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Fragment über das Nationalgefühl

(Geschrieben 1915)

Eine Zeit, die den Einzelnen dazu zwingt, daß er sich vornehmlich mit sich selbst beschäftigt, ist eine in ihrem Kern unfruchtbare Zeit. Sie sondert Mann von Mann, Weib von Weib, Haus von Haus, Kaste von Kaste, immer schärfer, immer gefährlicher, und macht aus jedem mittelmäßigen Diener einen schlechten Herrn. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensäußerungen werden mehr und mehr dem Luxus und dem Genuß tributpflichtig; einfache Empfindungen bleiben ohne Widerhall, die ursprünglichen Leidenschaften, Eroberungslust, Kampfesfreude, Wetteifer der Kräfte verkümmern entweder oder werden verzerrt, indem sie den Charakter beiläufiger Laune annehmen. Sport und Spiel gewinnen einen Ernst, der ihnen nicht gebührt; der freie Enthusiasmus stößt überall auf die Hemmungen der Vorsicht und der Verträge, Liebe und Freundschaft sogar werden rascher zu Gewohnheiten erniedrigt, soziale Hilfe wird Übung der Empfindsamkeit oder letzte Tugend des bösen Gewissens; zahllose Schicksale verlieren sich zu früh im Strom einer trägen Alltäglichkeit; die Jugend büßt ihren schönen Hang zum Abenteuer ein und gibt sich reif, ohne Reife zu besitzen; produktive Geister leiden an unproduktiver Sehnsucht; der Hader der Parteien verbittert sich durch Umstände, die seiner Heftigkeit selten angemessen sind; zwischen Eheleuten, Geschwistern und Nachbarn wächst eine fast geheimnisvolle Lust an Konflikt und Streit; mit der allgemeinen Unzufriedenheit, die sich am Unbedeutenden nährt und am Unschuldigen rächt, nimmt die Zahl der Verbrechen zu, während die moralische Verantwortlichkeit erschüttert wird.

Den besten Maßstab für die Veränderungen im nationalen Leben liefert immer die Kunst und die Literatur. Die Bahnen, auf denen in egoistisch beschlossenen Epochen die Kunst geht, führt sie weit vom Volke weg. An die Stelle innerer Notwendigkeit tritt die äußere Gebärde, an die Stelle der Berufung das Metier; seltener wird die Vision, häufiger die eitle Tändelei mit Worten und mit Motiven. Schwächliche und kränkliche Seelenzustände, liebevoll und virtuos zerfasert und beobachtet, geben sich als Norm; überhitzte Geister und laue Herzen zerstören mit Pinsel und Feder das Bild der Welt, zerteilen ein Ganzes aber- und abermals, ein Göttliches, um es in ein Dämonisches, also Unreines zu verwandeln und in den Verkleinerungen die Größe vorzutäuschen, die ihnen durch das Auge, das Gefühl nicht mehr zugänglich war. Das Volk schreckt zurück vor den Räubern an einem Besitztum, welches es mehr ahnt als weiß und umfaßt; die wahrhaften Schöpfer sehen sich überall behindert durch die von mißleiteten Kräften hervorgebrachten Scheinwerke; die Urteilenden werden hart, und die an Erfüllung von Verheißungen glaubten, ungeduldig und müde.

