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Noch gab es immerhin die Monarchie. Tief in Feindesland vorgeschoben standen die Armeen, über achtzig Divisionen stark, in Rußland, Polen, Galizien, in der Ukraine, in Rumänien, Serbien, Albanien, im Karst, in Venezien, an der Tiroler Alpengrenze, ja selbst in Frankreich. Die Völker Österreichs hatten sich so mutig geschlagen wie jedes Volk in diesem Kriege, der die Tapferkeit zu einem grauenhaften Duldertum hilfloser Menschenkinder erniedrigte und die Massen zu einer entseelten Materie. Verschwindend klein war gegen dieses Duldertum bisher der Abfall und Hochverrat, von dem so reichlich die Rede ging. Ist es nicht denkwürdig, daß in den letzten Tagen vor Zusammenbruch des Heeres, als schon Ungarn, Kroaten, Slowenen die Schützengräben verließen und nach Hause liefen, daß es in dieser verzweifelten Stunde gerade eine tschechische Division der Heeresgruppe Belluno war, die Angriff um Angriff der Italiener zurückwarf?
Noch stand immerhin die Monarchie. Noch saßen die Führer des sogenannten Jännerstreiks im Gefängnis. Noch fuhr die Zensur alltäglich über die Zeitungen hin und fegte ganze Spalten weiß und blank. Dies alles aber war kein Kraftbeweis mehr, sondern nur eine Erstarrung im Gewohnten, das letzte Verrollen einer Kugel, in der noch ein winziger Rest der anfänglichen Stoßkraft lebt. Der Staat hielt sich nur mehr, wie sich eine verbrannte Pappschachtel aufrecht hält, die ihre Form bewahrt hat, obgleich sie Asche ist. Ein Antippen mit dem Finger genügt, und der Spuk sinkt zusammen. Die beste Politik dieser Wochen erschöpfte sich in der Bemühung, nicht anzutippen.
Vielleicht hatten die ›Blätter für Kommunismus und katholische Kirche‹ es diesem Umstande zu verdanken, daß die Zensur sie nicht verbot. Damals kamen ja ein paar Politiker auf den gewiß nicht unklugen Gedanken, der westlichen Gesittung des Feindes mit dem Bolschewismus in Mitteleuropa zu drohen. Vielleicht aber erging das Verbot nur deshalb nicht, weil der mächtige Präsident Aschermann die Zeitschrift mit seinem Einfluß deckte, oder – dies ist die wahrscheinlichste Annahme – weil die Köpfe der Zensur dem abseitigen Denkstil Basils und seiner Mitarbeiter nicht gewachsen waren. Das Ganze dürfte ihnen als harmlose Spielerei von stillen Irren nur ein Lächeln abgenötigt haben.
Die Staatsmänner damaliger Zeit und aller Zeiten begehen immer den gleichen Fehler, daß sie sich nur in hochpolitischen Zirkeln bewegen, ihre Kraft einzig den Parteileuten opfern, die Massen bloß in Bausch und Bogen sehen und die geistigen Nervenenden der Zeit nicht für vorhanden erachten. Hätte sich ein Außenminister, anstatt die Salons bigotter Gräfinnen zu beglücken, vor einem Jahr bereits unter die Bewohner des Säulensaals gemischt, ein Botschafter unter die Gäste des Zürcher Terrassencafés, ihm wäre beizeiten noch die Prophezeiung Samuels am Hexenkessel von Endor zuteil geworden. Im Schattenreich, im Hause derer, die niemals zu Hause sind, am Randanger des Geistes und der Krankheit war das Ende der Welt schon längst verkündigt, und dies zu einer Zeit, da Sozialisten noch an Landeroberungen glaubten und die Toten nicht wußten, daß sie tot waren.
Ungehindert erschien – die Mitte des Septembers war erreicht – der ›Aufruhr in Gott‹. Er unterschied sich nicht wesentlich von den übrigen Zeitschriften, die Basil während eines nun schon langen Lebens aus dem Nichts gerufen und wieder ins Nichts gesandt hatte. Es waren die gleichen Betrachtungen und Überblicke wie eh und je. Der Stil war spitzfingrig, feingedrechselt und mit der zimmetigen Würze ungebräuchlicher Fremdworte überstreut. Es fanden sich mitunter schlagende Wendungen und stichhaltige Erkenntnisse. Der Ton jedoch kam immer von oben. Dieser hohe Standpunkt aber befand sich mitten im Leeren, in einem Mastkorb auf hoher See gleichsam, von wo der Blick ringsum Horizonte umspannt, die ebenso weit wie inhaltslos sind. Zwischen die beiden Titelgegensätze waren Liebesweisheiten gebettet, die an das achtzehnte Jahrhundert erinnerten. Wie jeder erlesene Geist zeigte sich Basil auch als Meister des Zitats. Er vermied es dabei, in das Füllhorn abgedroschener Sentenzenspender zu greifen. Neben dem heiligen Thomas und Bernhard wurden Aussprüche des Herzogs von Saint-Simon und des Herrn von Vauvenargues angeführt. Tiefer sanken die Zitate nicht hinab. Basil empfand allem Anschein nach eine unausrottbare Schwärmerei für die große Welt. Als er aber an einer Stelle den Namen des Lord Brummell nannte, bekam er es mit dem Schrecken, da ihm der Untertitel des Heftes einfiel. Sogleich ließ er, von Straßentiraden eingesäumt, Bakunins struppiges Empörerhaupt und Marxens professoralen Löwenkopf drohend aus dem Texte tauchen.
Ferdinand las die Nummer mit Anstrengung zu Ende. Er gab sich selbst die Schuld, daß Basils hohe spanische Schule auf seinen Geist einlullend wirkte.
Hedda brachte gleich nach Erscheinen einige Hefte oder Zeitschriften ins Café mit, um sie zu verteilen. Sie fühlte sich als die wahre Schöpferin und Führerin des Unternehmens. Basil hatte ihr einst geholfen, nun vergalt sie ihm seine Wohltat, indem sie die Grundidee seines Lebens erfüllen half. Es tat sehr wohl, eine Dankesschuld abzutragen und quitt zu sein. Daß sie Aschermanns freigebige Gunst genoß (niemanden anderen als ihn nannte sie »Papa«), dies war, zum Teil wenigstens, Basils großgeplantes Werk. Als ihm vor Jahresfrist etwa der Coup gelungen war, hatte er in sich mit Stolz eine Figur von Balzac oder Stendhal zu sehen geglaubt. Die Dinge entwickelten sich weiter. Jetzt besaß er seinen Aufruhr in Gott.
Hedda ihrerseits wollte nicht stehenbleiben. Sie war nicht mehr dieselbe, die nach allen möglichen Wechselfällen des Schicksals in Basil ihren »Entdecker« gefunden hatte. Ein großer Aufstieg winkte. Sie wollte vergessen. Wie langweilig, immer durch das gleiche Gesicht an eine überwundene Lebenslage gemahnt zu werden! Wie unangenehm, die Erinnerung in Person immer um sich haben zu müssen! Sie kam zwar, so oft es nur ging, in den Säulensaal. Der Überlegenheitsgenuß, den diese Besuche hervorriefen, war sogar ein großer Anreiz, dem Stolze ähnlich, den ein Sohn, der es zu etwas gebracht hat, empfindet, wenn er in den Schoß seiner Familie heimkehrt. Dennoch, zwischen Basil und sie drängten sich immer dichter Schatten und Empfindlichkeiten.
Nichts schafft schneller Renegaten als das Geld. Hedda, die geistige Frau, wäre über einen Vorwurf, der sie der Verbürgerung zieh, wütend geworden. Was hilft das aber? Palais war Palais, Auto Auto, Dienerschaft Dienerschaft. Eine glänzende Umgebung saugt alles auf, auch das Gedächtnis. Keine Gewohnheit wird dem Menschen schon nach einigen Tagen natürlicher als die des Reichtums. Hedda führte demnach zwischen Café und Palais ein verzwicktes Doppelleben, denn sie wollte auf keines von beiden verzichten. Bis zu einem gewissen Grade litt sie unter der Zwitterstellung, die auch auf ihre Freunde verwirrend wirkte.
