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Von Mama besitzt Ferdinand R. eine Photographie. Er besitzt sie aber erst seit vorigem Jahr. Eine merkwürdige Sache! Eines Tages nach erledigter Reisedienstpflicht fand er im Lloydbureau von Alexandrien einen eingeschriebenen, stempelübersäten Brief vor, der ihn in der halben Welt gesucht hatte. Ehe er das beiliegende Bild ansah, las er das Schreiben, das nicht nur in gebrochenem Deutsch, sondern auch in einer merkwürdigen Rechtschreibung abgefaßt war:
Buenos Aires, 17.2.1927.
Sehr werter Herr Doktor!
Nach Verstorbenheit von meinem seligen Herrn Onkel, dem hierseitigen Besitzer und gewesenen österreichisch-ungarischen Rittmeister Bogdan Veselovich, erlaube ich mir anbei in letzter Wunscherfüllung mitfolgendes Photo einzurekommandieren. Es ist Euer Wohlgeboren selige Frau Mama, gestorben hierselbst im Jugendalter des Jahres 1898. Mein Onkel hat Bild wie auch Andenken immer treu bewahrt. Hiemit seine Letztwilligkeit erfüllend, bitte ich meinen schlechten Gebrauch deutscher Sprache zu entschuldigen.
Hochachtungsvoll
Milan Veselovich, Ingenieur.
Ich richte diesen Brief an Polizeidirektion von Euer Wohlgeboren Heimatstadt.
Erst in seinem Hotelzimmer versenkte sich Ferdinand in die Betrachtung des Bildes. Es stammte aus dem Atelier von Juan Hereros zu Buenos Aires und war nach damaliger Sitte auf glänzendem Papier kopiert. Im Hintergrund der Aufnahme schattete eine kulissenhafte Landschaft, die an Neapel erinnerte. Mamas Figur war in ein Ballkleid der neunziger Jahre gezwängt, das, tiefausgeschnitten, die Schultern mit häßlich-steifen Ärmelandeutungen kränzte. Wespentaille, lange weiße Glacéhandschuhe, schwere Armbänder, ein Fächer an der Goldschnur zahlten ihrer Zeit weiteren Tribut. Wie merkwürdig, daß auch die Züge der vierundzwanzigjährigen, schönen Frau eigentlich alt anmuteten. Das auf dem Bilde festgehaltene Antlitz hatte mit den Jahren eine ganz sonderbare Altersverwandlung erlitten. War es nur der Anblick einer verschollenen Mode mit Puffärmeln und hohem Toupet, der diesen Eindruck hervorrief? War es ein geheimnisvolles Gesetz, nach welchem auch die Bilder des hinsterbenden Lebens nicht ganz unberührt vom Altern bleiben dürfen und auf ihre Weise an der Zerstörung teilnehmen müssen, von der die Person befallen wird, die sie darstellen? Was wissen wir überhaupt von der Beziehung zwischen Bild und Leben? Auch Bilder sind Wesenheiten. Die photographische Linse zieht von einem Menschen oder einer Erscheinung eine unendlich dünne Haut ab, und diese wird dann zum Bilde entwickelt. Auch unsere Augenlinse handelt nicht anders, und die Erinnerungsbilder, die wir in unserem Innern entwickeln, sind keine leeren »Vorstellungen«, sondern unerforschbar feine Körperlichkeiten voll Eigenlebens. Nach einer tiefen Gedankenahnung dieses unbekannten Verhältnisses kam Ferdinand zu dem Entschluß, in der vorliegenden Photographie seine Mutter nur in beschränktem Maße anzuerkennen. Das Bild, das er von Mama in sich selber trug, war zuverlässiger und richtiger. Wenn er darüber nachdachte, konnte er es freilich weniger Bild nennen als sinnliche Vergegenwärtigung. Mama war für ihn dergestalt vorhanden, wie für einen Blinden die Menschen vorhanden sind: als Stimme, als Geruch, als Bewegung. Ganz im Gegensatz zu Papa und Barbara, die eine durchaus optische Wirklichkeit besaßen, schien sich Mama vor ihrem Kinde ins Unbestimmte zurückziehen zu wollen. Selbst das Bild sah ihm nicht in die Augen und verschleierte sich. War diese Handlungsweise der Toten