Das sind die Wirkungen; welches aber sind die Ursachen? Vielleicht zu einseitig auf den Erwerb gerichtete Tätigkeit der Gesellschaft; vielleicht der allzu regelmäßige Verlauf der Schicksale in vorgeschriebenen und vorgesetzten Geleisen; die Sicherheit vielleicht, die mehrere Generationen in umfriedeten Bezirken gewonnen haben; der unverbrüchliche Schutz, die Erleichterung des Verkehrs, die mühelose Befriedigung der Bedürfnisse und die damit verbundene Abstumpfung des Geistes gegen das Außerordentliche, das Unvorhergesehene; der Mangel an Gefährdung, an jenen Zufällen und Ereignissen, die den Menschen auffordern, sich seiner inneren Hilfsmittel, seiner persönlichen Erfindungsgabe, seiner eigenen, von keinen Einrichtungen, Vehikeln, Abmachungen, Geldmitteln und Berufungen gestützten Kraft zuzuwenden. Dies alles im Verein und der höhere Umstand, daß ein jeder sich der Rechenschaft über seine Gedanken und Handlungen begeben zu können glaubt, bringt jene individualistische Zersetzung des Volkskörpers hervor, die ohne von Zeit zu Zeit erfolgende Aufrüttelung und Neukristallisation mit dem moralischen Tod der Menschheit endigen würde.

An seinen Besitz gekettet, ist der Mensch nur ein Sklave. Seine Bequemlichkeit, und was er in selbstsüchtiger Beschränkung sein Lebensglück nennt, ist meist nichts weiter als Sklaverei. Die Seelenverfassung, die ihn von dieser Fessel befreit und seinem Wesen die Richtung ins Allgemeine gibt, ist im gewöhnlichen Fluß des Daseins selten und nur dem Dichter, dem Künstler, dem Philosophen, dem echten Priester oder dem Lehrer und Erzieher großer Art eigen. Wem aber sind geistige Gebilde, Werte und Formen, zu deren Erfassung und Verarbeitung eine sorgfältige Schule und edle Anlage ohnehin erforderlich ist, stets geläufig und so gegenwärtig, daß er dadurch in seinem Gang aufgehalten, in seinem Ziel bestimmt, in seinen Entschlüssen und Handlungen entscheidend beeinflußt wird? Dem Erlesensten kaum, obwohl ihre Wirkungen meist nur auf einen Kreis von Erlesenen berechnet sind. Ein Gedicht, ein Schauspiel, ein Gemälde, sie können dem Geist unerwarteten Schwung verleihen, dem Gefühl Tiefe, der Betrachtung Gehalt, doch die den Temperamenten und Charakteren angeborene Tat werden sie nicht verändern, und es ist die Frage, ob selbst Lehren, die mit dem Reiz der Neuheit und Seltsamkeit eine gewisse der Masse zugängliche und leicht verführerische Spiritualität verbinden, dazu imstande sind oder nicht vielmehr das trübe und häßliche Gewohnheitsleben verschleiern und mit billigem Zierat schmücken.

Unter den Bogen, die das zerstreute Sein der Einzelmenschen binden, wie im Brückenbogen die einzelnen Quadern zu einem Ganzen gefügt sind, ist das Nationalgefühl einer der wesentlichsten. Die Hauptpfeiler, auf denen es ruht, sind die Geschichte, die Lebenstraditionen, die Landschaft und die Sprache.

