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Es ist kaum möglich, die Erscheinung eines Schriftstellers wie Dostojewski auf einen äußeren Anstoß hin zu umschreiben oder, was sie für die eigene Existenz bedeutet hat und bedeutet, mit einiger Verläßlichkeit zu fixieren. Dazu ist sie viel zu sehr allgemeiner Lebensstoff geworden, wenn ich so sagen darf, hat durch ihr Wesen und ihren beständig tiefer dringenden Einfluß unserer Betrachtung und seelischen Stimmung viel zu viel von ihrer Farbe gegeben, so daß ohne profunde und weitgehende Analyse das Persönliche von jenem Allgemeinen nicht mehr zu trennen ist. Viele sehen ja in ihm den Verkündiger und Propheten des großen Zusammenbruches oder einer noch bevorstehenden großen Erneuerung, den Urheber des ungeheuren Brandes, der das russische Land und Volk verzehrt; den Erwecker der Herzen und erlauchten Intellektuellen, der Millionen von Wortlosen das Wort verliehen, Millionen von Geknechteten das Gefühl der Empörung in die Brust gepflanzt hat, Bewußtsein der Menschenwürde, der Rasse, der unterschiedenen Art und schließlich sogar einer religiösen Sendung. Sein Rang als geistiges Phänomen erster Ordnung kann nicht mehr bestritten werden; seine Wirkungen abzugrenzen oder kritisch zu untersuchen, scheint mir heute, hauptsächlich wegen ihres Übergreifens ins politische und soziale Gebiet, verfrüht.
Es war im Herbst 1894, ich war einundzwanzig Jahre alt, als mir zum ersten Male ein Dostojewskisches Buch in die Hände geriet, der »Idiot«. Damals war Dostojewski in Deutschland noch wenig bekannt, und nur Literaten lasen ihn. Ich aber war nicht einmal ein Literat zu heißen, sondern lebte als armseliger kleiner Schreiber in München, und das in Rede stehende Buch war nicht einmal ein Buch, sondern es waren die zusammengehefteten Ausschnitte einer Zeitung, in der der Roman abgedruckt gewesen war. Ich will den Eindruck der Lektüre nicht im einzelnen schildern; es würde zu weit führen und liegt in meiner Erinnerung auch zu weit zurück; unverlöschlich eingeprägt ist meinem Gedächtnis nur die Wirkung der Szene, wie Fürst Myschkin im Hause des Generals die kostbare Vase zu zerbrechen fürchtet und sie dann auch wirklich zerbricht. Eine berühmte Szene; dargestellt mit einer außerordentlichen Genialität, voll unheimlicher Leuchtkraft und Gewalt.
Diese Szene, abgesehen von ihrer stofflichen Eigentümlichkeit und Neuheit, abgesehen von der fortdauernden gemütischen Bedrückung, die von ihr ausstrahlte, der seltsamen, halb beklemmenden, halb halluzinatorischen, halb gespenstischen, halb offenbarenden Wirkung, die jeder Leser bei der ersten Lektüre Dostojewskis erfährt, gab mir einen nie wieder vergeßbaren, ein für allemal feststehenden Begriff vom Wesen des dichterischen Symbols. Ich kenne auch tatsächlich nichts im ganzen Bereich der Literatur, selbst nichts im ganzen übrigen Oeuvre von Dostojewski, trotz der weit großartigeren Schöpfung der Karamasowschen Welt, was sich mit der kühnen Abbreviatur, der geradezu nachtwandlerischen Sicherheit, einen Durchschnitt durch die soziale Sphäre zu ziehen, wo sie am dichtesten, am sinnfälligsten, am charakteristischesten ist, mit den tiefsinnigen, ja diabolischen Gegenüberstellungen dieser einen Szene vergleichen ließe.
Eine solche Art, Menschen zu sehen, zu gestalten und sie in ihr letztgültiges Handeln zu treiben, hat gewiß einen bestimmenden Einfluß auf die Entwicklung nicht nur der russischen, sondern der europäischen Gesellschaft überhaupt in der Zeit zwischen 1880 und 1920 gehabt. Es wird Sache des Historikers oder Kulturforschers der Zukunft sein, dies zu ergründen; denn selten noch ist ein einziger Mann, der nicht Religionsstifter oder Welteroberer war, Veranlasser einer so umfassenden Veränderung der psychischen Situation von Generationen gewesen. Durch ihn wurde das Schicksal näher, greifbarer, wirklicher; er hat Verantwortungen und Zusammenhänge im inneren Bezirk entdeckt, die bis dahin unbekannt waren; er hat alte Bindungen niedergerissen und neue aufgerichtet; er hat die Bewußtseinsintensitäten des von Gott losgelösten und des Gott suchenden Menschen seiner und der folgenden Zeit ins Verhängnisvolle gesteigert; er hat den Abgrund zwischen östlicher und westlicher Welt mit finster entschlossener Feindseligkeit aufgerissen; er hat dem zwanzigsten Jahrhundert eine neue Hölle erschaffen, ein Pandämonium gepeinigter, geschändeter, gekreuzigter, verlechzender Kreaturen, Männer, Weiber, Kinder und Geister. Ob auch einen Himmel? Ich wage es nicht zu entscheiden. Der Roman »Aljoscha« ist ungeschrieben geblieben. Wer sich nicht, unter Preisgabe seines ganzen Ichs, mit aller Demut, Bewunderung und Furcht durchgelebt hat durch das Werk dieses Mannes, der weiß nichts von Lebens- und Geistesqual, nichts vom Erlöschen des Lichtes, nichts von der Gefahr, die unserer Welt von dorther noch immer droht.