die Folge einer erlittenen Kränkung? Gewiß! Ferdinand, der Fünfjährige, hatte in dem Zwist seiner Eltern Stellung für Papa genommen, was nicht allein der bewunderten Persönlichkeit des Obersten zuzuschreiben ist, sondern auch dem Einflusse Barbaras. Größere Gegensätze als Mama und Barbara lassen sich auch schwer denken. Mama war keineswegs gläubig. Gott machte ihr wenig Sorgen, wenn sie sich auch der Repräsentation in dieser Hinsicht nicht entzog. Sie liebte das Leben, die Menschen, sich selbst, vor allem aber Geselligkeit. In Erwartung von Gästen durch die weitaufgetan-erleuchtete Zimmerflucht zu wandeln, Blumen in Vasen zu verteilen, Decken zu glätten, alles ein letztes Mal ins rechte Licht zu rücken – dies waren ihre Freuden. An solchen Abenden mußte Vojta Livree anlegen, und auch Barbara wurde gezwungen, eine vornehme Kammerfrau zu spielen und die weiße Krause ins Haar zu stecken. Erregung herrschte im Hause, und es war klar, daß zum Ärger Ferdinands sich niemand mit ihm beschäftigen konnte. Außer den übrigbleibenden Näschereien bildete es einen gewissen Trost, daß nicht nur er, sondern auch Papa der Leidtragende derartiger Veranstaltungen war. Er wurde daran gehindert, den Flügel zu öffnen, damit die gerahmten Bilder und Ziergegenstände auf diesem Möbelstück nicht in Unordnung gerieten.
Ferdinand hatte sein Zimmer neben dem Schlafgemach der Eltern. Am Morgen, der solchen geselligen Veranstaltungen folgte, konnte er hören, daß sich Papa in vorsichtiger Weise milde beklagte. Mama aber schien auf den leisesten Vorwurf hin sogleich in Zorn zu geraten. Sie komme aus einer Welt der Lebensfreude, aus aristokratischen Kreisen, alle ihre Verwandten seien »schönheitssüchtige« Menschen. Papa aber wäre hoffnungslos »ärarisch« und, was nicht minder verwerflich sein mußte, ein »k. u. k. Grübler«. Ferdinand, der die Worte nicht, nur ihren Ton begreifen konnte, gab unbedenklich seinem Vater recht. In Mamas eifernder Stimme lag ein Mißklang, der sie verurteilte. Als diese Stimme einmal dem Gatten vorwarf, daß er mit fünfzig Jahren die Weltanschauung einer Zwanzigjährigen nicht verstehen könne, da erfüllte die Feststellung der unabänderlich hohen Lebensjahre Papas das Kind mit tiefer Bangigkeit.
Auch zu dem Rittmeister, zu Onkel Bogdan, unterhielt Ferdinand eine eigenartige Beziehung. Vor sich selber mußte er zugeben, daß der Dragoner eine schönere Uniform trug als sein Vater. Besonders, wenn er in Parade, im Helm und mit dem breiten Pallasch erschien, war diese Erkenntnis nicht abzuweisen. So reizend sich Onkel Bogdan auch zu dem Knaben benahm, so freigebig und zärtlich er ihn auch beschenkte, Ferdinand verzieh ihm nicht die glanzvollere Uniform. Dieser Uniform wegen war er für Papa eifersüchtig.
Zwei Umstände förderten die Eifersucht. Der erste, undeutliche, lag in dem Ärger, den Ferdinand empfand, wenn Mama Barbara und ihn zu ungewohnter Stunde aussandte, um Besorgungen zu machen. Diese wenig erwünschten Ausgänge hatte er Onkel Bogdan zu verdanken, denn immer erfolgten solche Aufträge, wenn der Rittmeister zu Besuch bei Mama weilte. Der andere Umstand hing mit den Pferden zusammen. Einmal hatte Onkel Bogdan von Papa die Erlaubnis erwirkt, dem Knaben die Stallungen seiner Eskadron zeigen zu dürfen. Das Herz Ferdinands blutete. Wahrlich, dieser herrliche Palast der Pferde, diese edlen, elektrisch schwingenden Renner ließen sich mit den armseligen Krampen der Infanteriekaserne nicht vergleichen. Hatte Onkel Bogdan ihn nur mitgenommen, um den Vater und das ihm Angehörende herabzusetzen?