Nicht nur das nenne ich Geschichte, was in Chroniken, Annalen und gelehrten Büchern steht, was als Reihenfolge der Dynastien und der Kriege, als Entwicklung kultureller Strömungen, als allmählicher und gesetzmäßiger Aufbau des Staates Objekt der Forschung bildet; nicht nur die Ereignisse, ob klein oder groß, die Wandlungen, ob bedeutend oder unscheinbar, die aufbewahrten Stimmen aus alter oder neuer Zeit, die unendliche Galerie von Gestalten nicht einmal, die, Ziel der Ehrfurcht und der Bewunderung, von der Gloriole des Ruhms umkleidet, oder berüchtigt und verdammt, doch nicht minder unsterblich auf dem politischen Theater eine Rolle gespielt haben. Es ist ein Unterschied zwischen dem Wissen von den Dingen und dem Wissen um die Dinge. Im ersten Falle sind sie eben nur da, starre Bürde, im zweiten verleiht ihnen die Phantasie Atmosphäre und schafft sie mir in jedem Augenblick der Anschauung. Geschichte als ein Abgelöstes und Fertiges zu betrachten, heißt aus ihr ein Magazin mehr oder weniger aufregender, mehr oder weniger gefälliger und prickelnder Begebenheiten machen, ein Register von Namen und Zahlen am Ende, gedächtnisfüllend und geisttötend. Im ewigen Bewußtsein müssen Bild und Figur wurzeln, in dem meinen ewig werden. Dann gibt es keine Lockerung, die Fasern knüpfen sich zum Gewebe, die Kenntnisse verwandeln sich in Vorstellung. Diese wird allerdings durch mündliche und schriftliche Überlieferung geschaffen und ergänzt, aber kraft ihrer organischen Natur scheidet sie alle unfruchtbaren Keime aus und zieht an sich, was ihr zum Wachstum dient. So sehe und spüre ich Gewesenes, die Ahnen bis ins fernste Geschlecht; ihre Trachten, ihre Waffen, ihre Stuben, ihre Kirchen, ihre Städte; sehe und spüre, was sie getan und gewollt, gelitten und geahnt; weiß um ihre Spiele und um ihre Kämpfe, ihre abenteuerlichen Fahrten zu Land und zu Wasser, ihre Entdeckungen und Erfindungen, ihre Feste und Gerichtstage, ihr Handwerk und ihre Kunst, ihre Laster und ihre Tugenden, ihren Glauben und ihren Zweifel; der Gedanke kann keinen Strahl in die Vergangenheit senden, ohne daß zugleich in meinem Blute ein Bild aufsteht. Wie reich ist noch der geistig Ärmste hierin, wenn nicht ein mörderisches Erziehungssystem diese mit dem Menschen geborene Gabe brachgelegt hat; wie vielfältig sind die Verbindungen, die vom Märchen, der Sage zum eigenen Erlebnis gehen; wie rasch wird auch von Vorgängen, deren Zeuge wir waren, das Seltsame zur Legende, das groß Geartete zum Mythos; Spuk und Teufelszauber führen nicht bloß im Dämmer der Vor- und Unterwelt ihr verlockend gruseliges Spiel auf, und die Menschenriesen, die am Horizont der Zeit ragen, sind wie die jüngsten Heroen in irgendeiner Weise immer gegenwärtig und werden dem schauenden Auge immer neu geboren. Geschichte muß in mir weiter dichten und der Seele des Volks als sinn- und geheimnisvolle Dichtung verschmolzen sein. So entsteht Zusammenhalt, Zusammenschluß, Gemeinsamkeit, das Gefühl der Mission und die Idee der Bestimmung. So entstehen auch die Lebenstraditionen, die dem Gefüge des Ganzen Regel, Weg und Maß geben.

Es scheint, daß meine Handlungen durchaus von meinem Charakter und dem damit fast identischen Schicksal hervorgebracht werden; daß meine Freiwilligkeit keine andere Behinderung findet als die des Gesetzes, als die der Menschheit im allgemeinen gegebenen Schranken. Und doch ist in der privaten Existenz der Brauch ein mächtigerer Gebieter denn jede Art von Leidenschaft. Wer sich am Gesetz vergeht, den trifft die offene Rache der Gesellschaft, den Verächter des Brauches ihre geheime. Kein Mensch ist imstande, unter Leugnung des Brauches sein Leben zu gestalten, wogegen wohl solche dagewesen sind, die das Gesetz leugneten und außerhalb seines Bannkreises ihr Dasein als Vogelfreie führten. Schlimmer als vogelfrei wäre der Leugner des Brauches; heißt uns doch schon der schüchterne Rebell gegen veraltete, unbequeme oder schädliche Normen ein Sonderling, und der trotzige Abseitsgeher gewinnt erst wieder Ehre, wenn er neue Normen für die abgenützten schafft. Der vollendete Nihilist wäre der Schamlose an sich, im Range selbst unter dem Sklaven stehend.

