beiseitiges, Nervenreizendes, Fesselndes oder auch Abstoßendes, dem Verstehen, dem Empfinden mehr als dem Schauen Zugängliches; selten die Gestalt, eigentlich von Jahr zu Jahr seltener, wie man leider beobachten kann. Natürlich hängt das aufs innigste mit der Geistesverfassung der Epoche überhaupt zusammen, ihrer Ideensucht und individualistischen Zerstückung; darüber ausführlich zu werden würde mich vorerst zu weit ablenken; ich will später darauf zu sprechen kommen.

Die letzte universelle Wirkung der Gestalt war die der Dickensschen Welt. Sie scheinen ungläubig; Sie stutzen; Sie halten mir den Namen Tolstoi, den Namen Dostojewski entgegen. Gut; beschäftigen wir uns ein wenig mit ihnen. Es soll und kann nicht gründlich geschehen, es soll nur von einem möglichst hohen Blickpunkt aus geschehen, etwa wie wenn wir auf einer Warte über den Zeiten stünden und uns schmeicheln könnten, daß wir die höchsten Geistesspitzen der Vergangenheit überschauen. Ungeachtet der Größe der Konzeption und der schöpferischen Genialität stehen Tolstois Menschen, namentlich die des älteren Tolstoi, selten vom ethischen, religiösen, lehrhaften Willen des Autors abgelöst da; denken Sie an den Besuchow in »Krieg und Frieden«, an den Lewin in »Anna Karenina«, Figuren, die die entschlossene Beharrlichkeit des Dichters von Anfang an auf ein tendenziöses Ziel gerichtet hält, mit dem er sich als Dichter völlig identifiziert. Und darin eben liegt das Doktrinäre; es liegt, ich möchte sagen, in der Aufhebung der Ironie, in dem Fallenlassen der ironischen Beziehung. Die Formel ist nicht mein Fund; ich weiß nicht, von wem sie stammt, aber sie ist richtig, sie ist sogar tief, und ich bin stolz darauf, sie hier anwenden zu können. Eine solche ironische Beziehung entsteht durch das freie Über-dem-Stoff-Schweben des Dichters; sie braucht durchaus nicht humorhaft oder humoristisch ausgeprägt zu sein und hat in diesem Sinn auch nichts mit der romantischen Bedeutung zu tun, an die wir uns gewöhnt haben bei dem Wort Ironie zu denken, und erst recht nichts mit der landläufigen. Sie bezeichnet eine edle Art der Distanz, die das vom Dichter Geschaffene in ein durchsichtiges Medium hebt, gleichsam in den ewigen Äther. Ist es bei Tolstoi das Aposteltum und der Erzieherwille, der die Gestaltungen trübt und an reiner Wirkung hindert, so daß der, der unter sie tritt, niemals ganz unvergewaltigt bleibt, sich niemals ganz unbeeinflußt in ein Verhältnis zu ihnen setzen kann, so ist es bei Dostojewski der Erlösungsglaube, der Erlösungstrieb, ein überaus leidenschaftlicher, leidenschaftlich-ungeduldiger Zustand in der Seele des Schöpfers, von dem er sich in keinem Augenblick seines Schaffens befreien kann und mag, der hinüberflammt in alle Ecken und Winkel seiner Welt und die Menschen, die er bildet, in jeder Regung, Gebärde und Handlung zu nahe, zu krampfhaft mit ihm selbst, mit seiner Sehnsucht, seinem Verlangen, seinem Tun und Leiden verschweißt. Unaufhörlich sind sie qualvoll an ihn geklammert, unaufhörlich ringt er im Werk und im Werden mit ihnen, leibhaftig, auf offener Szene sozusagen, und dieser Prozeß, der die Beschäftigung mit ihnen so außerordentlich peinigend macht, ja geradezu lebensverfinsternd, ist bei den großen epischen Dichtungen der Vergangenheit, um im Bilde zu bleiben, hinter die Szene verlegt. Deshalb wirken sie lufthafter, figurenhafter, schwerloser.

Und deshalb sage ich auch, daß die Dickenssche Gestaltenwelt, ohne daß ich damit eine Rangstufung geben will oder mich unterfange, zu richten, die vorläufig letzte war, die vom Bewußtsein der Aufnehmenden als eine freischwebende empfunden wurde, trotzdem sie soziale und pädagogische Absichten keineswegs verhüllte; es ist ja bekannt, daß die Reformierung der Schul- und Waisenhausgesetze, die Änderung des Gerichtsverfahrens und die Aufhebung der Schuldhaft in England auf gewisse eindringliche und unvergeßbare Darstellungen bei Dickens zurückzuführen sind. Das erhöhte nur seine national-repräsentative Bedeutung, aber die eigentliche Wurzel seiner ungeheuren Popularität, seines Einflusses und seines Ruhms lag in der Echtheit, erzählerischen Naivität und freischwebenden Glaubhaftigkeit seiner Figuren, von denen, ob sie Engel oder Teufel waren, und eins oder das andere waren sie ja zumeist, wunderliche Originale oder romantische Helden, eine Fülle des Behagens und des Märchenglücks ausströmte, wie sie seitdem kein Schriftsteller mehr der Menschheit gegeben hat.

Dabei drängt sich eine sonderbare Erkenntnis auf: nämlich, daß es nicht oder in der Regel nicht die künstlerisch vollendeten Werke sind, die solche weitreichende Wirkung haben; es kommt da irgendeine menschliche Kraft hinzu, eine liebenswürdige Schwäche sogar, eine Stimmung der Zeit, und zumal was die repräsentative Bedeutung betrifft, scheinen Eigenschaften im Spiel zu sein, die zur künstlerischen Vollkommenheit in direktem Gegensatz stehen; Thackeray ist ein viel strengerer Künstler als Dickens, und doch ist es dieser, der als der wichtigere, jedenfalls umfassendere Zeuge für das viktorianische Zeitalter zu gelten hat; Flauberts »Madame Bovary« ist als Kunstwerk zweifellos den »Misérables« von Victor Hugo überlegen, und doch ist es diese Schöpfung, die man als die repräsentativere ansehen muß. Die Ursache davon ist die Gestalt, ihre größere Breite, ihre höhere Lebensfähigkeit, ihre stärkere Vitalität, ihre deutlichere Sprache und umfassendere Form.

Sie werden mich nun, vielleicht beunruhigt, vielleicht ungeduldig, sicher jedoch mit Recht, zur Rede stellen: Was ist denn eigentlich die Gestalt? Wie entsteht sie? Wodurch ist sie bedingt? Was macht ihr Besonderes aus? Was ist ihr Wesen? Was ist ihre Grenze? Und vor allem: warum sprichst du von ihr, als sei sie das Arkanum unserer Welt, eine Art göttliches Geschöpf –?