In diesem Zusammenhang kommt Gebhart und sein Kreis nicht in Betracht, denn er stand außerhalb der Basilschen Clique. Es war nicht zu leugnen, Gebhart, die trotz aller Herabgekommenheit wertvollste Natur des Säulensaals, wurde zum Abschaum gerechnet. Die Beweggründe der Menschen bleiben sich überall gleich, mag der geistige Stolz soviel mogeln wie er nur will. Auch an diesem Ort herrschte der Hochmut gesellschaftlicher Rangordnungen nicht anders als im Klatschwinkel einer Kleinstadt. Gebhart mit seiner Rotte war ein gemiedener Mann. Die Angst vor dem echten Empörer, vor dem unvermischbaren Wesen zog einen Bannkreis um ihn, der ihn von dem rechten Flügel des Cafés (Basils Tisch) schied. Es gab sehr wenig Verbindungen. Nur Weiß hatte es verstanden, auf beiden Flügeln eine Rolle zu spielen. In letzter Zeit konnte man sogar beobachten, daß seine Intimität mit Basil, Hedda und den Ihren immer wärmer wurde. Die gesellschaftlichen Unterschiede des Säulensaals, so komisch sie auch sein mochten, kamen in gewissen Augenblicken zur Geltung. So auch jetzt, da Hedda einige der Insassen einlud, die Geburtsstunde der neuen Zeitschrift in ihrem Haus, das heißt in Papas Stadtpalais, feierlich zu begehn. Sie machte um Gebharts Tisch einen Umweg, als sie Ferdinand zu sich bat. Lisa, Angelika oder eine andere der Krähen in Aschermanns chinesischem Salon, das wäre ein allzugroßer Widerspruch gewesen! Sie traf für das Fest nur eine kleine Auswahl von Männern. Eine seltene Gelegenheit hatte sich geboten. Aschermann war vor ein paar Tagen mit einer Ernährungskommission nach Böhmen gereist. Das Haus gehörte nun ihr.
Papa sah es sehr ungern, wenn Hedda rückfällig wurde und sich in der Welt ihres Vorlebens zeigte. Seine Kundschafter berichteten ihm fast jedesmal von solchen Ausgängen. Dann gab es ernsthafte Unstimmigkeiten. Nicht umsonst hatte er, einem wahrhaft erleuchteten Rate Basils folgend, Hedda an Kindes Statt angenommen. Er hoffte demzufolge, die Adoptivtochter bald in der guten Gesellschaft ausführen zu können. Sie selber wünschte es. Jüngst erst hatte er von ihr gefordert, sie möge mit »all diesen kompromittierenden Leuten« brechen. Dies aber hatte sie glatt verweigert. Eine von Heddas besten Seiten war ihre Fähigkeit zur Freundschaft.
Nun, Aschermann war weit fort. Sie aber sehnte sich darnach, ihre Freunde in einer Umgebung zu empfangen, in der sie nicht nur die Intellektuelle war, sondern die Weltdame spielte.
Sehr verwunderlich war es, daß der Dichter Gottfried Krasny, das Elendsphantom, zu den Ausgewählten gehörte, die eingeladen wurden. Basil bestand darauf. Vor einigen Tagen hatte er ein paar Gedichte Krasnys kennengelernt und hegte seither eine hohe Meinung von diesem Menschen, der ihm bis dahin nur als eine der übertriebensten Chargen des Säulensaals interessant gewesen war. Der Dichter nahm mit finsterem Stolz die Einladung Heddas entgegen. Gedankenvoll betrachtete er die ausgefransten Knopflöcher seiner Hemdmanschetten, die unverbunden offenstanden.
»Kann ich in diesem Aufzug erscheinen?« fragte er formell.
»Sie können kommen, wie Sie wollen«, munterte ihn Basil auf.
Doch er schüttelte langsam den Kopf, als wisse er trotz dieser Aufmunterung genau, was er sich selbst schuldig sei:
»Ich werde mir von Herrn Weiß oder Herrn Spannweit Manschettenknöpfe ausleihen ...«
Da er das Gewünschte aber nicht bekam, erbat er sich schließlich von der Garderobefrau zwei blaßblaue Schleifen, mit denen er die Knopflöcher seiner Hemdärmel verband.
Noch einen zweiten Neuling nahm Basil mit. Es war ein tschechischer Musiker, namens Wawra, ein kurzer Mann mit stämmigen Gliedern und einem verschlossen lauschenden Gesicht, das er immerfort einem rauhen Winde darzubieten schien.
Aschermanns Palais leuchtete hell aus der verdrießlichen Straße heraus, in der es stand. Sein Herr war eine eigenmächtige und gestaltungsfrohe Natur; er hatte darum kein bestehendes Haus gekauft und hergerichtet, sondern ein neues nach seinem Sinn erbaut. Es war eine anständige Barockkopie, wie es sich gehörte. Der Reichtum des Präsidenten stammte nicht ganz von heute und nicht ganz von gestern. Ja, Papa bestand auf dem Ehrenanspruch, sich einen »Vorkriegsmillionär« nennen zu dürfen. Vorkriegsmillionär, dieses Wort hatte in kapitalistischen Kreisen den Klang uralten Adels. Kein Fürst kann mit mehr Verachtung auf Plebejer herabsehn als ein Mann, der schon vor dem Kriege reich gewesen ist, auf die neuen Reichen. Dies war der Fall des Präsidenten Aschermann, obgleich man es nicht verschweigen darf, daß auch der Krieg für ihn das seine getan hatte, und mehr noch als für andere. Einmal zwar war sein Glücksschiff in bedenklich prozessuales Schwanken geraten, aber nur Neid und Rachsucht können daran zweifeln, daß etwas anderes vorlag als jener politische Haltet-den-Dieb-Ruf, womit man die Erbitterung der Massen auf geeignete Objekte abzulenken suchte. Der Blitz wählt bekanntlich die höchsten Bäume, die aber den Verlust einiger Äste gut überdauern können. Nachdem der Sturm sich verzogen hatte, stand Aschermann ragender als zuvor. Heute berief ihn die Heeresleitung zu ihren wirtschaftlichen Konferenzen, er verhandelte wieder stundenlang mit den obersten Chefs, und der junge Kaiser selbst hatte sich beeilt, den Neuerstarkten seiner Hochachtung und Huld zu versichern. Da er über französische und englische Bankbeziehungen verfügte, stieg er in den Monaten des Absturzes, wo man alle Verbindungsfäden zur Entente ausnützen mußte, zu einer auch von hoher Seite umschmeichelten Macht empor. Dies war der Mann, der Basils Zeitschrift finanzierte, die den weltbewegenden Gedanken vertrat, die katholische Kirche müsse die Barrikaden der Revolution besteigen.
Hedda führte ihre Gesellschaft durch die Prunkräume und wies als rechte Tochter des Hauses auf alle Besonderheiten und Schätze hin, die es schmückten. Präsident Aschermann – auch hierin enttäuschte er gerechte Erwartungen nicht – war ein großer Sammler. Er sammelte Bilder, Porzellan, Gläser, Fayencen, Uhren, Schnupftabakdosen, Bronzen, antiken Grabschmuck, Münzen und manches andere noch. Es ist überflüssig, von seiner Galerie zu sprechen. Kenner und auch Laien des Kunstmarktes wissen, daß er einen der interessantesten Grecos besaß und vielleicht das allerschönste Bild von Bassano, das es gibt. Ferdinand hatte dergleichen noch nie gesehn. Er durchschritt die weiten Räume wie ein Museum, ohne das Gefühl zu haben, dies alles sei ein persönliches Besitztum. Mit pflichtschuldiger Bewunderung blieb er vor jeder Kostbarkeit stehn, auf die ihn Hedda aufmerksam machte. Weiß hingegen, der die Fähigkeit hat, sich schnell in den Sattel jeder Situation zu schwingen, war sogleich zu Hause. Sein Witz, der den idealen Wert all dieser großartigen Dinge frech in Zweifel zog und als einen der tausend bürgerlichen Schwindel entlarvte, fand den lachenden Beifall der Führerin. Schließlich waren Aschermanns Sammlungen ihre gefährlichen Nebenbuhlerinnen.