Schamlos aber ist nur der, der ohne Liebe ist, und in der Tat ist die Befolgung des Brauches ein Akt der Liebe. Wenn also die Formen respektiert werden, die sich im Lauf der Jahrhunderte in einem Volk gebildet haben, so geschieht in jedem einzelnen Fall damit ein Akt der Liebe. Und da alles Leben in der Welt nur durch Liebe gedeiht und besteht, so hängt natürlicherweise das Glück und die Entwicklung eines Volkes davon ab, inwieweit die überlieferten Formen zum fruchtbaren Ausdruck gelangen.

Wie ein Sohn sich gegen seine Mutter, ein Ehemann gegen sein Weib, ein Bruder gegen seine Schwester, ein Liebender gegen seine Geliebte hält und führt, das beruht nicht bloß, wie es einem oberflächlichen Urteil dünken mag, auf Trieben und Instinkten, auf Regungen der Sympathie und Antipathie, sondern auch rein auf einer sozialen Basis, einer heiligen und ins Unbewußte gedrungenen Ordnung. Hinwiederum sind es keineswegs bloß äußerliche Pflichten und Gebote des Nutzens, die das Verhalten eines Kaufmanns gegen seine Kunden bestimmen, eines Advokaten gegen seine Klientel, eines Vermieters gegen den Mieter, eines Bauern gegen den Knecht, eines Untergebenen gegen den Vorgesetzten, des Reichen gegen den Armen, des Aristokraten gegen den Bürger; sondern da muß sehr viel an Herz hinzukommen, wenn sich das Staats- und Gesellschaftswesen zur Blüte entwickeln soll. Was man Gewissen oder Redlichkeit oder Anstand nennt, das ist eben Tugend des Herzens, oder es ist leerer Schaum, der nichts besagt und nichts frommt. Alles muß Zusammenwirken, die Konvention auf Seite der Gefühlsbeziehungen, das Gefühl auf Seite der konventionellen, damit eine lebendige und förderliche Tätigkeit des Einzelnen für die Nation, der Nation für den Einzelnen in Erscheinung trete.

Der Gruß, den ich einem Grüßenden zurückgebe, liegt nicht im Bereich meiner Willkür: und so keines von den Zeichen, durch die eine friedliche Verständigung zwischen mir und den Mitmenschen geschieht. Durch meinen Aufenthalt in einem engeren oder weiteren Verband habe ich mich stillschweigend bereit erklärt, eine Reihe von Obliegenheiten zu erfüllen, die mehr oder weniger sind als Pflichten, je nachdem man es betrachtet; sie können nicht von mir erzwungen werden, und doch bin ich genötigt, mich ihnen zu beugen. Es sind Zeremonien, abgekürzte Verträge, die statt vom Geist von einer selbsttätigen Mechanik regiert werden; Formen, die sich dem individuellen Ermessen entzogen haben. Es ist nicht möglich, sie persönlicher Neigung und Laune anzupassen, daraus würde gesellschaftliche Anarchie erwachsen; es muß aber auch verhütet werden, daß sie versteinern, was einen Zustand der Roheit im seelischen und der Trägheit im geistigen Leben bedeutete. Solche Versteinerung beobachten wir ebensowohl bei wilden Völkern wie bei überzivilisierten; dort ist sie ein Schutz gegen das blinde Handeln Einzelner, die noch nicht gelernt haben, sich den Forderungen einer sozialen Gesamtheit freiwillig zu fügen; hier ein letzter Damm gegen die drohende Sprengung dieser Gesamtheit durch Einzelne, welche die Fülle gewährter Freiheit mißbrauchen und sich der Gesellschaft und ihren Einrichtungen offen oder heimlich als selbständige Macht entgegenstellen.