Ich gestehe offen, daß Sie mich, indem Sie mir so die Faust auf die Brust setzen, in einige Verlegenheit bringen, obwohl ich darauf gefaßt sein mußte, denn wenn einer immerfort von seinem Alleinheilmittel für alle Nöte redet und immerfort behauptet, sein Prophet und Wundergeist sei der größte von allen Propheten und Wundergeistern, so ist den Zuhörern schließlich nicht zu verübeln, wenn sie zu wissen begehren, was es mit diesem Propheten auf sich hat und wer er ist. Nun, er ist freilich ein ungemein sonderbarer Geist; er erscheint dem, der ihn sieht und der ihn glaubt, und wer ihn leugnet und nicht spürt und nicht aus dem eignen Innern ihn beschwören kann, der bekommt ihn nie zu Gesicht. Das ist keine Bosheit bei ihm, keine Prophetenlaune, keine bequeme Manier, sich Anhänger zu verschaffen, es ist seine unveränderliche Art, eine Art, die nicht auf ein Sein schlechthin gestellt ist, sondern auf ein beständiges Werden und Entstehen. Es ist die Art der Geister: sie suchen den Geist, und erst vor dem Geist und im Geist können sie sich als existierend beweisen.

Ich nehme an, daß jemand unter Ihnen sich erhebt, um durch eine Reihe von Fragen meiner Bedrängnis zu Hilfe zu kommen und mir die Schwierigkeiten der Auseinandersetzung zu erleichtern. Er stellt mir die Frage: Ist es schon Gestalt, wenn ein Maler, ein Bildhauer Züge, Figur, Haltung, Kleidung, Ausdruck eines Menschen seiner Nähe getreu und natürlich auf der Leinwand oder in Ton darstellt, so daß alle, die diesen Menschen kennen, einer Meinung darüber sind, nicht nur, daß es eben dieser Mensch ist, sondern daß auch sein ganzes Wesen, die verdeckten Möglichkeiten seines Charakters in dem Bild, in der Form einmalig und erschöpfend zur Erscheinung gebracht sind?

Ich muß antworten: Nein, es ist noch nicht Gestalt, es genügt nicht. Sie gehen ziemlich weit in der Definition, aber es genügt nicht.

Der Herr fragt abermals: Wenn ein Schriftsteller irgendeine ihm genau bekannte Person mit allen ihren Eigentümlichkeiten, Schwächen, Tugenden und Lächerlichkeiten, mit der nur an ihr bemerkbaren Art zu reden, sich zu bewegen, zu fühlen und zu denken sogar, mit ihren Handlungen und ihrem ganzen Schicksalskomplex endlich getreu und natürlich schildert, so daß wir dieses Stück Leben zusammengefaßt und überschaubar miterleben, ist das nicht Gestalt?

Ich antworte: Nein, es ist noch nicht Gestalt, es genügt nicht.

Der Herr wird unzufrieden. Er sucht nach Beispielen. Er ruft die Geschichte und seine literarischen Eindrücke und Erfahrungen zu Hilfe. Er nennt das Raffaelsche Porträt des Papstes Julius; er weist auf den Medici von Michelangelo hin, auf den Balzac von Rodin und schließlich auf den Hjalmar Ekdal in Ibsens »Wildente«, lauter Personen entweder aus dem Umgangskreis oder aus der geistigen Sphäre der betreffenden Künstler.

Ich sehe mit Vergnügen, daß es ein sehr gebildeter Herr ist, den ich vor mir habe, und daß ich mit ihm mich werde verständigen können. Er hat mit Geschmack und Sicherheit vier wirkliche Gestalten herausgegriffen, und ich halte mich an ihnen fest.

Ich sage: Dieses Raffaelsche Porträt ist nicht bloß der zufällige Papst Julius, wie er sich an einem zufälligen Tag im Auge eines immerhin ungewöhnlichen Malers gespiegelt, sondern er ist viel mehr. Er ist der Kirchenfürst, der mit der geistlichen auch die weltliche Macht seines Amtes usurpiert und behauptet; er ist der kühne Kondottiere der Epoche, gekleidet in das Gewand des höchsten Priesters; er ist die Idee des Papsttums schlechthin, angeschaut und geformt von einem Manne, dem alle Hilfsmittel des Genies zu Gebote standen und der es vermochte, durch die Schärfe seines Blicks, die Tiefe seiner Ahnung, die Gewalt seiner Inspiration den ungeheuren Lebensstoff, den die Mitwelt nur chaotisch und Teil für Teil erfassen konnte, in einem Brennpunkt zu sammeln und für alle Zukunft gültig und bezeichnend zu machen.

Nicht anders, nur den Umständen gemäß modifiziert, verhält es sich mit dem Bildnis des Mediceers in Florenz, nicht anders mit der Rodinschen Statue Balzacs. Sie sind weit über die veranlassenden Objekte hinaus Prägungen eines Stücks Menschheits- und Geistesgeschichte, im Feuer der Anschauung geschmolzene Blöcke, denen Gesicht und Rede geworden ist, und ersparen dem, der seinerseits zu schauen versteht, die Lektüre ganzer Bibliotheken oder ganzer Jahrgänge von Zeitungen. Sie sind einzige Zusammenfassungen des sonst wahllos und dämmungslos verlaufenden Daseins, Marksteine der Entwicklung, vertikale Gebilde inmitten der unerhobenen Flächigkeit der Begebnisse. Sie gewahren dort einen Fürsten, der auf dem Gipfel des Gelingens und des Reichtums, im Wirbel von Tun und Geschehen zum besinnenden Menschen erwacht, als welchem sich ihm der Unwert und die Vergeblichkeit der irdischen Dinge zeigt, so daß er wie ein Ruhender zwischen Tod und aufgewühlter Zeit sitzt und sein Antlitz eine erschütternde Erzählung der Schicksale seiner Welt ist; hier den Poeten, umdrängt, umstürmt von seinen Visionen und sie bändigend, beschwörender Zauberer über einem rasenden Meer, typische Figur zugleich der nachnapoleonischen Zeit, wie in einem grandios erträumten Augenblick hingestellt vor die Ewigkeit, Richter und Seher. So weit ist der Rahmen um Hjalmar Ekdal nicht gezogen; in der neueren Dichtung sind die Maße und Formen zaghafter und kleiner; doch ist die Darstellung des liebenswürdigen Lügners und kraftlosen Illusionisten durchaus symbolisch für den bürgerlichen Zersetzungsprozeß in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, Kristallisation einer Gesellschaftsschicht, hervorgebracht durch den glühend-ingrimmigen Hohn in der Seele des Dichters und täuschend wahr durch die nachahmenden Züge des realen Lebens.