Als sie wieder zu Hause angelangt waren, kam es zu folgendem Gespräch zwischen dem Rittmeister, Mama und Ferdinand.
»Nun, Bubi«, Mama wiegte sich im Schaukelstuhl, »großartig, was, diese Dragoner?«
Bogdan suchte zu vermitteln:
»Übertreiben Sie bitte nicht, liebe Olga! Die Königin der Waffen ist und bleibt die Infanterie. Sie allein wird den künftigen Ernstfall entscheiden.«
Mama sah den Rittmeister lange an, während sie das Schaukeln unterbrach:
»Dieses ganze moderne Heerwesen, worüber ich immerwährend wissenschaftliche Belehrungen empfange, geht mir auf die Nerven ... Euch hab ich gern! Ihr seid der letzte Überrest des Rittertums. Ich könnte Sie mir ganz gut in Rüstung vorstellen, Bogdan ... auf einem weißen Zelter ...«
Sie brach in ein übermäßiges und fast höhnisches Lachen aus. Ferdinand aber, der sein ganzes Denken zusammengenommen hatte, um die Feinde Papas wirksam zu bekämpfen, stellte sich trotzig hin und kündete:
»Die Dragoner tragen doch nur Karabiner ...«
Einmal, als Mama den Rittmeister vergeblich zu erwarten schien, kam es zu einer Szene, die Ferdinand mit Unmut erfüllte. Es war ein später Winternachmittag und es dämmerte schon. Vojta hatte vom Obersten den Befehl bekommen, sich in der Kaserne zu melden. So saß denn der Knabe in der Küche allein bei Barbara. Da stieß Mama, die unruhig die Zimmer durchmessen hatte, die Tür auf und gab Barbara den Auftrag, ihr aus der Apotheke eine nervenbesänftigende Arznei zu bringen. Auch Ferdinand lief in den Flur, sein Mäntelchen zu holen. Es war ja selbstverständlich, daß er, wenn Barbara ausging, mitgenommen würde. Mama schickte ihn doch selbst immer mit. Diesmal aber fragte sie mit gespanntem Ton:
»Was willst du mit deinem Mantel, Bubi?«
Ferdinand zögerte. Barbara stand schon an der Wohnungstür. Mama aber bekam eine ganz böse Stimme:
»Was fällt dir ein? Du bleibst hier!«
Ferdinand konnte diese Entscheidung und den strengen Ton, in dem sie abgegeben wurde, nicht begreifen. Ihn erfaßte ein wehes Gefühl, Barbara allein fortgehen zu lassen, als könnte sie ihm auf diese Weise geraubt werden. Mit eiligen Bewegungen versuchte er in seinen kleinen Mantel zu schlüpfen. Während dieser trotzigen Anstrengung wiederholte er mit aufbegehrenden Klagelauten:
»Ich will mit Babi gehn ... mit Babi ...« Ein unsanfter Ruck Mamas entriß ihm das Kleidungsstück. Ungeduldig rief sie der Kinderfrau zu: »So gehn Sie doch schon endlich!« Die Tür fiel ins Schloß. Das verzweifelte Kind warf sich schreiend, weinend gegen sie. Mama sah eine Weile still zu, dann ergriff sie mit empörten Händen ihren Sohn und schleppte den Heulenden ins Herrenzimmer. Doch diese Gewalttat steigerte Ferdinands Zorn und Schmerz aufs äußerste. Er konnte sich vor Entrüstung nicht fassen. Seine ganze Kraft ergoß er in gehässiges Brüllen. Es verschleierte ihm alles, auch Mama. Endlich, als er sich ein wenig beruhigt hatte, sah er sie wieder, die ihn aus großen Augen anstarrte. Sie saß jetzt auf Papas Klavierstuhl:
»Hast du mich denn gar nicht lieb, Bubi? ...«
Die Frage Mamas gestand eine Schwäche ein. Dies erweichte Ferdinand ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Boshaft stampfte er auf:
»Ich will mit Babi gehn!«
Mama wandte ihren Blick nicht ab:
»Hast du denn die Babi lieber als mich?«
»Ich will Babi ...«
Nun aber füllten sich Mamas Augen mit wütenden Tränen:
»Du gehörst in die Küche! Ihr alle hier gehört in die Küche! Ich schenke dich ihr ...«