Wichtig ist, daß mir immer noch ein Appell übrigbleibt, eine höhere Instanz, die mich billigt und den Vorteil erkennt, den der Gutwillige spendet, wenn er durch Selbstdenken und Selbsturteilen neue Wege betritt, neue Übereinkünfte schließt, neue Formen schafft. Wo kein Einspruch mehr möglich ist, da ist allerdings die Grenze meiner Macht, aber so müßte es um mich und um mein Volk stehen, daß ich dort zugleich die Grenze meiner Gaben erkenne und mich nicht gegen unbesiegbare Widerstände aufreibe, mich nicht in luftlosen Raum und absurden Traum verhauche. Reich ich die Hand, so will ich eine andere haben, die sie drückt, und ich stehe im Ring der wirkenden Menschen. Verlassen mich die Freunde, so wandle ich immer noch in Begleitung unsichtbarer Genossen und im Licht der Gedanken, die sie erzeugt, der Werke, die sie geschaffen. Aber als seiend muß ich mich empfinden, als mit da seiend, als ein Eigener tätig und ein zugehöriges Element im großen Strom ruhend und fließend.

Ist die Geschichte der Schoß dieser Zugehörigkeit und die Tradition ihre Atmosphäre, so ist die Landschaft ihr sinnlich greifbares Zeugnis und die Sprache ihr geistiges und alles durchdringendes, ihre Erhalterin und Erneuerin.

Von wie verschiedener Art sind nicht die Landschaften Deutschlands; da ist das grandiose Hochgebirge, das waldige Mittelgebirge, das pittoreske Kleingebirge; da ist die rauhe Hochebene und die öde Heide der Tiefebene; da sind die großen Ströme in ihren üppig bewachsenen, ruinengeschmückten Tälern, und die Flüsse und die zahllosen Bäche; da sind Seen und Teiche, Wiesen und Felder, meilenweite Forste und Gärten und Weinberge; da ist das Meer mit Dünen und das Meer mit felsiger Küste; da ist ein Gebiet, wo Dorf an Dorf, ja Stadt an Stadt sich drängt, und da eines, wo ein Tagesmarsch zwischen zwei Siedlungen liegt. Dennoch wird jeder Deutsche in jeder deutschen Landschaft spüren: das ist Wesen von meinem Wesen. Es liegt nicht am Namen und nicht an der besonderen Formung des Landes, das Gefühl ist da, und man weiß nicht seinen Grund. Vielleicht haben die Schicksale, deren Schauplatz dies oder jenes Stück Erde war, ihm Züge verliehen, die sich der Seele als verwandt oder verständlich einprägen. Es ist eine sympathetische Beziehung zwischen Mensch und Landschaft vorhanden, die sich bis zur Identität vertieft, wo der Einzelne in seiner Heimat steht und sie innerlich als ein Lebensgut festhält. Schönheit und Lieblichkeit haben keinen Einfluß auf die Stärke dieses Gefühls, sie begünstigen höchstens eine Kundgebung, die ihr durch das ästhetische Wohlgefallen der übrigen Welt nahegelegt wird. Formenarmut und -kargheit erweckt sogar eine innigere, mit Schwermut verbundene Zuneigung, so wie eine häßliche Frau, wenn sie geliebt wird, meist treuer und seelenvoller geliebt wird als eine gefällige und verführerische.

Dieser in zahllosen Gemütern ruhende Schatz von Liebe zum heimatlichen Boden, zur heimatlichen Luft gleicht einer gewaltigen magnetischen Kraft, welche die Volksteile aneinanderschweißt und für eine höhere geistige und sittliche Existenz vorbereitet.

Kein anderer Baum, kein anderer Hügel wird späterhin mit solcher Reinheit und Wahrheit empfunden als jene, die dem Kinde zuerst den Begriff von Baum und Hügel gaben. Ja, es ist sicher, daß damit Baum und Hügel ein für allemal bestimmt und gestaltet sind und das Urbild niemals wieder verwischt werden kann, soviel Bäume und Hügel auch dem Auge noch erscheinen mögen. So ist es mit jedem andern Ding beschaffen, mit der Wolke und dem Regenbogen, der Rinderherde und dem Kirchturm, den Blumen und den Früchten, der beschneiten Straße und dem Gespensterwinkel auf dem Dachboden, so auch mit den minder idyllischen Bildern, welche die Städte bieten, den traurigen und abstoßenden der Industriebezirke. Selbst wo die Erinnerung nur Schmerz aufruft, ist noch Glück in ihr enthalten.