Mein Herr ist nicht recht überzeugt. Er schüttelt den Kopf. Er hat verschiedene Einwände bereit. Er will wissen, ob es sich bei dem Begriff Gestalt um ein dichterisches, ein künstlerisches Erlebnis handeln müsse; ob nicht ein Staatsmann, der der Nation wesentliche Dienste geleistet oder in irgendeiner Art zum Vorbild geworden ist, ebenso Gestalt werden könne; ein Volksheld, der ausgezeichnete Taten vollbracht; ein Soldat; ein politischer und religiöser Reformator; die Geschichte zeige es ja; man brauche nur an Bismarck zu denken, an Martin Luther, an Garibaldi, an Radetzky, von viel gewaltigeren Erscheinungen wie Buddha oder Christus ganz zu schweigen. Und auf der andern Seite müsse es nicht unbedingt das menschheitfördernde, beglückende und lichte Element sein, das gestaltenbildend wirke; es könne auch ein groß angelegter Verbrecher sein, ein sonderbarer Narr, ein blutdürstiger Tyrann, ein Unruhstifter aus der Provinz, ein Nero und Dschingiskhan so gut wie ein Till Eulenspiegel und Hauptmann von Köpenick.

Ich bin weit entfernt, die Richtigkeit dieser Bemerkung zu bestreiten. Denn die Sache ist die, daß Zeitferne und Zeitverkauf, mündliche Tradition und liebende Erinnerung dieselbe Arbeit verrichten wie die Phantasie des Dichters und künstlerischen Schöpfers. Ist uns nicht Gretchen wie eine lebendige Figur, eine die gelebt hat nämlich, oder Wilhelm Meister, oder der Grüne Heinrich, oder Sancho Pansa, oder der Tartüff, oder Falstaff? Sind sie nicht Lebensgefährten und Lebensdeuter geworden, trotzdem sie nur der Einbildungskraft von Dichtern ihr Dasein verdanken? Und sind andrerseits nicht Alexander der Große, Cäsar, Hannibal, Savonarola, Robespierre, Friedrich von Preußen, Schill, Moltke wie gedichtete Figuren? Sobald ein Vorgang oder eine Person in den umwandelnden Strom des Mythos gerät, nimmt sie Gestalt an, erhöht sich über die Zeiten und überdauert sie. Können Sie doch Ansätze zur Mythenbildung schon im kleinen Alltagsleben beobachten, wo sie als willkürliche Umbiegung von Tatsachen, als verworrenes Gerücht und Hörensagen, als Entstellung sogar und Lüge auftreten; und wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit dem Leben des Kindes widmen, so wird Ihnen nicht entgehen, daß sein Geist immerfort sich mythenschaffend betätigt, vom wesenlosen Traum angefangen bis zum phantastischen Verlust aller Wirklichkeit.

Freilich, welcher Eigenschaften und Konstellationen es im einzelnen bedarf, damit etwas, damit einer Gestalt wird, ist schwer zu ergründen und kaum anzudeuten. Es muß wohl dabei eine immanente und allen Menschen innewohnende Sehnsucht nach Gesetzmäßigkeit und nach dem Bilde mitspielen; es muß ein ganz bestimmter Zeit-, Volks- und Menschheitswillen dabei zum Ausdruck und zur Erscheinung gelangen, das Bedürfnis nach einer greifbaren Anschauung der irdischen Dinge und Geschicke, ihres Bestandes, ihres Verströmens, ihrer Lösung. Doch muß es nicht gerade die sichtbare Figur sein; es kann auch die hörbare sein, sonst wäre der schöpferische Musiker dieser Sendung beraubt; es muß nicht die Wiedergabe des gemeinen Lebens, sein Gesicht- und Gebärdenhaftes sein, nicht sein wörtliches Teil sozusagen, sonst wären die großen Baumeister der Vergangenheit keine Gestaltenbildner gewesen, was sie doch im höchsten Sinne waren, diese herrlichen Handwerker, die die Fähigkeit besaßen, die Andachtsempfindungen einer Religionsgemeinschaft in magische Erstarrung zu bannen, oder dem Fleiß der Zünfte charaktergebende Siedlungen, den Prachtgelüsten der Fürsten kunstreich-organismenhafte Paläste zu schaffen.

Ich würde den Boden unter den Füßen verlieren, wenn ich den Verlockungen des Gegenstandes zu nachgiebig folgen würde, und will bei der Gestalt als dem körperhaften Wesen bleiben, dem menschenähnlichen Sinnbild, das in einer höheren Region eine Welt für sich bewohnt. Und so, denke ich, kann ich der ferneren Dienste meines imaginierten Herrn entraten.

Unleugbar ist, daß die Betrachtung der Gestalt und die Hingabe an sie ein Lustgefühl auslöst, und nach der Quelle dieses Lustgefühls zu forschen ist nicht unwichtig, da wir doch den Gegenstand in seiner ganzen Breite und Tiefe erkennen wollen. Es scheint mir nun kein Zweifel daran zulässig, daß der in der Gestalt ruhende Widerspruch der Urheber ist, eben derselbe Widerspruch, den wir bezichtigt haben, daß er die Gestalt verdunkelt und schwer deutbar macht. Analysieren Sie Ihre Eindrücke bei der Begegnung mit einer dichterischen, einer geschichtlichen oder einer mythischen Gestalt, so werden Sie alsbald entdecken, daß der Ursprung der in Ihnen erregten Freude tiefer reicht, als sich nur aus der bloßen Unähnlichung an das reale Leben ergibt, tiefer auch als das Spiel von Farbe, Bewegung, Verflechtung und Schicksalskombination. Es ist der Widerspruch zwischen dem Moment der Erfahrung, der in Ihnen selbst, in Ihren aufnehmenden Sinnen liegt, und dem Moment der Überraschung, der im dargestellten Objekt liegt. Indem Sie beständig Ihre Erfahrung, Ihre einfache Lebenserfahrung an dem Werden, Sein und Tun der vor Ihrem Auge sich Zug für Zug verleiblichenden Gestalt messen, sind Sie Zug für Zug derselben Verwunderung ausgesetzt (ich betone das Wort Verwunderung und bitte Sie, es in seinem hintergründigsten Sinn aufzufassen), den Ihnen die Selbstwilligkeit und organische Gebundenheit jedes organischen Prozesses an sich einflößt, der Anblick jeder lebendigen Kreatur auch, sofern die Erscheinung nicht moralisch oder spekulativ getrübt ist. Denken Sie zum Beispiel an die durchaus unerwartete Todesfurcht des Prinzen von Homburg und wie diese seelische Explosion die Figur rundum plastisch formt, wobei die Verwunderung des Zuschauers und Zuhörers beständig in stärkstem Maße erregt wird. Diese »Verwunderung« setzt sich aus Spannung und Befriedigung zusammen, und die zwei Worte müssen ebenfalls in ihrem hintergründigsten Sinn genommen werden, denn mit der Ablösung des einen Gefühls durch das andere und der Steigerung des einen durch das andere wird bewirkt, daß Sie nicht nur zum Genuß, zum freudigen Genuß gelangen, sondern daß Sie auch schöpferisch gestimmt werden, mitschöpferisch, und das ist viel mehr, es ist eine lebenerhöhende Funktion, es ist die Verwandlung des Menschen durch die Phantasie.