Man stieg zu Heddas Räumen im Oberstock empor. Sie zeigte den Freunden auch ihr Schlafzimmer. Es wurde von einem Buddhastandbild beherrscht, das gerade gegenüber dem Prunkbette seinen Fettbauch begrinste. Was diese Nirwanamahnung mitten im Luxus, die Anspielung auf die Wertlosigkeit aller Glücksgüter angesichts des geräumigen Lagers bedeutete, das konnte sich jeder erklären, wie er wollte. Jedenfalls war der Buddha das erste Geschenk gewesen, das Aschermann seiner Adoptivtochter gemacht hatte. In Heddas Bibliothek, wo man sich dann niederließ, wurde ein Cocktail herumgereicht. Die Bibliothek durfte sich auch wirklich sehen lassen. Man merkte Basils bibliophilen und geistigen Geschmack. Eine mächtige Ausgabe von Kirchenvätern stand in Reih und Glied, dann Philo Alexandrinus neben Plotin, Kierkegaard in der Nähe Swedenborgs; in einer andern Abteilung aber eine ganze Heerschau von Memoiren des achtzehnten Jahrhunderts. Manche nahmen später an, daß Basils Verstimmung erst im Verlauf des Abends eingetreten sei. Das entspricht nicht den Tatsachen. Zwischen ihm und Hedda hatten in den letzten Tagen große Auseinandersetzungen stattgefunden. Er war in düsterer Gemütsverfassung, schon als er Aschermanns Haus diesmal betrat. Er ging sofort zur Bibliothek und blätterte einige Bände auf, ohne sich um das allgemeine Gespräch zu kümmern. Plötzlich aber drehte er sich um und begann, ohne jede vorhergehende Warnung, einen schmerzlichen Abschnitt aus dem Nikolaus Cusanus vorzulesen. Nach einer Weile unterbrach ihn Hedda:
»Ich glaub, was du da vorliest, Basil, steht in dem Buch gar nicht drin.«
Er sah sie schweigend durch seine Hornbrille an. Sie lachte:
»Du mußt nicht bös sein, Basilius. Dein Genie ist eben die Lüge, oder sagen wir die Mystifikation.«
Daraufhin steckte er das Buch in die Reihe und kehrte der Gesellschaft weiter den Rücken.
Ronald Weiß hingegen bewährte sich in einer neuen Schwarzkunst. Er erriet bei verdecktem Titel, aus Einband, Druck, Papier eines Buches den Autor und den Verlag. Hedda stellte ihm mehrfach diese Aufgabe, die er (es handelte sich natürlich nur um neuere Werke) glänzend löste. Die Sicherheit war wirklich staunenswert. Weiß begann durch seine leichten Reden und Künste das Feld zu beherrschen. Hedda rückte ihn offensichtlich vor.
Als man im Speisesaal an dem großen makellos gedeckten Tisch saß, überfielen Ferdinand große Schmerzen in seinem rechten Arm. Er hatte einen der beiden Plätze an der Seite der Hausfrau inne. Rechts saß Ronald Weiß. Eigentlich hätte Basil hingehört, dem die Feier galt. Aber wer konnte annehmen, daß eine Größe des Säulensaals Wert auf irgendwelche bürgerliche Tischordnung lege.
Die Gesellschaft war zahlreicher als es ursprünglich den Anschein hatte. Zwei Freundinnen Heddas hatten sich eingefunden, eine junge Malerin und die Tochter eines Bankdirektors, der von dem Präsidenten abhängig war. Beide gehörten zur andern Welt, zum Reich der Ordnung, das Aschermanns Günstlingin für sich zu gewinnen trachtete, wenn es sie auch immer wieder in den Dunst des Cafés zurücktrieb. Außer Weiß und Ferdinand war noch ein Mann in Uniform da, ein kriegsinvalider Offizier, der schon im ersten serbischen Feldzug ein Bein verloren hatte. So langsam und abgehackt er sich auf seiner Prothese bewegte, sprach er auch. An diesem Abend jedoch trat er sehr wenig hervor. Er hieß Leopold Zöger.
Zwei Diener begannen aufzutragen. Ferdinand hatte ein peinliches Gefühl im Rücken. Er spürte vielleicht das Mißbehagen der Bediensteten, das aus Verachtung für die Gäste und aus Schuldbewußtsein gegen den Präsidenten zusammengesetzt war. Aber nicht nur ihm allein ging es so. Anfangs lag über der Tafelrunde eine verlegene Steifheit. Dieser oder jener wurde sich vielleicht bewußt, daß er wider Wissen und Willen des Herrn hier eingedrungen sei, daß ihm Sitz und Speise nicht zukomme, daß er sich einer unerlaubten Sache mitschuldig mache. Auch der Raum selber hatte an dem Zustandekommen der Steifheit seinen Anteil. Leute, die Tag und Nacht an schmutzigen Marmortischen lungerten, sahen sich auf einmal zu einer unbekannten oder vergessenen Form gezwungen. Wenig wurde gesprochen. Hedda bemühte sich pflichtgemäß mit aller Liebenswürdigkeit, die unbehagliche Stimmung nicht groß werden zu lassen.
Der Einzige, der von der anfänglichen Verlegenheit unberührt schien, war Krasny. Mit tiefem Ernst verfolgte er den Weg der Schüsseln, von der Türe zur Tafel, von Gast zu Gast. Was auf den Tisch kam, stellte in diesem Jahre und in dieser Stadt des Hungertyphus eine Art Herausforderung Gottes dar. Krasny aber ließ sich nicht aus seiner düsteren Ruhe bringen. Die Forelle auf seinem Teller betrachtend, zog er schmerzlich die Augenbrauen zusammen. Weiß wandte sich traurig an seine Nachbarin:
»Herr Krasny ist leider mit diesen Forellen nicht einverstanden, Frau Hedda!«
Krasnys Augen wurden wahrhaft furchtbar im Zorn:
»Sie sind ein Plebejer, Herr Weiß!«
Und mit dem stoßweis-gaumigen Predigerton, der ihm eigen war, strafte er den Quälgeist:
»Mir sind Forellen bekannt, Herr Weiß ... Sie müssen sich hier nicht aufspielen ... In Zeiten der Sättigung sind Forellen, blau, in Essigwasser gesotten, mit zerlassener Butter, ein sehr edles Vorgericht ... Ich halte sie aber für substanzloser als grüngekochtes Gemüse, für ein vornehmes Scheinessen ... Sie haben einen sehr geringen Nährwert ... Und was ihren Geschmack anbelangt, so muß man eine ausgeruhte Zunge haben, um ihn zu erkennen ... Ich habe keine ausgeruhte Zunge ... Leider bin ich gezwungen, allzuviel mit Senf bestrichenes Maisbrot zu essen.«
Und des Gelächters nicht achtend, fügte er diesem Bekenntnis nach reiflicher Überlegung hinzu:
»Für mich kommt hauptsächlich ein schönes Stück Fleisch in Betracht, rasch abgebraten, saftig, englisch ...«
Jedes dieser Eigenschaftsworte begleitete er mit einer schwärmerisch taktierenden Handbewegung, als gehörten sie zu einer Lieblingsmelodie.