Dieses Glück aber keimt aus der Beschaulichkeit, aus jenem Bezirk, wo der in steter Unruhe dahinirrende Sterbliche noch nicht das Vermögen eingebüßt hat, seinen Sinn mit Ruhe auf die ruhende Natur zu richten. Denn der Mensch ist nicht geboren, um die Kräfte seines Herzens in unaufhörlicher Nutzarbeit zu vergeuden. Er ist geboren, um zu schauen und sich am Geschauten, an der Erscheinung harmonisch zu entwickeln. Trübt das bunte und zufällige Tun und Geschehen seinen Blick, so ist er bald wie ein Geplünderter, und ein Fluch haftet auf ihm: der Fluch des Vergessens. Er vergißt sich selbst, verliert sich selbst, weil er nicht mehr zu schauen vermag, weil es für ihn keine Erscheinung mehr gibt. Nur wer schauen kann, der liebt, und so ist auch die Liebe zur Heimat eine bewahrte Fähigkeit des Schauens, die so früh gepflanzt und geübt wurde, daß sie weder durch Frondienst noch durch Weltrausch völlig zerstört werden konnte.

Was aber als Bild in die Seele eingegraben ist, ob es nun aus dem persönlichen Erleben stammt oder aus dem generellen, historischen, von einem Geschlecht auf das andere übertragenen, das gewinnt seine eigentliche Existenz erst durch die Sprache. Die Einsamkeit, die der Kreatur beschieden ist, wird durch die Sprache scheinbar und wirklich aufgehoben; scheinbar, indem sie mich in einen Kreis ähnlich denkender, ähnlich empfindender Wesen stellt und mich mit meiner Person ihren Rechten, Pflichten, Abmachungen und Verträgen angliedert; wirklich, indem mein Gedanke, meine Empfindung, mein Handeln auf den Gedanken, Empfindungen und Handlungen aller Menschen, die um mich sind, und aller, die vor mir waren, beruhen und durch meine Mitteilung an sie, ihre Mitteilung an mich erst ihre Bestimmung, ihre Wirkung, ihre Verantwortlichkeit und ihren individuellen Charakter erhalten. Geistiges und moralisches Leben erwächst aus der Sprache; sie erhebt die dumpfe Triebnatur in die Region der Besinnung, sie veredelt die Animalität zur Humanität.

Die Sprache ist es, die ein Volk zu einem vitalen Ganzen einigt. Klima und Landschaft, Abstammung und Geschichte, Rasse, Religion und soziale Ordnung sind gewiß die Urheber und beständigen Regulatoren einer Bildung, die so gesetzmäßig ist wie die bei einer chemischen Verschmelzung stattfindende. Durch die Sprache wird sie beglaubigt und sanktioniert, unabänderlich und ewig. Schon das Geheimnis, in das ihre Entstehung gehüllt ist, das Rätsel, welches trotz der, der Wissenschaft wenigstens, teilweise verfolgbaren Wege ihre Entwicklung bietet, läßt sie als ein höchst wundersames Gebilde erscheinen, so reich, so zart, so bewegt wie irgendeinen lebendigen Organismus.