Und das ist, was die Gestalt bedeutet: Verwandlung des Menschen durch die Phantasie.

Ein großes Wort! Und wie es bei solchen Worten geht: wenn ich im einzelnen den Beweis erbringen müßte, hätte ich einen schweren Stand. Aber glücklicherweise wird ja im einzelnen der Beweis nicht gefordert, da kann nur jeder für sich selbst zeugen, und danach wird sich eine Scheidung zwischen Empfänglichen und Unempfänglichen, zwischen Begnadeten und Ausgeschlossenen leichterdings ergeben, zwischen denen, die in, mit und von der Phantasie leben, und denen, die aus ihrem Bezirk verbannt sind und ihn dann auch freiwillig und mit mehr oder weniger triftigen Argumenten meiden.

In der Phantasie leben, das heißt: in der Anschauung leben. Die Gestalt muß angeschaut werden, innerlich angeschaut nämlich, um da zu sein. Manche glauben, man brauche, um Anschauung zu haben, nur – anzuschauen, und der gemeine Sprachgebrauch hat das Wort so weit erniedrigt, daß er den Begriff der Anschauung zu einem Synonym für Meinung und Gesinnung gemacht hat, welcher Austausch gegensätzlicher Dinge eine grenzenlose Verwirrung herbeiführen mußte, denn schließlich und letztlich sind es ja die Worte, die unser geistiges Verhältnis zu den Lebensvorgängen bedingen. Anschauung ist ein Zustand absoluter Unschuld. Anschauung hat das Kind und hat, auf dem Gipfel der Entwicklung wieder, der völlig gereinigte und veredelte Geist. Man muß Liebe besitzen, um anschauen zu können, man muß die Fähigkeit zur Hingabe besitzen oder erworben haben; man muß sich selbst vergessen können, damit man durch die Gestalt zu einer höheren Stufe des Daseins gelangt. So macht ja auch der Liebende aus der Geliebten eine Gestalt; er vergöttert sie, wie man sogar gemeinhin sagt, und erhöht sich selbst dadurch; denn was die Realität ihm bietet, hat wenig mit der Schöpfung seiner Phantasie zu tun.

Ich habe die Todesfurcht des Prinzen von Homburg als gestaltformend erwähnt. Aber dies ist als Motiv schon zu umfassend, viel zu bedeutend, um kurzweg einzuleuchten. Die kleinen Züge, die kleinen Brechungen, die unscheinbaren Hemmungen, gewisse Einschiebsel, die auf den ersten Blick als überflüssig wirken, ein richtig gestelltes, richtig betontes und deshalb unvergeßliches Detail können weit besser den phantasiemäßigen Einprägungsvorgang illustrieren, der sich bildnerisch am stärksten kundgibt, wo sich das Hohe der Darstellung mit dem Geringen, ja Niedrigen des Lebens vermengt. Ich erinnere Sie an die Szene in den »Brüdern Karamasow«, in der der verhaftete Mitja sich weigert, die Unterkleider auszuziehen, weil er sich vor der Entdeckung ihres schmutzigen Zustandes fast ebenso schämt, als ihm der Mordverdacht Qualen verursacht. Hier ist das Niedrige mit grandioser Kühnheit ins Hohe verwoben, und das bleibt dem schauenden Auge als Charakterfarbe wie als Schicksalszug unvergänglich einverleibt.

So werden auch die großen geschichtlichen Personen dem Andenken tiefer verkettet und dem Bewußtsein nähergerückt durch das eigentümlich Verräterische, das heißt wider Willen Übertragene ihres kleinen privaten Seins als durch die pathetische Führung und Haltung ihrer Aktionen, und der eine Zug, daß Wallenstein eine lächerliche Furcht vor dem Krähen der Hähne gehabt habe, gestaltet den Menschen mittels einer plötzlichen, durch Überraschung, das heißt durch den Verrat des Objekts an das Subjekt hervorgerufenen Phantasie-Entzündung. Man könnte so einen Index der unsterblichen Gestaltungsrequisiten aufstellen: Wallensteins Hahn; und den Krückstock des Alten Fritz; und Martin Luthers Tintenfaß; und Bismarcks Tabakspfeife; und Don Quichottes Rosinante; und Rübezahls Bart; es ist, wie wenn ein Funke in den undurchdringlichen und undurchsichtigen Quaderstein des Lebens dringe, um ihn zu sprengen und in seinem Aufblitzen den Gang der Blutadern und die Verflechtung der Nerven zu zeigen.

Dies wäre das Einzelne. Was nun das Ganze betrifft, Gemüts- und Geistesleben im weitesten Umfang, ist zu sagen, daß, seit Völker eine Geschichte haben, sie auch von der Gestalt geführt werden, sei es von der historisch-mythischen Gestalt, sei es von der dichterischen kunstgeborenen, die dann im Dunkel der Zeiten, wo Sage und Vorgang, Geschehnis und Traum eins werden, allmählich und unabwendbar in jene hinüberfließt, sofern sie nur genug Kraft, Größe und Bedeutung hat.