Jetzt begann Stechler sich zu ereifern. Forellen seien fast die einzige eines Künstlers würdige Nahrung, schon wegen der »Phosphate«, die sie enthalten. Es stehe zu hoffen, daß einmal die Revolution (Rußland habe es den Gerüchten nach schon verwirklicht) ein Gesetz schaffen werde, das die Künstler des Lebenskampfes enthebt und in staatliche Obhut nimmt. Er, Stechler, sei entschlossen, gegebenenfalls einen Antrag zu stellen, der für das künftige Prytaneum eine wahrhaft durchsichtige Speisenfolge fordere. Im Gegensatz zu Gottfried Krasny werde ein Peter Altenberg begeistert sein. Also, Forellen vor allen Dingen, dann Kalbshirn, Kalbsbries, Schinkenmus, Haché und leichte Omeletten.
»Kennen Sie Archer?« Er schrie diesen Namen wie ein Programm. Niemand kannte Archer. Darüber war Stechler entsetzt:
»Was, Sie kennen Archer nicht? Er ist das einzige Genie, das gegenwärtig in Wien lebt. Radikal gegenstandslos! Als Maler allerdings eine Null! Als Mensch aber toll, meine Herren! Er lebt ganz nach der Mazdaznanlehre. Das wissen Sie auch nicht, was das ist. Mazdaznan?«
Ronald Weiß meldete sich wie ein Schulknabe mit zwei Fingern:
»Bitte, Herr Lehrer, regen Sie sich nicht zuviel über unsere Unwissenheit auf. In Österreich haben wir das noch nicht gehabt. Aber als ich einmal einen Winter lang in Leipzig war, hab ich bei einem kleinen Schneider in der Nürnbergerstraße gewohnt, der den ganzen Tag lang an Knoblauchknollen gelutscht hat. Der Duft meiner Bude hat davon gesungen und gesagt. Das ist, wenn ich nicht irre, Mazdaznan.«
Stechler wurde böse:
»Machen Sie keine schlechten Witze, Herr Weiß! Es sind vor allem Hülsenfrüchte ...«
Ronald schnitt ihm das Wort ab:
»Mazdaznan scheint eine persisch-sächsische Weltanschauung zu sein.«
»Über so etwas sollte man nicht lachen«, grollte der Maler, »Mazdaznan reinigt unsern Atman ...«
Ehe ihn aber noch jemand durch eine Frage nach der Bedeutung des Wortes Atman in die Enge treiben konnte, wich er aus:
»Archer hält in seinem Atelier Kurse ab, die man besuchen soll. Ehe er seine Schüler zeichnen läßt, macht er kolossale Entspannungsübungen. Jeder muß zuerst einmal die Goschen aufsperren und die Zunge lockern. Dann führt er ein Rembrandtbild oder einen Tintoretto auf seine rhythmische Urbewegung zurück. Die Schüler müssen die richtige Kurve finden, aus der die Komposition sich aufbaut. Fabelhaft, was? Nächstens findet eine Zusammenkunft zwischen ihm und mir statt. Wir haben einander schriftlich zugesagt, uns eine ganze Woche lang vorher durch Purgieren innerlich stark zu reinigen ...«
Basil hatte bisher noch kein Wort gesprochen. Über seinem schönen ausgemergelten Haupt, das die aufgetürmte Stirn mit dem lüsternen Mund nicht in Einklang brachte, lag eine schwere Verdüsterung. Niemand war gewohnt, dieses gelassene Haupt als das Opfer einer inneren Bewegung zu sehn. Niemand darum bemerkte sie auch. Es gehörte ja zu Basils Größe, daß er kein Privatleben führte, daß er es niemals bei Frau und Familie ausgehalten, daß er's »zu nichts gebracht« hatte und sich noch als Fünfzigjähriger in den Vorräumen des Erfolges umhertrieb, anderen gerne helfend, für sich selber bei allem Raffinement ungeschickt. In gewissen Augenblicken aber schien ihn der Leerlauf seines Schicksals zu überwältigen. Das Nichts fuhr ihm an die Gurgel. Von Tag zu Tag zerrann das Leben damit, daß man unter öden oder tollen Jungen saß und einen unnützen Wortebrei von sich gab. Tag für Tag schmierte man sich mit Weibern herum, die für jeden zu haben waren. Man wohnte als alter Mann noch in einer unbequemen Studentenbude und mußte dankbar für die Almosen eines Herrn Aschermann sein, dem man eine kleine ehrgeizige Jüdin zugemittelt hatte. Wenn er wenigstens von den Almosen Aschermanns hätte leben können! Dieses Geld aber sah Basil gar nicht. Es wurde unmittelbar an seine Frau nach Köln geschickt. Er selber war gezwungen, Zeitungsartikel zu schreiben oder Besprechungen über Bücher, die er nicht einmal zu lesen vermochte. Die Ehrgeizige jedoch, die er erhöht hatte, lebte im phantastischen Überfluß und wuchs ihm über den Kopf. Er wurde kalkweiß im Gesicht. Wie haßte er jetzt diese Zeitschrift, deren Geburt man heute feierte! Nun erschauerte er unter dem ganzen zwecklosen Schwindel. Seine Hände erfroren. Eine Sekunde lang sah er sich erbarmungslos selber. Die Sehnsucht, mit der er oft prahlte, längst schon in einem Kloster verschollen zu sein, bekam wehe Echtheit.
Auf Ferdinand, dessen Ohren von einer merkwürdigen Ermattung rauschten, sprang Basils Qual über. Beide sahen einander plötzlich an. Der Ältere räumte seine verzerrte Miene zusammen, zog aus Verlegenheit einen süffisanten Mund und trank dem Jungen zu. Jetzt erst gewahrte Ferdinand, daß man französischen Champagner in Aschermanns Kelche schenkte. Seine Hand zögerte. Zwischen ihm und dem Glas stand der Schatten einer alten Nacht. Überdeutlich dröhnte die Stimme des rohen Fähnrichs in der Weinstube ›Zum Richtkreis‹ durch sein Hirn. Da hob auch Weiß das Glas und trank ihm zu, ohne zu wissen, warum er es tue.
Es entwickelte sich nun ein Gespräch, das Basil anführte. In seiner Stimme klang noch der Unterton des Schmerzes mit, der kaum überwunden war. Er sah aus, als käme er vom Krankenbett. Was er sagte, unterschied sich wesentlich von den Ansichten, die er im Café vertrat. Basil entpuppte sich als ein finsterer Reaktionär.
Alles, was auf der Welt geschehe, sei blutrünstige Schweinerei oder bodenlose Dummheit, zumeist aber beides zusammen. Dem könne keine soziale Neuordnung jemals abhelfen. Nichts anderes bleibe übrig, als daß jeder anständige Mensch in seine selbeigene Privatwüste verschwinde und dort inbrünstig zu Gott bete, daß er ihm den rechten Glauben zuteil werden lasse. Jedermann, der nicht endgültig verkommen wolle, müsse allermindestens dem dritten Orden der Franziskaner beitreten, der das Weltleben nicht verhindere. Er selbst aber habe noch weit strengere Absichten.
Demgegenüber versuchte Weiß nach der gewohnten Regel, alle Verkommenheit und alles Schurkentum als zwangsläufige Folge der kapitalistischen Weltordnung hinzustellen. Dieser Vorbehalt aber glückte nicht sehr in diesem Raum, wo die Millionen auf die Versammelten herabblickten.
Leopold Zöger, der kriegsinvalide Offizier, war mit dem Glauben an sich einverstanden. Nur einen heiklen Punkt gebe es darin. Die Auferstehung des Fleisches. Nach dem, was er im Kriege gesehn und erlebt habe, könne er sich mit dieser Lehre ganz und gar nicht anfreunden.