Man muß zwischen einem äußeren und einem inneren Leben der Sprache unterscheiden, einem öffentlichen und einem privaten. Man muß unterscheiden zwischen dem, was an Begriffen, Bildern und Urteilen in ihr vorrätig ist und was Gemüt und Geist ihr an neuem Stoff zuführen. Jenes ist ihr öffentliches und äußeres Leben; es spielt sich in festgefügten Formen und Normen ab, strömt aus dem angehäuften Bestand der Gesamtheit in den Einzelnen, trägt ihn, bestimmt seine Kaste, seinen Rang, seine Kontur, seinen Einfluß, seine Wirkungssphäre und kehrt, sonderbar verarmt und entfärbt, wieder in die Gesamtheit zurück. In der Tat, dieser dem Verkehr und der sozialen Verständigung dienende Kreislauf der Sprache gleicht einem Entblutungsprozeß, und all die zahllosen Plattheiten, Halbheiten, Leerheiten, all das Oberflächliche, Phrasenhafte, Scheinhafte und Marklose, das der Umgangssprache, der Zeitungssprache, der Sprache der Fachleute jeder Gattung eigen ist, hat darin seinen Grund; da besteht denn oft die Sprache nur aus Hülsen, denen Fruchtkern und Fruchtsaft fehlen, und sie wäre der Verödung und dem Untergang geweiht, wenn ihr nicht in schöpferischen Seelen frische Quellen entsprängen.

Ich meine damit nicht die Dichter; nicht einmal die großen Dichter. Was sie besorgen, ist Verfeinerung, ohne Zweifel auch Bereicherung; ihr Ohr kennt den Wohllaut, ihre Gabe ist es, ihn auszudrücken; was die Sprache an musikalischem Gehalt in sich birgt, wird durch die Dichter offenbar und dann allgemeiner Besitz. Bedeutender noch ist ihr Anteil am Rhythmus, diesem unergründlichen Gesetz der Bewegung. In letzter Linie sind es nicht die schönen Verse, nicht die erhabenen Gedanken, nicht die ergreifenden Gefühle, die einen Dichter siegreich machen, sondern der Rhythmus ist es. Ich rede vom Sprachlichen, nicht von der Gestalt; die Gestalt steht auf einem andern Boden. Der Rhythmus ist das Mächtige; man kann ruhig behaupten, daß ein Schriftsteller wie Goethe eine so ungeheure rhythmische Gewalt besessen hat, daß Zeitgenossen und Nachwelt unbewußt in seinem geistigen Schritt und Takt gehen mußten.

Dennoch meine ich die Dichter nicht. Der Born der Erneuerung liegt im Volke. Weniger dort, wo es Lieder singt, obschon nichts holder und zauberischer sein kann als ein echtes Volkslied; auch dort nicht ganz, wo es Märchen erzählt, obschon einzelne Volksmärchen an Tiefsinn und Poesie von keiner Kunstdichtung übertroffen werden. Aber in seiner Mundart, in seinen Sprichwörtern, in seinen Gleichnissen; in der Kraft und Leichtigkeit, womit es das Weitschweifige zur Kürze zwingt, das Unfaßliche faßlich macht, das Feierliche in Humor verwandelt, das Niedrige mit Komik würzt. Da sind die Ausdrucksmöglichkeiten unendlich und von überraschender Erfindung; es ist, als ob dem Wort etwas von der Feuchtigkeit der Humuserde anhafte, und das Bild hat die Unmittelbarkeit und Kühnheit der Kinderphantasie. Unschuld des Auges bekundet sich darin, die Dinge führen ihren Namen wie zum erstenmal, alltägliche Vorfälle sind voll Mythologie, Leidenschaften wie böse und gute Genien, moralische Urteile werden mit der Unerschütterlichkeit eines tiefen Rechtsgefühls gefällt, und Erfahrung und Weisheit tönen wie mit kristallenen Glocken.

Daß der Schoß solcher Produktion vom Schleier einer unbedingten Anonymität umhüllt ist und von jeher umhüllt war, verleiht ihr etwas Elementares, und den Schleier lüpfen zu wollen, wäre ein vergebliches Beginnen, denn hinter ihm ist weder Gesicht noch Gestalt. Was wir Volk nennen, ist nichts Greifbares, ist nicht der und der und die und die und nicht die Summe von ihnen, nicht addierte Tausende oder ungezählte Millionen; es ist ein Wesen, ein geistiges Wesen, viele Jahrhunderte alt und doch wieder ganz jung; vorhanden und auch wieder nicht vorhanden, so, wie die Seele da ist und auch nicht da ist, immer fern und immer nah, meiner Berührung nicht erreichbar, und doch auf allen Seiten mich umgebend, real und imaginär zugleich.