Ist es nötig, Ihnen Phantasieprozesse ins Gedächtnis zu rufen, Figurationen und märchenhafte Bildungen, deren Einwirkung Sie ebensogut kennen wie ich? die durch lange Ketten von Geschlechtern hindurch Beglückung, gläubiges Zutrauen, heitere Besinnung hervorgebracht haben und Not und Unwürde des Tages überwinden halfen? Es ist da Fülle und Überfülle: die deutsche Gestalt des Kaisers Rotbart und die russische des rätselhaft entschwundenen Zaren Alexander und die schwedische des zwölften Karl; der Messias und der ewige Jude Ahasver; Richard Löwenherz und Jeanne d'Arc; alle die Heiligen der Kirche, die Helden der großen Kriegszüge; alle die Halbgötter und Halbdämonen, die sich das Volk erschafft und nach überlieferten Zügen umformt, an denen es gleichsam spinnt und die es mit seiner Liebe am Gigantischen, Unheimlichen, Seltsamen, Spukhaften, Zaubervollen zum Spiegel seiner Art, zum Ziel seiner Sehnsucht macht; alle die Bösewichter, die Sonderlinge, die Abenteurer, die großen Lächerlichen, die Diebe, sogar die Mörder; ich erinnere Sie an Figuren wie Schinderhannes oder den Seeräuber Störtebecker, mit denen die Einbildungskraft des Volkes einen wunderlichen dunklen Kultus trieb. Auf höherer Ebene dann: ein Münchhausen; Rattenfänger von Hameln; Graf von Monte Christo; Robinson Crusoe; und höher noch: die Gargantua, Simplicius Simplicissimus, Götz von Berlichingen, Michael Kohlhaas, Jürg Jenatsch, Minna von Barnhelm, Knecht Uli, David Copperfield; eine Welt für sich voll Beispiel, Gesetz und typischer Geltung. Wer möchte ohne sie leben? wer könnte ohne sie leben?

Hier stock ich allerdings. Wer könnte ohne sie leben: die Frage scheint absurd, denn die Antwort lautet offenbar: zur Not ein jeder, und die Not müßte nicht einmal groß sein, dünkt mich, dünkt Ihnen. Aber tiefer betrachtet würden wir allesamt in den Zustand der Wildnis und düstersten Barbarei herabsinken ohne sie, und in Wahrheit wäre eine schlimmere Not gar nicht zu denken. Ich sehe ab von dem leicht zu beweisenden, oft bewiesenen und ganz ungeheuren Einfluß, den die griechische, die antike Gestaltenwelt auf die europäische Kultur, das Gefühls- und Geistesleben, die Kunst, die Wissenschaft und die Philosophie des Abendlands ausgeübt haben; ich sehe ab von andern historischen und äußeren Bedingtheiten und allen allgemeinen Formulierungen. Fragt mich einer auf den Kopf zu: könntest du leben ohne Achilles, ohne Antigone, ohne Ödipus, ohne Laokoon, ohne Thersites; könntest du wirken und schaffen ohne Hagen von Tronje und Kriemhild, ohne Gil Blas und Hamlet, ohne Tasso und Niels Lyhne, so wird mein niederer Instinkt vielleicht mit ja erwidern, aber Erkenntnis und Weltgefühl werden mich bald eines Bessern belehren; sie verraten mir, daß ich, wie ich bin, gar nicht wäre ohne sie. Nicht bloß meine geistige und seelische Verfassung wäre eine andere, auch die physische könnte dieselbe nicht sein. Es klingt sonderbar und doch ist es so; auch im leiblichen Sinn ist jede Kreatur das Produkt ihrer Ahnen aus dem Geisterreich, selbst wenn man nur, rein rationalistisch, die unendliche Zahl der Schicksalsmöglichkeiten erwägt, die sich vom Wirklichen hinüber in das Gebiet des Traumes und der okkulten Zusammenhänge spinnen. Geschichtlich betrachtet schon, und das ist mühelos zu erhärten, wären die nationalen Gruppierungen, Geschicke und Konstellationen völlig veränderte, um wieviel mehr erst die individuellen.

Es ist uns von diesen fernen und zugleich nahen Freunden und Gefährten, Führern und Beratern, Wegweisern und Wegwarnern längst nicht mehr bewußt, daß sie von Jahrtausenden her unsere Schritte lenken und auch dem, der ihre Namen nicht kennt, von ihrem Wesen nie etwas erfahren hat, sich auf alle nur erdenkliche Art geheimnisvoll verschmelzen. Hervorgerufen aus dem Traum, werden sie Wirklichkeit; erzeugt von der Kunst, werden sie Natur; längst ereilt vom leiblichen Tod, werden sie wichtigstes, gesammeltestes Leben. Sie treiben uns zu unsern Entschlüssen, sie geben den Ereignissen um uns den Rhythmus, den Dingen die Farbe, den stummen Vorgängen in der Seele die Sprache. Sich mit ihnen beschäftigen heißt das gewaltige Bilderbuch der menschlichen Leidenschaften und Torheiten durchblättern, heißt ahnend werden, wissend werden, sehend werden. Es entfaltet sich aus ihnen jene strenge und bange Erfahrung vor der Erfahrung, die ein geisterhafter Schauer unbekannter und wohltuender Gesetzlichkeit ist, ein Versprechen, das sie immer und zu allen Zeiten in das Herz der Kinder und der jungen Menschen legen. Sie sind die wahren Dolmetscher zwischen den Völkern, die vertrauenswerten Boten, die verläßlichen Bejaher des Daseins. Wer ohne die Gestalt lebt, versteht eigentlich nie, er mißversteht immer; er schaut nicht, er blickt nur; er faßt nicht, er tastet nur; er hört nicht, er vernimmt nur; er spricht nicht, er redet nur; er lebt nicht, er existiert nur.

Eines Tages kam ein junger Mann zu mir und fragte mich, wie man leben solle. Das geschieht bisweilen, und es versetzt mich stets in die nämliche Bestürzung. Im Lauf des Gesprächs griff ich nach irgendeinem Buch; es waren die Märchen der Tausendundeine Nacht; ich schlug es auf, und die Geschichte, die ich aufschlug und ihm hinreichte, war die von Aladdin und der Wunderlampe. Er sah mich erstaunt an und fragte: wie kann ich denn daraus entnehmen, wie man leben soll? Ich antwortete ihm: es ist nicht zu erklären, wenn Sie es nicht auch daraus entnehmen können. Daraus oder aus dem Danteschen »Inferno« oder aus dem Holbeinschen »Totentanz« oder aus der Bachschen » H-moll-Messe« oder aus Goethes »Dichtung und Wahrheit« oder aus dem Anblick des Doms von Bamberg: es ist letzten Endes dasselbe, und eins ist ein Zeichen für alle und für alles.