Hedda ließ mit gezierter Bewegung eine goldene Dose aufspringen, um sich zwischen zwei Gängen eine Zigarette anzuzünden. Dabei sagte sie sehr spitz:
»Ich, für meine Person, stehe der christkatholischen Kirche durchaus sympathisch gegenüber ... Aber, Basilius, heb dir deine Weisheit für die nächste Nummer auf!«
Sie neigte ihr Gesicht nahe zu Weiß und flüsterte ihm etwas zu. Basil nahm vor Wut die Hornbrille ab. Seine wäßrigen Augen bekamen den blödsinnigen Ausdruck aller Kurzsichtigen, wenn sie des Glases entbehren. Er wollte antworten. Hedda aber drehte sich rasch um. Hinter ihr stand mit langem Gesicht die Kammerfrau. Ihre Stirn war naß vor Schreck:
»Der Herr Präsident!«
Bewundernswert, wie schnell sich Hedda faßte:
»Bitte, laßt euch nicht stören! Papa ist ein netter Mann.«
Sie sagte das leicht affektiert, aber sonst merkte man ihr nichts an. Auch Basil schüttelte seinen Mißmut ab und erhob seine lange vornehme Gestalt, die ihm Selbstbewußtsein gab. Die anderen saßen still wie im Theater. Es war auch wie im Theater ein Auftritt älteren Stils.
Ferdinand sah an dem alten Herrn mit dem lustig lebensroten Gesicht zuerst die gebauschte Plastronkrawatte von schwarzem Atlas, in der eine große Perle steckte. Sie und der prallsitzende seidenumbortete Sakkorock wirkten ungemein beruhigend und bestimmt.
»Das lebt und genießt«, sprach Aschermann halb zu sich und setzte einen umfänglichen Zwicker mit breiter Hornfassung auf.
Basil federte ihm weltmännisch entgegen:
»Wir feiern hier die erste Nummer unserer Zeitschrift, womit wir auch Sie feiern, Herr Präsident ...«
Aschermann lächelte höflich, übersah aber die hingereichte Hand. Er begann offenbar mit dem Geschäft unzufrieden zu werden. Dann überblickte er Tisch und Gäste. Niemand bemerkte die Schärfe dieses Überschlags, der aus gutmütig-wohlumpolsterten Augen brach. Nach dieser winzigen Pause gab er sich einen unmerklichen Ruck und schaltete ein kernig-lachendes Gepolter ein. Seine Stimme war breit und heiser. Hedda stellte vor. Der Präsident erwies sich so überströmend liebenswürdig, als fände er hier nur Freunde aus alter Zeit versammelt. Er schlug Weiß kameradschaftlich auf die Schulter und begrüßte Ferdinand mit einem warmen: »Freut mich, freut mich sehr.« Der Zufall schien es zu wollen, daß er Basil wiederum vergaß. Als er aber Krasnys ansichtig wurde, konnte er sich nicht beherrschen:
»Was sind Sie für ein Vogel?«
Gottfried Krasny hob in seiner feierlichen Art die Hand wie ein Redner, der um das Wort bittet:
»Ein Rabe, Herr Aschermann, der das Stehlen leider nicht erlernt hat.«
»Großartig, großartig«, prustete der Präsident und wandte sich an den Herrn, der jetzt eben ins Zimmer trat:
»Was sagen Sie, Herr Doktor? ... Die Herren von der Literatur! ...«
Der Herr war ein Abgeordneter. Seinen Namen raunte einer dem andern zu: »Dengelberger.« Er schob seine menschenfreundliche Wohlbeleibtheit heiter hinter dem Hausherrn einher. Es gibt zwei Arten dicker Menschen: die einen leiden an ihrem Fett, die andern bejahen und lieben es. Zu diesen erfreulich-geschlossenen Naturen gehörte der Abgeordnete Dengelberger. Sein behagliches Gehaben ließ die ganze, geradezu mütterliche Zärtlichkeit erkennen, die er für seine optimistische Leibesgestalt empfand.
Aschermanns Siegestemperament und seine heisere Freudenstimme beherrschten sehr bald den Tisch. Man rückte ein wenig zusammen, um nachzuservieren. Vielleicht ging alles ohne ein Donnerwetter ab. Hedda sorgte aufmerksam für Papa. Der Präsident entdeckte den Champagner und war begeistert, daß man in seinem Haus nicht schlechter bewirtet werde:
»Was, meine Herren, das ist ein Weinderl? ... Den hab ich vor ein paar Monaten aus Frankreich bekommen ... Also. Herr Doktor Dengelberger, Sie werden nicht betrogen ... Ich bitt um Ihr Urteil ... Franz, siehst du nicht, daß die Flasche leer ist? ...«
Unterdessen hatte auch Dengelberger umständlich Platz genommen. Wie die leibhaftige Lebensfreude und Selbstzufriedenheit breitete er sich aus. Mit einer schönen Baritonstimme, die von den Versammlungen her sich ihrer Tragfähigkeit bewußt ist, seufzte und sang er wie ein Mann, der aus grimmiger Kälte kommt und jetzt eben in dem Frieden eines warmen Zimmers langsam aufzutauen beginnt:
»Ja, die Literatur, die Literatur, die Literatur, jawohl meine Damen, die Literatur und hundertmal die Literatur ...«
Diese Textwiederholung sang er andächtig auf allen melodischen Stufen einer fröstelnden Skala. Dann erst schien er ganz warm geworden zu sein, was er durch ein ebenso ausführliches wie abschließendes Sich-Schneuzen bekundete. Er war bereit und rieb seine großen Hände in Erwartung des Kommenden.
»Franz«, rief der Präsident, »das Telephon hieher auf den Tisch! Wir werden dringend angerufen ...«
Der Fernsprecher neben dem Gedeck rief einen Eindruck von Allgewalt und Allgewichtigkeit hervor, den auch Aschermanns heisere Herzlichkeit nicht abschwächen konnte.
Der Abgeordnete lächelte seine harrenden Hände an, die er jetzt über dem Bauch gefaltet hielt. Dann erhob er seine gleichgültige und wohltönende Stimme, die in ihrer selbstsicheren Nervenruhe einem Menschen glich, der einen gefährlichen Straßenübergang zu wildbewegter Stunde ruhig wie eine Gartenpromenade überquert. Man konnte es verstehen, daß Dengelbergers parlamentarische Gegner die gelassene Unbeirrbarkeit dieser Stimme fürchteten. Der Abgeordnete war ein guter Redner. Wie bei jedem guten Redner rief nicht der Gedanke das Wort hervor, sondern umgekehrt das Wort den Gedanken, so bescheiden er auch zumeist war. Dengelbergers kleine Augen wurden durch eine nickelgefaßte Brille unsichtbar gemacht, wie sie Handwerker, kleine Kanzlisten und Dorfschullehrer tragen. In dieser gutversteckten Augenpartie saß die scharfe Instanz, die auch die Lebenslust und Behaglichkeit des übrigen Körpers ihren Zwecken unterwarf. Dengelberger knüpfte an seinen Behaglichkeitsgesang von vorhin an:
»Ja, die Literatur! ... Da sitzen Sie nun, meine Herrschaften, Vertreter der Literatur alle miteinander ... Sie lassen es sich wohlergehen und genießen den Anblick schöner Damen an Ihrer Seite, was ich hiermit auch tue ... Um mit Schiller zu reden, wir trinken Zyprier und küssen schöne Mädchen ... Item! Die Frage muß unbedingt gestellt werden: Hat die Literatur ihre Pflicht dieser Zeit gegenüber erfüllt? ... Nein, leider Gottes, nein und dreimal nein! ... Unsere Schriftsteller (verzeihen Sie, daß ich als Laie ein Urteil abgebe), nein, nein, unsere Dichter und Schriftsteller waren dem Massenerlebnis des Krieges nicht gewachsen, weder im Aufschwung noch im Leid ... Kein Lied ist entstanden, kein Epos, das der Zeit würdig wäre ... Eine armselige Heerfahrt mit Speer und Schild, Pfeil und Bogen hat das Nibelungenlied gezeitigt ... Und der größte aller Kriege hat, soweit ich es übersehen kann, nichts hervorgebracht.«
Hier unterbrach Krasny mit einem dunklen Bekenntnis Dengelbergers Klage:
»Nicht die Touristen, sondern die Soldaten im Süden sehen die Dolomiten am besten.«
Der Meister im Überhören von Zwischenrufen dachte einen Augenblick nach, verstand den Satz nicht und schob ihn zur Seite:
»Es bleibt dabei ... Unsere Dichter kommen von dem alten Plunder nicht los ... Ob Hans die Grete kriegt oder nicht ... das ist ihr ganzes Zeitgefühl ...«
Auf diese etwas ländliche Feststellung hin breitete sich ein betretenes Schweigen aus. Der Volksmann spürte, daß er nicht ganz up to date gesprochen habe, und verbesserte sich:
»Hans und Grete werden jetzt halt mit moderner Perversität aufgeputscht ... Aber das große Erlebnis, das Massenerlebnis, meine Herrschaften? ...«
Und er wiederholte so ziemlich dasselbe, was im kulturellen Spinnwebwinkel der Parteipresse zu lesen stand. Aschermann, in Sachen des schönen Geistes kein geringerer Barbar als Dengelberger, wollte zeigen, daß er nicht umsonst einen geeichten Wortekünstler in seiner Hofhaltung habe:
»Es sind doch ein paar ganz hübsche Kriegsgedichte gemacht worden«, urteilte er milde, »zum Beispiel:
›Drüben am Donaustrand
Hocken zwei Raben ...‹
Vielleicht geht es auch anders. Jedenfalls sehr hübsch. Die Sache hat ein Fludium. Nicht wahr?«
(Fludium, das war mehr eine Entgleisung der Zunge als des Geistes. Billigerweise muß gesagt werden, daß Präsident Aschermann noch weit schwierigere Fremdworte richtig aussprach. Heute hatte er schon einige Konferenzen und eine mehrstündige Autoreise hinter sich, wodurch dieser kleine Schnitzer eines großen Mannes vollauf gerechtfertigt erscheint.)