Die vorzügliche Schönheit der deutschen Sprache liegt in der gegenseitigen Durchdringung von Poesie und Sachlichkeit. Ich sage ausdrücklich in der gegenseitigen Durchdringung, nicht bloß in der Annäherung; die kann jeder Genius in jeder Sprache zustandebringen; nicht in der Verflechtung, die, kunstvoll oder künstlich, über den Mangel der einen oder der andern Substanz je zuweilen täuschen kann. Vergleichen wir einen Armeebefehl Napoleons mit einem Gedicht von Verlaine. Beide auf einem hohen Niveau der Sprache; trotzdem lassen sich größere Gegensätze kaum denken. Dort das Sachliche in seiner Wucht und Nacktheit, genau und stark, hier die gespinstzarte Dichtung, rein und dunkel. Dagegen halte man eine der Tischreden Luthers oder einen Erlaß Friedrichs des Großen oder einen Brief Bismarcks und Verse von Eichendorff oder Uhland, oder eine Erzählung aus dem alemannischen Schatzkästlein; das Verwandte, ja Gemeinsame öffnet sich dem ersten Blick. Es ist nicht ein Unterschied wie zwischen Säule und Architrav oder wie zwischen Postament und Figur, sondern wie zwischen Schale und Kern, wie zwischen Fackel und Flamme.

Wenn Treue gegenüber dem Gegenstand und Hingebung an das Gefühl ineinander verwachsen, kann ein Höchstes an Charakterbildung entstehen. Ob die Sprache hierin zeugend wirkt oder nur hilfreich formend, ist schwer zu ermessen. Eines greift wohl ins andere. Die Sprache hat ein Eigenleben, und Eigenleben pflanzt sich fort; die Pflanze befruchtet zugleich den Boden, dem sie ihr Dasein dankt. Die stützende und bildende Wirkung wird durch den vorhandenen Schatz von Überlieferungen und Werken ausgeübt, die Erlebnisse und das Wachstum der Nation füllen die Sprache mit immer neuem Inhalt. Ist die allgemeine Umgangs- und Schriftsprache der breite, ruhige Strom, der durch das ganze Land fließt, so sind die Dialekte die kleinen Nebenflüsse, von denen jeder nur eine Provinz beherrscht; in ihnen ist mehr Lebhaftigkeit, mehr Durchsichtigkeit, mehr Wechsel und mehr Jugend als im großen Sammelbecken. Im Dialekt ist die Sprache einfacher, schmuckloser und zugleich von höherer Bildkraft; keine Dichtung von Rang, die nicht auf dem Nährboden einer Mundart stünde; und wenn ihr Gipfel den Himmel berührt, ihre Säfte zieht sie aus diesem Wurzelreich, sonst ist sie nur ein Kunstprodukt und vergänglich.

Den deutschen Dialekten kommt die Eigenschaft zu, daß sie das Wort sozusagen in seinem Feingehalt bewahren, die Metapher dagegen in die äußersten und kühnsten Verwandlungen treibt. Das Wort bleibt in seiner Grenze, prüfbar und pflichtbewußt wie ein verläßlicher Diener; das Bild, wie ein Adler, erobert sich alle Räume der Sinnenwelt. Diese Bescheidenheit am Wort und Unersättlichkeit am Bild kennzeichnet das Wesentliche der deutschen Geistesgeschichte bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Hier die respektierte Wirklichkeit, dort der geliebte Traum; hier die Demut vor dem Ding und das Genügen an ihm, dort der Flug, die entbundene Phantasie. Dem, der sehen kann, wird die Sprache zum Spiegel, in welchem er alle Züge der Vergangenheit und Gegenwart erkennt. Und es ist klar, daß in ihr das nationale Gefühl am tiefsten verankert sein muß … … …


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