In dem Bezirk der Gestaltungen kommt es nicht auf Gut und Böse an. Hier ist man eigentlich so recht jenseits von Gut und Böse. Worauf es ankommt, das ist die Erscheinung: was sie vom Leben hat und was sie vom Leben gibt. Der Kontur ist wichtig, die helle Abgrenzung gegen den finstern Hintergrund Schicksal. Was in den Kontur hineinschlüpft, wovon er anschwillt und zittert, was in ihm verdichtet ist, darauf kommt es an. Und davon geht ein ganz bestimmtes sinnliches Behagen aus, ein tröstliches Wohlgefühl, das seinen Ursprung in der Aufhebung der menschlichen Einsamkeit hat. Die Geschöpfe, mit denen wir in der Realität des Daseins verbunden sind, selbst die zugehörigsten, die geliebtesten, heben die Einsamkeit, an die wir ehern geschmiedet sind, nicht auf. Das Verhältnis zu ihnen ist niemals von endgültiger Sicherheit und Beschlossenheit; der Ring der Möglichkeiten, in dem wir mit ihnen stehen, ist noch offen; ihr Tun und Sein entfaltet sich mit unserm, und die Grundempfindung gegen sie, die unaustilgbare, ist die Angst, sei es Angst vor Verlust, sei es Angst vor zugefügtem Übel. Die Gestalt allein hebt die Einsamkeit auf, die Gestalt allein nimmt die Angst von uns. Sie ist zugleich da und nicht da; damit ist einerseits dem Wirklichkeitssinn, andrerseits dem metaphysischen Bedürfnis in uns Genüge getan, ja eine tiefe Beruhigung gegeben; ihr spiel- und spiegelbildhaftes Wesen befreit von der Mühe und Sorge des täglichen und durch seine Nähe unüberblickbaren, eigentlich grenzenlosen Geschehens; ihr Schweben zwischen den zwei Sphären der Wahrnehmung und des Traumes zwingt zum Aufblick oder wenigstens zur Zusammenfassung von Erlebnissen, zur ruhigen Besinnung.

Ich habe mich oft gefragt, und es ist ein Gegenstand meines beklommensten Nachdenkens geworden, weshalb in unserer Welt und Zeit die Gestalt zusehends an Wirkung und Gefolgschaft verliert, weshalb sie seltener und seltener überhaupt zur Erschaffung gelangt und weshalb selbst die Besten und Überlegensten die Gefahr nicht zu spüren scheinen, die darin verborgen ist.

Die unheimliche Gefahr. Drohender und nachhaltiger vielleicht als alles übrige, was uns zu Leid und Bürde geschieht, schon darum, weil sie kaum recht in unser Bewußtsein tritt, weil sie uns mit einer tückischen Allmählichkeit umstrickt und weil die feindlichen Potenzen das Verhängnis listig verschleiern.

Die Menschen unserer Welt gehen allem Zuständlichen der Dinge mit Unerschrockenheit zu Leibe. In nicht erlahmendem Eifer sind sie bemüht, Zusammenhänge aufzudecken, Gesetze umzustoßen und neue zu formulieren, den dunklen und hellen Figuren der Geschichte und Dichtung auf ihren verschlungensten Wegen zu folgen, Entschlüssen, Handlungen und Regungen bis zu ihren geheimsten Quellen nachzuspüren, das Verborgenste des Gemüts an den Tag zu ziehen, das Heiligste unfremd zu machen, das Verschwiegenste zu verkünden. Jeder hat dabei sein besonderes Maß und Gewicht, seine besondere, entweder angemaßte oder von mehr oder weniger zahlreichen Anhängern ihm zugestandene Richterbefugnis; jeder wühlt und schürt und schneidert und bosselt und krönt und entthront und vergöttert und entgöttert auf eigene Faust und eigene Verantwortung; jeder äußert sich mit möglichster Unbedingtheit über einen andern, über das Geschehnis, über das Verständliche und das Unverständliche, schreibt ein Buch über ein Buch, behängt das tausendmal Beredete mit einem frischen Wortkleid, und das Resultat ist: Verwirrung, Bruch der Tradition, Leugnung der Autorität, bitterste Skepsis, Verfinsterung des Lebensfirmaments, Rütteln an den Grundfesten der Natur und der Seele und eine zur Panik anwachsende Flucht vor der Gestalt.

Flucht vor der Gestalt ist alles theosophische, spiritistische und pseudophilosophische Wesen und Bemühen; man sucht den Geist und tröstet sich mit dem Schatten; Flucht vor der Gestalt nenne ich alles religiöse Spintisieren, das sich nicht auf göttliche Vision und die Majestät der Erscheinung berufen kann und daher zur Gedankenzerspaltung und Herzverdünnung führt; Flucht vor der Gestalt ist die Zertrümmerung des künstlerischen Lebens in Schulen und Richtungen und die Zerreißung des nationalen in Parteien. Wer erfährt es nicht täglich mit Schrecken und Schmerz?

Der größte, der hinterlistigste Feind der Gestalt ist das Wort. Und eben das Wort ist es, das in der gegenwärtigen Epoche übermächtig geworden ist und beständig übermächtiger wird. Es erscheint mir oft wie ein giftiger und verheerender Bazillus, dem die Gabe der Selbstbefruchtung verliehen ist, durch die er sich ins Zahllose vermehrt und so die edlen Organismen vernichtet, die einen so wesentlichen, so unentbehrlicheren Teil unserer höheren Existenz ausmachen.

Ich sage: das Wort, und es ist damit schon inbegriffen, was ich zu Anfang mit Lehre, Gesinnung, Meinung bezeichnet habe.

Es kann darunter nicht verstanden werden das dienende Wort, das aufbauende Wort, jenes, das ebenso der Gestalt angehört, wie das Sandkorn dem Hause oder die Zelle dem Leib. Ein Hölderlinsches Gedicht besteht ja auch nur aus Worten, und in ihrer gegenseitigen bescheidenen Hilfeleistung erheben sich die Worte zum Bild; indem sich Bild an Bild reiht, wird Leben, wird Antlitz daraus, in der Gesamtheit schließlich sogar die Gestalt des Schöpfers selbst, eines, der das vielfach bewegte Ungefähr der Welt in rhythmische Struktur, in lapidares Gesetz zwingt; auch das mitteilende Wort kann nicht darunter verstanden sein, das von Mensch zu Mensch geht als Bindung; Wort der Not, der Gnade, der Liebe, der Aufrichtung, des Rechts, des Bedürfnisses und der Verwirklichung aller Art;

nicht einmal das Schlagwort kann darunter verstanden sein, Modewort, Parteiwort, Wahnwort; da würde ich es zu leicht nehmen; zu leicht enthüllt sich dieses;