Niemand widersprach ihm. Es wäre auch überflüssig gewesen, denn der Volksvertreter erging sich in Lobeserhebungen über den gespickten Rehrücken. Der Präsident lud ihn hierauf für die nächste Woche in sein Jagdhaus ein, das in den steirischen Alpen lag. Mit der Miene eines Priesters, den man zum Besuch verrufener Nachtlokale verleiten will, lehnte Dengelberger ab. Wer konnte wissen, was der nächste Tag bringen werde. Er sei niemals ein Schwarzseher gewesen, habe immer gut deutsch allerwege empfunden und hoffe auch jetzt noch auf einen glimpflichen Ausgang. Die Zukunft aber gleiche einer Wasserhose oder einem Zyklon auf hohem Meere, der vom Horizonte her näherdringe. Die Verantwortlichen müßten Tag und Nacht auf dem Posten sein. Das Elend der Bevölkerung, das Elend der Feldarmee stelle Aufgaben, denen kein Sterblicher mehr gewachsen sei. Ganze Kompagnien ständen in den Kavernen der südwestlichen Front, ohne Stiefel und nur mit Unterwäsche bekleidet. Das Kriegsspital in Grinzing gleiche einem Dampfkessel vor der Explosion. Die Mehlquote der Schwerarbeiter sei auf ein Maß hinabgesunken, das nicht weit vom Hungertod entfernt liege. Er habe vor einigen Tagen das Neustädter Industriegebiet bereist. Sollte er auch hundert Jahre alt werden, so könne er den grauenhaften Anblick menschlichen Elends nie vergessen. Nur einen einzigen Tag müßten alle die fluchwürdigen Kriegsanstifter unter den Arbeitern von Blumau, Wöllersdorf, Ternitz verbringen:
»Wehe dieser Stadt, wehe diesem Hause und wehe uns allen«, rief seine freundlich volle Stimme, während der letzte Gang abgetragen wurde, »wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht und es den blutenden und hungernden Massen einfällt, die Rechnung zu präsentieren. Es kommen schwere Stunden, und man muß gerüstet sein.«
Ronald Weiß grinste und unterdrückte eine Bemerkung. Aschermann aber verriet auf diese blutige Mahnung hin keinen Schreck, sondern häufte mit väterlichem Lächeln einen Turm von Havannakisten vor dem Propheten auf, der nach bedeutenden Gewissenskämpfen eine Zigarre wählte, die sowohl hell als auch lang und schlank war.
Der Präsident, der das Gespräch ablenken wollte, erkundigte sich bei Hedda nach der neuen Zeitschrift. Den Titel finde er zwar, milde gesagt, komisch, aber auch er sei einmal jung gewesen und habe seinerzeit die liberale Gesinnung der alten Achtundvierziger hochgehalten. Was allerdings die fortschrittliche Gesinnung oder gar kommunistische Verrücktheiten mit dem Klerikalismus zu tun hätten, das sei ihm ganz und gar unbegreiflich. Aber schließlich würden die Pfaffen in Österreich immer die stärkste Macht bedeuten und er selber samt seinem alten Kopf habe nicht die Verpflichtung, alle neumodischen Narreteien zu verstehen. Man möge ihm den ›Aufruhr in Gott‹ oder wie das Zeug sonst heiße auf den Nachttisch legen.
Dann wandte er sich um und rief seinen Diener Franz scharf an. Was er jetzt tat, war gewiß im gesellschaftlichen Sinn höchst unkultiviert, aber es verfolgte vor diesem Kreise zweifelhafter Gäste eine unverhohlen erzieherische Absicht. Aschermann wollte mit dem Verhör, das über den erbleichenden Diener niederging, der Runde etwa sagen: So, nun ist es genug! Für den Fall, daß alles schiefgehen sollte und in Wien ein Totentanz losbricht, habe ich mich als weitblickender Kaufmann nicht nur mit Rollbalken und Sicherheitsschlössern, sondern auch mit einem blödsinnigen, aber radikalen Blättchen eingedeckt, in dem das Wort Kommunismus vorkommt. Für die mittlere Linie halte ich mir außerdem diesen erzgescheiten und weinbeißerischen Genießer warm. Schluß! Wer aber glauben sollte, daß ich ein zitternder Feigling bin und mich, weil möglicherweise ein Wirbel vor der Tür steht, auch nur im geringsten in meinem Besitze schmälern lasse, der irrt sich gewaltig. Diese Blase verkommener Idioten hier, die ich in ruhigen Zeiten mit der Hundspeitsche aus dem Tempel gejagt hätte, soll wissen, daß ich Herr in meinem Hause bin und bleiben werde, auch wenn Österreich zugrunde geht. Den langen ausgewitzten Lackel mit seiner geilen Leichenbittermiene werde ich morgen hinausschmeißen. Wenn die Lage sich bessert, folgt ihm das gescheite Frauenzimmer nach, das mir grad deshalb immer weniger gefällt. (Man soll sich halt nicht vom Weg drängen lassen. Mein Typ ist immer blond gewesen.) Sie bildet sich ein, daß sie mich ewig hereinlegen wird. Aber da hätte sie früher aufstehn müssen. Übrigens werde ich, solang es noch möglich ist, eine neue Versicherung des Hauses in der Schweiz oder in Holland abschließen ...
