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Wenn der allgemeine Plan zu einer größeren dichterischen Arbeit feststeht, das heißt der Schicksalsverlauf und eine gewisse Konstellation der Figuren, pflege ich mit der Niederschrift zu beginnen. Dieser Beginn hat aber keineswegs noch etwas Bindendes. Es ist der Versuch, den Weg zu finden, den Weg ins Innere, ins Wesentliche. Daher ist es fast die Regel, daß ich eine Arbeit wieder und wieder anfange. Von dem Roman »Faber« liegen vierzehn Anfänge vor, von denen einige zwanzig bis dreißig Druckseiten umfassen. Die Novelle »Adam Urbas« im ersten Band »Wendekreis« hatte neunzehn Fassungen, ehe ich die letztgültige fand, und an dieser Geschichte habe ich, da sie mir als Formgebung wichtig war, fast dreiviertel Jahre gearbeitet. Die ersten fünfzig Seiten vom »Fall Maurizius« habe ich zweiundzwanzigmal geschrieben. Im Laufe der verschiedenen Versuche stellt sich heraus, ob ein tragfähiges Fundament überhaupt zu bauen ist. Oft dauert es sehr lange Zeit, bis ich darüber die innere Gewißheit erhalte, die etwas sehr schwer zu Definierendes ist, vielleicht eine Art lebendiges Echo von den Figuren her, oder eine sonderbare Sicherheit, die sich mit dem Augenblick einstellt, wo die eine oder andere Hauptfigur selbständiges Leben entwickelt, so, als ob sie sich von jetzt ab aus eigener Kraft weiterbewegen und entwickeln könnte. Bleibt dieses Gefühl aber aus, so tritt ein eigentümlicher rascher Verwelkungsprozeß des ganzen Komplexes ein, ein völliges Absterben gleichsam, das natürlich mit großen inneren Leiden verbunden ist und oft eine Periode der Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit im Gefolge hat, von dem Verlust kostbarer Zeit ganz zu schweigen.
Steht einmal das, was ich das Fundament nannte, so sind die Hauptschwierigkeiten beseitigt, aber die Arbeit geht trotzdem nur sehr langsam vonstatten. Häufig verliere ich die Richtung, und ich muß dann umkehren und den Punkt suchen, wo ich der Sache noch sicher war, das heißt soundsoviel geschriebene Seiten wieder wegwerfen und an jenem Punkt von neuem anfangen. Es ist ein Vorgang, bei dem es sich vor allem darum handelt, wachsam zu sein. Äußerste Wachsamkeit, das könnte ich als das Grundprinzip meiner Arbeit bezeichnen, wobei die nichterlöschende Vision des Ganzen als Voraussetzung gilt. Ausschlaggebend ist bei dieser Wachsamkeit, die während der Dauer der eigentlichen Arbeit festzuhalten und zu disziplinieren eine jahrzehntelange Selbsterziehung erfordert hat, die Schärfe des inneren Auges, des inneren Ohrs und eines gewissen inneren Tastsinnes, für den eine ausreichend erklärende Bezeichnung in unserer Sprache fehlt, der aber zum Beispiel die Ursache davon ist, daß ich eine dichterische Arbeit nicht zu diktieren vermag.
Was ich die Vision nannte, ist ein Zusammengefaßtes von Erscheinung, Stimmungsgehalt, sittlichem Gehalt, Schicksalsgehalt und Beziehung zur Zeit. Sie muß das ganze Werk sozusagen vom Ende her durchdringen und durchtränken; man geht also während der Arbeit auf sie zu, und sie ihrerseits weicht beständig zurück wie eine Fata Morgana, die aber über dem Horizont stehenbleibt.
Alles übrige ist geduldige Tätigkeit, Erfahrung und glückliche Stunde.