sondern ich meine das eigenliebende, selbstsüchtige, selbstherrliche, eitle, tyrannische Wort, ein viel verführerischeres Ding, das Wort, das einer Sache den Widersacher stellt; das Leidenschaften unter einen Begriff summiert; das das Angeschaute und den, der anschaut, mit einer Regel erledigt, das das Erlebnis in einer Gattungsschublade unterbringt und abtut; das vor die Empfängnis die Nutzanwendung und vor die Begeisterung die Formel setzt; das alle unmittelbare Handlung durch rückgreifende Betrachtung und vorgreifenden Witz lähmt; das Urteil zu sein glaubt und Verdammung oder Loskauf ist; das Heil zu predigen vorgibt und die Menschheit in Scharen einem erstarrten Götzen opfert; ich meine den großen Taschenspieler, den vielgeschäftigen Makler, Allesverwischer, Allesnenner, Alleswisser, Alleserklärer, Allesenthüller und Allesverstümmler.

Wort und Gestalt unterscheiden sich wie Petrefakt und Pflanze, wie Golem und Mensch, wie Stück und Ganzes, wie Chaos und Stern. Es ergibt sich damit eine vollkommene Zweiteilung der geistigen und moralischen Existenz: Sammlung, Verdichtung, Einheit, Einklang, Erfüllung: das Reich der Gestalt; Zerklüftung, Zerstückelung, Vielheit, Vielstimmigkeit, Auflösung: das Reich des Wortes.

Dem Wort ist nichts verwehrt, nichts unzugänglich, nichts unerklärlich, nichts heilig; es ist ihm nichts versagt; es ist der Gegenpol von Fleisch und Blut, es ist der Verzerrer und Verwüster von Tun und Sein; es ist der Satan unserer Welt; es ist das apokalyptische Tier mit sieben Köpfen, von dem geschrieben steht: »Es ward ihm gegeben ein Mund zu reden große Dinge und Lästerungen und ward ihm gegeben zu streiten mit den Heiligen und sie zu überwinden; und ihm ward gegeben Macht über alle Geschlechter und Sprachen der Heiden, und alle die auf Erden wohnen, beten es an, deren Namen nicht geschrieben sind in dem Lebensbuch des Lammes, das erwürget ist.«

Das »Lamm, das erwürget ist«, von dem es heißt, es sei würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Ehre und Preis und Lob: liegt es nicht nahe, dabei an die Gestalt zu denken, die auch »erwürget ist«?

Ich merke Ihnen an, daß Sie mich der Übertreibung beschuldigen, aber das ist nur ein Beweis, daß Sie das Übel nicht in seiner ganzen Furchtbarkeit erkennen und abschätzen, und es bedürfte doch nur eines Blickes auf den Zustand der Nation, auf die gesellschaftliche Verfassung der gegenwärtigen Kulturmenschheit, ihre Krämpfe, ihre Verwilderung, ihre Gottentrücktheit und Gottferne, auf die in unzählige Einzelprovinzen einer rein verstandesmäßig orientierten, im niedrig Irdischen zerfetzten Utilitätswelt, in die fast keines mehr von den Flammengebilden zeugungskräftigerer Epochen hineinleuchtet, um Ihnen die Gewißheit darüber zu geben, wessen wir beraubt sind.

Die Mechanisierung des praktischen Lebens und die Politisierung des geistigen haben die Augen unfähig gemacht, Gestalt zu schauen. Wie man von einer Farbenblindheit spricht, könnte man von Gestaltblindheit sprechen, nur ist es eine weit verhängnisvollere Krankheit, und sie reißt tiefe Wunden in den sozialen Körper. Sie wird nur nicht erkannt oder wenn erkannt, verschwiegen; es ist immer das tödliche Leiden, das man sich am längsten selbst verhehlt. Alexandrinische Geistesverfassungen der Art, wie sich eine seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entfaltet hat, scheinen allerdings Vorboten der Zersetzung zu sein. Der Gedanke ist weder neu, noch möchte ich mich zu seinem Propagandisten machen. Das Wort vom Untergang ist ein geläufiges Wort heute; auch nur ein Wort; hüten wir uns vor ihm, diesem letzten Zeugen für das Absterben der Gestalt. Der wäre ein schlechter Arzt, der dem Patienten das Totenhemd über das Lager breitet.

Ich suche ja Rettung und Heilung; ich glaube an Rettung und Heilung, ohne schaumschlägerischen Optimismus, denn es sind in dem alten Europa noch wunderbare Quellen und unbegangene Wege zur Erneuerung. Es gilt bloß die Absage an das Tier, »das das Lamm erwürget«. Erstaunlich, daß ein Geschlecht wie das heutige, niedergetreten und zermalmt beinahe durch ein beispiellos ungeheures Erlebnis, nicht wie aus Einem Sinne faßt und spürt, wo der Kern des Unheils zu suchen ist. Daß es nicht endlich müde wird des verfinsternden Worts, des ewig phrasengebärenden, phrasenbrüllenden, phrasenlallenden; daß es sich nicht endlich empört gegen den frechen und heuchlerischen Oger, der alle Überlieferung verlöscht, alle Ordnung zernagt, den Aufschwung der Herzen lähmt, von unerlebten und nie erlebbaren Begriffssphären her Haß und immer wieder Haß in die widerstandslosen Gemüter speit, durch Zeitungen geifert, von Rednertribünen rast, die Völker in Parteien zersplittert, Meinung gegen Meinung peitscht, um jeden in seiner Meinung grausam und dünkelhaft zu machen, Starre des Vorurteils zur Auszeichnung erhebt, Neid, Gier, Verkennung, Verbitterung, Ruhlosigkeit, ja Raub und Mord durch lügenhafte Manifeste legitimiert und Mißtrauen sät zwischen Stämmen, Brüdern und Freunden? Ist es denn noch nicht über und über dessen satt? Will es sich nicht wehren und dagegen aufstehn? Brandmarken und züchtigen die »Würger des Lamms«? Und wenn es die Gereiften und Erfahrenen nicht tun, denen Ekel und Grauen die Hände schwächt und die Lippen verschließt, warum tut es die Jugend nicht, die die Verheißung der Zukunft ist, einzige Hoffnung in der Schwärze?