»Franz!« Aschermann sah dem Diener fest in die Augen: »Haben Sie die kleine griechische Bronze auf meinem Schreibtisch im Gedächtnis?«
»Jawohl, Herr Präsident!«
»Wann bin ich fortgefahren? Vor fünf Tagen, nicht wahr?«
»Jawohl, Herr Präsident!«
»Vor fünf Tagen war das Stück noch da. Sie wissen ja, ich wünsche, daß man die Sachen auf meinem Schreibtisch in Ruhe läßt und sie nicht zum Putzen hinausnimmt. Merken Sie sich das!«
Der Diener sah den Präsidenten entgeistert an. Heddas Ohren wurden blutrot. Bei Papa schien seit seiner Reise ein merkwürdiger Umschwung vorgegangen zu sein. Noch kannte sie sich nicht aus. Sie hatte bisher auf seine (oft belächelte) Alt-Herren-Sentimentalität Häuser gebaut, der man auch seine gelegentlichen Wutanfälle zugute halten mußte. Nun aber schoß auf einmal eine gefährliche Schneidigkeit aus der Maske genießerischer Güte. Hedda hegte ein lebhaftes Gefühl für die Dienerschaft des Hauses. Sie suchte nicht nur ihre Lebenslage zu bessern, wo es ging, sondern auch ihre Bildung zu heben. So hatte zum Beispiel Franz, der jetzt gerade eine so scharfe Lektion seines Herrn erhielt, von ihr einen Roman Dostojewskis zum Geschenk bekommen. Sie fühlte sich verpflichtet, den Diener in Schutz zu nehmen. Schon wollte sie eine Frage stellen, da schrillte das Telephon auf dem Tisch.
Es war ein langes, gebieterisches Klingelzeichen. Aschermann strahlte feierlich und wegwerfend zugleich:
»Jawohl ... Ist dort Baden? ... Armeeoberkommando? ... Seine Exzellenz selber? ... Meine Verehrung, Exzellenz! ... Wie? ... Heute noch? ... aber ich komme eben aus Prag ... Es war eine ziemlich anstrengende Fahrt ... Was? Ministerrat bei Seiner Majestät? ... Ernährungssicherung für den Monat Oktober? ... Jawohl, ich verstehe ... Wenn es unbedingt sein muß ... Der Ministerrat hat schon begonnen? ... Jetzt ist es elf Uhr ... In dreißig Minuten kann ich an Ort und Stelle sein ... Nein, danke, ich benütze meinen eigenen Wagen ... Werde in Baden übernachten ... Sehr gütig, Exzellenz ... Ich stehe immer zur Verfügung, das weiß Seine Majestät von mir ... Jawohl, danke ... Respekt, Exzellenz!«
Doktor Dengelberger zog vor Neugier seine Brauen hoch. Welch eine Macht war dieser alte energische Jude, den man vor zwei Jahren schon eingesargt hatte. Der Abgeordnete bat mit aufgestörtem Brillenblinzeln:
»Ich bin bis drei Uhr früh unter der bekannten Adresse zu erreichen. Rufen Sie mich bestimmt an, Herr Präsident!«
Aschermanns grunzender Baß streute wiederum nach allen Seiten das Gold behaglicher Güte und bedenkenloser Gastfreundschaft aus:
»Lassen Sie sich nicht stören, meine Herrschaften! ... Hedda, sorge dafür, daß deine Gäste zu trinken und zu rauchen haben ... Franz, die Liköre! ... Also, gute Unterhaltung weiter!«
Der alte Herr in seinem prallsitzenden Rock stapfte von einem zum andern. Angesichts Krasnys erstaunte er von neuem, sagte aber nichts als: »Oha!« Den beiden jungen Mädchen tätschelte er die Wangen. Hedda küßte er, seine Rolle als Papa wahrend, auf die Stirn. Dann winkte er Dengelberger:
»Kommen Sie, Herr Doktor, ich bringe Sie in meinem Wagen zu Ihrer Tarockpartie.«
Zärtlich den eignen Leib zur Tür schiebend, verschwand der Abgeordnete mit Aschermann.
Nach dieser Episode setzte sogleich eine große Lustigkeit ein, die sich selber immer höher peitschte. Es war die minderwertige Lustigkeit von Schulkindern, die dem Lehrer nachhöhnen, Lustigkeit, die zu entstehen pflegt, wenn man eine Niederlage des Schamgefühls überwindet. Hedda befahl neuen Sekt herbei. Sie rief dann noch eine Menge Leute im Säulensaal an, die sie hieher ins Palais beschied. Basil saß in seiner Ecke, trank Schnaps und las, ohne sich um jemanden zu kümmern. Einmal trat Hedda rügend zu ihm:
»Ich bitte dich, Basilius, schau nach den Leuten! Es geht doch nicht, daß du die ganze Zeit liest ...«
Ronald Weiß zog immer hinter ihr her. Die Neugeladenen kamen an. Nun füllten sich die Räume mit allerhand Charakterköpfen. Es sah fast so aus, als wollte Hedda das Palais Papas der zukünftigen Rache preisgeben. Mit verkniffenen Gesichtern schauten die mißtrauischen Diener dem Treiben zu. Im chinesischen Salon bearbeitete Wawra das Klavier, ohne abzusetzen oder jemanden erfreuen zu wollen. In diesem tänzerisch stampfenden Spiel entlud sich ein hussitischer Haß.
Ferdinand ging heimatlos zwischen den Menschen hin und her. Er ertappte sich auf einem unsinnigen Heimweh nach seinem Zimmer in Złoczów, nach den langen Spaziergängen mit Engländer. Nun grübelte er über seine Verwandlung. Dadurch gerade, daß er geflohen war, hatte er sich wieder in Gefangenschaft begeben. Wenige Wochen kaum, und er fühlte sich in der neuen Welt mehr noch eingekerkert als vorher. Gab es keine Freiheit? Das Café, diese Stätte der Freiheit, übte nicht minder als der Waffendienst einen Zwang auf ihn aus, der dadurch noch peinlicher wirkte, weil er in ihm und nicht außer ihm lag. Endlos dehnten sich die Stunden. Die Luft der Stadt erwürgte ihn. Kein Mensch hätte es den ganzen Tag lang in seinem Zimmerchen aushalten können, das wie ein steckengebliebener Aufzug in einem modrigen Hause hing. Jetzt schon graute ihm davor, nach Hause zu gehn, obgleich er sich hier unglücklich fühlte. Immer wieder geschah dasselbe. Er ging mit einem unbeschreiblichen Heißhunger nach Menschen, nach inniger Berührung, nach Kameradschaft, nach Erkenntnis in das Schattenreich und kehrte allnächtlich mit dem Gefühl der Abgestorbenheit und des nutzlos verschwendeten Lebens, ja mit der Sucht nach unvorstellbaren Veränderungen, nach beispiellosen Naturkatastrophen in sein Zimmer zurück, das er mit seinem hinschwindenden Gelde überzahlen mußte, damit ihn die Mietsfrau nicht bei der Polizei anmelde.
Dennoch war er schon entschlossen, nach Hause zu gehn, als im oberen Stockwerk plötzlich ein scharfer Lärm entstand. Zum Glück deckte das knatternde Klavierspiel Wawras das Gepolter so gut zu, daß außer Ferdinand und der Dienerschaft nur noch zwei Gäste die Treppe emporliefen.
Basil trommelte mit beiden Fäusten an eine verschlossene Tür, gegen die er sich sogleich mit aller Kraft stemmte. Seine Brille lag auf dem Boden. Die weißen Haare flatterten im Winde seiner eigenen Wut. Der Unterkiefer trat wie bei einem Tobsüchtigen vor. Es war ein widerwärtiger Anblick.