Es ist, meiner Ansicht nach, sehr wesentlich, ja geradezu eine Lebensfrage, daß ein Schriftsteller zur richtigen Zeit den Punkt entdeckte, wo ihm eine Arbeit zu mißlingen droht. Versäumt er dies in freiwilliger oder unfreiwilliger Blindheit, so vergeudet er sich im Hoffnungslosen und mißbraucht seine Kräfte. Wenn ich mir die Sammlung von Manuskripten betrachte, beendeten und unbeendeten, die ich im Laufe dreier Jahrzehnte beiseite gelegt habe, so tue ich es nicht ohne Grauen vor soviel vergeblicher Arbeit, aber auch nicht ohne Befriedigung über die rechtzeitige Erkenntnis. Es befinden sich darunter nicht weniger als zwei ausgeführte »Caspar-Hauser«-Romane aus den Jahren 1904 bis 1906, die inhaltsmäßig mit der späteren Fassung fast nichts zu schaffen haben und worin der eigentliche Stoff nur als Symbol benutzt wurde; eine Unzahl von Novellen zum »Goldnen Spiegel«, mehr als doppelt soviel, als der Band jetzt enthält. Diese Aufzählung zu verlängern, scheint mir aber entschieden langweilig. So wie es mir nicht einfiele, in zerrissenen Hosen und Pantoffeln auf die Straße zu gehen, will ich auch meine Produkte in anständiger Bekleidung der Öffentlichkeit vorführen. In späteren Lebensjahren ist aber die äußere Form allein durchaus nicht mehr entscheidend, ja oft nicht einmal der innere Anteil, den der Autor seiner Arbeit entgegenbringt. Man muß das Ohr und die Nerven dafür haben und den Sinn dafür in sich erziehen, bis zu welchem Grad der Anteil der Welt dem des Dichters entgegenkommt, was die Welt von ihm fordert, fordern darf und braucht.
Hier folgt ein kurzes Fragment einer unvollendeten Erzählung aus dem letzten Jahr. Es sollte darin die Figur eines Buchhändlers gegeben werden, typisiert, verallgemeinert und in seinem Verhältnis zu den Werken und zum Publikum vielleicht sogar ins Dämonische getrieben. Wichtigeres hat sich vorgedrängt.
... Das heiß ich Klarheit und Strenge. So wird man gleichsam Lord-Oberrichter des Geistes. Kein Irrtum, kein Zaudern; schuldig und verdammt. Paltauf blickt mit ernsten Augen über die unendlichen Reihen der Bücher. Alle wollen Gnade vor ihm finden, alle werben um seine Gunst, die Namen bieten sich ihm schmeichelnd an, die Titel vereinigen sich zu abstrusem Unsinn, wie das Geplapper um den babylonischen Turm; broschiert, gebunden, Pappband, Leder, Halbleinen, Leinen, Prachtausgabe, Privatdruck, Hundertdrucke, Fünfhundertdrucke, Leydener Presse, Kottbuser Presse, Oktav, Kleinoktav, Folio, Schwabacher, Antiquaschrift, alles lockt, strahlt, prahlt, macht sich vernehmlich, existiert und will etwas sein. Alles gehört ihm, auf eine wunderbare und nicht zu leugnende Weise ihm. Für ihn haben sie das alles geschrieben, die Schreiber, für ihn ist es gedruckt worden, hier, bei ihm, ist der Stapelplatz, die große Ausladestelle, von wo es in die Wege des Konsums befördert wird, in die Hirne und die Herzen der Menschen. Kaffeeplantagen sind etwas Lobenswertes, doch erst der Reeder, in dessen Gewölben die Säcke lagern, bewirkt, daß die Leute Kaffee auch trinken können. Ihm, Paltauf, zu eigen sind die verschlungenen Schicksale, von denen in den Büchern erzählt wird, das tausendfache Gut und Bös und Wohl und Weh, das Gottsuchen und Spiel der Liebe. Sie richten für ihn das ungeheure Gebäude der Welt auf; Abenteuer und Laster, Visionen und Verbrechen, Weisheit und Lächerlichkeit, Ereiferung und Spott, Werden und Vergehen, Firmament und Hölle, Ozean und Eiswüste, Historie und Märchen, das tolle Gewimmel der Kreaturen, Geheimnisse aufgedeckt generationenweit, die Berufe, die Stände, die Rassen, die Völker in geteilter und verworrener Qual, ein buntscheckiges Gemälde wahrhaftig, von Stümpern und Meistern simultan gemalt, von selber Gequälten in jedem Fall, Besessenen, Ruhmsüchtigen, Märtyrern, keuchenden Wettläufern und fletschenden Sklaven. Inmitten solcher stürmischen Bewegung steht Lukas Paltauf besitzend, in unerhörter Ruhe. Er hat sozusagen die freie Aussicht über den gesamten Tumult; er könnte sich mit diesem souveränen Posten behaglich abfinden, wenn ihn nicht ein ehrgeiziges Verlangen in seiner Brust daran verhinderte …