Gefühl dient nicht. Denn Gefühl bindet nicht, es isoliert, so kühn eine solche Konstatierung auch auf den ersten Blick erscheint. Gefühl lockert und löst. Wird es als Lebensprinzip aufgerichtet, so erzeugt es Selbstverliebtheit und Anarchie. Es hat sein Genügen an sich, deshalb das leidenschaftliche Hinstreben zur Musik in breiten Schichten der modernen Gesellschaft. Auch dies ist Flucht vor der Gestalt, woran freilich nicht die Musik als solche schuld ist, sondern der Vorwand zur Gefühlsschwelgerei und zur Selbstauflösung, den sie bietet. Gefühl mindert die Strenge der Führung und den Ernst der höchsten Forderung; es macht aus dem gehorchenden Menschen einen, der zu wesenlosem Aufruhr neigt. Und Gehorsam muß sein. Gehorsam ist das Fundament aller Religiosität. Ohne Gehorsam ist weder Ehrfurcht noch Bescheidung, weder Glaube noch Würde, weder Kunst noch Erkenntnis in der Welt. Es fragt sich nur, wem gehorcht werden soll. Dem Besten? Die Antwort ist leer. Dem Stärksten? Die Antwort ist vermessen. Dem Klügsten? Die Antwort ist arm. Wer könnte nicht durch Überredung und Selbstberauschung zuletzt dahin gelangen, gerade sich für den Besten, Stärksten, Klügsten zu halten? Da besteht über der Verbundenheit der Mitlebenden ein höherer Areopag, dem wir untertan sind, auch wo wir gegen ihn rebellieren, die Versammlung der unsichtbaren Geister und zeitüberdauernden Heroen.

Die Tat dient ebenfalls nicht, die vielgepriesene. Sie allein nicht. Was soll sie ohne das Bild, ohne das Gleichnis, ohne die Figur, die viele Willen zu einem wortlos eint? Was soll sie, wenn sie nur aus der Brust des einzelnen oder vieler einzelner bricht wie eine wilde Bestie, ohne Berufung, ohne Erwählung, ohne Regulativ und ohne Gestalt? Da ist sie zufällig, zerstörerisch und unwirklich.

Allgemeine Mitleids- und Verbrüderungstheorien helfen noch weniger, im Gegenteil, sie sind die Helfer der Un-Gestalt, besonders seit sie sich durch die politischen Umstände zu einer Art von literarischer und philanthropischer Gesinnungspolizei entwickelt haben. Es ist häufig genug, daß gerade diejenigen, die in der Lehre, im Erlaß, im Wort von Menschenliebe überfließen, im Erprobungsfall des Lebens eine abstoßende Brutalität und Härte an den Tag legen, denn die Gesinnung führt unweigerlich zum Fanatismus, die Gestalt aber zum Enthusiasmus, jene also in die Nacht, diese in das Licht. Der Himmel bewahre mich und Sie vor denen, die aus Entschlossenheit gütig sind und sich ihre Hilfstat mit Gefolgschaft bezahlen lassen. Wo sich in den neueren Kunstrichtungen Ansätze zur Gestalt zeigen, wird schon die beginnende Bildung aufgeweicht und im Keim getrübt durch die Tendenz zur sozialen Heilsverkündigung. Da fehlt dann die Härte, die Faust, die eiserne Unbeugsamkeit und Unerbittlichkeit, die der Gestalter nötig hat, wenn er seinem Geschaffenen Umriß und Distanz verleihen und nicht ein kernloses Mollusk hervorbringen will. Völlig verschwunden aber scheint mir (und vielleicht liegt dem die ganze monistische Wissenschaftslehre zugrunde) jenes edle Vermögen der Selbstspaltung, ich finde kein anderes Wort dafür, das dem Künstler eine Dualisierung der Erscheinungswelt ermöglicht und das einem Faust den Mephistopheles, Don Quichotte den Sancho Pansa, Othello den Jago als Wegbegleiter gab. Das ist die Spiegelungsweisheit im Kunstwerk, das eigentliche Movens der Gestalt, das konstruktive Element, ohne das es zu einem widerhallslosen Monologisieren wird.

Denn Gestalt ist die in Form gezauberte Zwiesprach; Zwiesprach mit dem Schicksal, mit der Menschheit, mit Gott und der Ewigkeit. Was wäre ohne sie das Schaffen des Dichters, des Künstlers nütze? Wodurch sonst wäre es gerechtfertigt? Was außer ihr verhaftet ihn mit einigem Fug in jene Welt der spielerisch entfernten Dinge? Hat er ihre Täuschungsmacht nicht erlistet und erträumt? Was gibt ihm Ansehen gegenüber dem Wust und Chaos der wirklichen Geschehnisse? Seine kleine Ordnung? seine erdachte Harmonie? sein Wille zu erhöhen, zu sammeln? seine menschliche Art, sein persönlicher Ausdruck? seine Deutung, seine erfundene Fabel, sein angeschautes Bild, das er oft selbst schon ins Dunkel sinken sah?

Wären die Hypochondrie und die Furcht allmächtig, die vom wandelbaren Tag und der unwahren Wirklichkeit erzeugt werden, so müßte der Arm fallen, der die Erscheinung zu bannen sich unterfängt; der Mund jedes Künders müßte auf immer verstummen. Es existiert aber eine Welt außer und über der wirklichen, und in ihr ist das Leben von einer heilig-klaren Beständigkeit und einem unausschöpflichen Reichtum. Stärker als die Tat ist der Geist; wesenhafter und unsterblicher ist er. Wer es nicht im Gedanken und im Glauben erfahren hat, hat es in der Verzweiflung erfahren, oder ihm ist nicht zu helfen.

Den Geist aber macht erst die Liebe flammen, und aus der Liebe entsteht die Gestalt, in der Liebe besteht sie. Nicht in den Zuständen spiegelt sich die Zeit, nicht die Ereignisse deuten das Schicksal: die Gestalt ist Spiegel und Deuter. In ihr ist die tragische Isolierung des einzelnen Menschen beendet, in ihr ist Ahnung und Bestätigung des Göttlichen, gleichviel ob sie von heller oder von dunkler Prägung ist, ob sie Polyphems oder Beatricens, Smertjakoffs oder Iphigeniens Namen trägt. In ihr ist das wahre Leben, zeitlos und unbedingt. Und so möchte ich schließen mit einem Vers, den ich einstmals dem Caspar-Hauser-Roman vorgesetzt habe:

Es ist noch dieselbe Sonne,
   Die derselben Erde lacht;
Aus demselben Schleim und Blute
   Sind Gott, Mann und Kind gemacht.
Nichts geblieben, nichts geschwunden,
   Alles jung und alles alt,
Tod und Leben sind verbunden,
   Zum Symbol wird die Gestalt.


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