Ein stets erregter Mensch wird im Zorne niemanden schrecken. Wenn aber ein gehaltener Mann in Wut ausbricht, versetzt er uns in Verlegenheit. Basil hatte niemals verraten, daß er etwas Ähnliches wie Freude, Qual, Eifersucht, Verzweiflung empfinden könne. Man sprach von ihm mit achtungsvollem Lächeln, aber wie von einer feinentwickelten, geistig überlegenen Lemure. Um so peinlicher wurde Ferdinand durch seine Raserei erschüttert, die der Kognak nicht hervorgerufen, sondern nur ermöglicht hatte:
»Mach auf, du Giftkröte, mach auf! ... Da drinnen ist sie mit diesem eitlen Affen, mit diesem lächerlichen Tintenkuli ... Mach auf! ...«
Er donnerte mit dem Fuß in die Tür hinein. Schweißtropfen und Tränen rannen ihm über die hohlen Wangen. Niemand zog ihn von der Tür fort. Er keuchte:
»Sie hat mich ausgebeutet, die Vettel ... Zwei Jahre meines Lebens kostet sie mich ... Und jetzt sperrt sie sich mit einem letzten Pojazzer ein, mit einem Tarockskis, mit einem Windbeutel, einem schwindelhaften ... Mach auf, Frauenzimmer!«
Nicht die Tür, vor der Basil wütete, tat sich auf, sondern eine zweite gegenüber, die zudem noch die ganze Zeit einen offenen Spalt gezeigt hatte. Heraus traten in harmlosem Gespräch Hedda und Ronald. Eine dramatischere Rechtfertigung konnte man sich gar nicht vorstellen. Hedda lachte erstaunt beim Anblick Basils:
»Du bist verrückt und betrunken, Basilius!«
Weiß beendigte ein unterbrochenes Gespräch, ohne dem Zwischenfall weitere Beachtung zu schenken:
»Die Photographien, die Sie mir gezeigt haben, Frau Hedda, sind wirklich hohe Klasse. Ich danke schön ...«
Er begab sich pfeifend in die unteren Räumlichkeiten. Sie aber sah Basil mit böser Strenge an:
»Benimm dich gefälligst anständig!«
Hedda zwinkerte Ferdinand noch zu, um ihn dadurch aufzufordern, sich dieses Verrückten oder Betrunkenen anzunehmen.
Basil war erstarrt. Die kurze, für ihn so blamable Szene hatte seine Kraft gebrochen. Er sah ruhig zu, wie Hedda mit den Gästen die Treppe hinunterlief, wobei sie laut erklärte, daß solche Dinge immer vorkämen, wenn Basil ein Glas Schnaps getrunken habe. Dann begann er röchelnd zu atmen, als wolle die Tobsucht von neuem ausfahren. Aber Ferdinand merkte genau, daß dieses Röcheln Künstelei war. Basil hatte sich verpulvert. Übrig blieb nur ein Bodensatz sauren Elends, unerträglicher als der brennendste Schmerz. Der Schmerz, die herrliche Wut wollten zurückgerufen sein! Der Ernüchterte wankte mit dem sichtbar gespannten Willen eines Komödianten, sein Spiel auch zu empfinden, zum Tisch, auf dem ein paar Exemplare des ›Aufruhrs‹ lagen. Er riß eines nach dem andern im Takte mitten durch. Dann zwang er sich noch einmal, aufzuheulen und ergriff einen kristallenen Aschenbecher, um damit eine der vielen Sammelvitrinen Aschermanns zu zerschmettern. Erwünschterweise fiel ihm ein Diener in den Arm.
Ferdinand drängte Basil, der gerne den Schauplatz dieses Krachs verließ, in ein kleines Seitenzimmer. Der Unglückliche jammerte:
»Bleiben Sie bei mir ... Gehen Sie nicht hinunter ... Ich beschwöre Sie, lassen Sie mich nicht allein!«
Er warf sich auf einen Diwan und schloß die Augen. Ferdinand betrachtete den weißen Kopf mit der schönen Stirn. Trotz des widerwärtigen Ausbruchs von vorhin hegte er noch immer für Basil eine große Verehrung. Was steckte doch alles hinter dieser hohen Stirne? Eine alexandrinische Bildung, eine unbeirrbare Treffsicherheit der Sprache, überlegene Weltkenntnis, lauter Eigenschaften eines geistigen Führers. Auch wußte er ja, daß dieser kläglich hingestreckte Mann der Verfasser und Herausgeber unzähliger Bücher und Sammelwerke war. Ferdinand, der selber kein literarisches Talent besaß, war noch immer Gymnasiast genug, um im gedruckten Worte und seinen Urhebern höhere Wesenheiten zu erblicken. Nur eines hatte ihn immer an Basil gestört, das war sein Umgang mit Frauen im Säulensaal und auch in andern Lokalen. In seinen Worten und Gesten, wenn er mit seinen großen Händen die Mädchen umarmte, lag etwas Absichtsvolles und Lügnerisches, eine eitle Berechnung auf den Eindruck, den er mit seiner unwiderstehlichen Erotik weniger auf die betreffenden Damen als auf die Herren seiner Umgebung machen wollte. Wie eine alte Grammophonplatte spielte er immer die gleiche abgenützte Nummer, ohne zu hören, daß sie schon unangenehm kreischte. Und dies hatte er, nach Ferdinands Meinung, doch gar nicht nötig. Es fügte sich nicht ins Lebensbild, einen Prälaten in der Soutane tanzen zu sehn oder einen Basil die Knie eines Mädchens öffentlich abtasten. Gebhart war in diesen Dingen Basils strenger Gegensatz. Seine Größe zeigte sich darin, daß er die Lust, deren Idee er auf den Weltenthron erhob, als persönliche Lüsternheit gar nicht kannte. Er war der große Unmensch. Niemals hätte er ein Schauspiel geboten wie jetzt dieser sonst vornehme Mann, der auf seinem Diwan eine langatmige Anklage regellos durcheinandergeiferte: »In München hab ich sie aufgegabelt ... Sie ist im Stefanie gesessen ... eine kleine hübsche Jüdin ... Ein Garnichts ... Nicht einmal Boheme ... nein, eine kluge Kassiererin, die gut aufpaßt ... Jeden Abend hat ihr ein andrer den Schwarzen gezahlt ... Und ich Rindvieh hab sie aus dem Dreck gezogen, hab sie groß gemacht ...«
Immer bedrückender wurden für Ferdinand diese klatschhaften Geständnisse. Es war empörend, daß ein Mann über eine Frau, die er noch vor wenigen Tagen geliebt und bewundert hatte, so niedrig sprach. Ferdinand nahm gegen das keifende Waschweib, als das sich jetzt der bedeutende Mann entpuppte, ganz und gar für Hedda Partei. Niemals hatte er an ihr etwas Häßliches oder Boshaftes erlebt. Im Gegenteil. Ihre ungewöhnlichen Anlagen setzten ihn oft in Erstaunen. War es nicht Schuld des Mentors, der sie als junges unbeschütztes Geschöpf entdeckt hatte, wenn ihr Schicksal sich nicht klarer gestaltete? Er sollte sich an die Brust schlagen und schweigen! Basil merkte die kritischen Gedanken seines Opfers und haschte nach Ferdinands Hand, die er festhielt:
»Das Abc hat sie von mir gelernt ... Und jetzt redet sie, als wäre alles auf ihrem eigenen Mist gewachsen ... Jedes Wort ist von mir ... Und dieser Weiß, ein solcher Schlurf, ein Jahrmarktgaukler, ein leerer Windhund ... Und ich?«
Er richtete sich auf, als falle ihm erst jetzt der wesentliche Gedanke ein:
»Und ich? ... Erlauben Sie einmal, das geht doch nicht ... Wer bin ich denn, und wer seid ihr alle miteinander? ... Sie wissen vielleicht gar nicht, wer ich bin? ... Kennen Sie eigentlich mein Buch über die Gegenreformation? ... Nichts kennen Sie ... Eh Sie noch auf der Welt waren, habe ich eine volkswirtschaftliche Arbeit geschrieben, die noch heute grundlegend ist ... Sie müssen mich nicht für einen Bummler halten, Herr, weil ich unter Ihresgleichen sitze ... Ich habe in meinem Leben gearbeitet und nur gearbeitet ... Ich sitze zwar im Café, aber ich habe mindestens fünfzig Bände herausgegeben ... Darf ich mich treten lassen? Sagen Sie selbst, darf ich mich so bespucken lassen?«
Ferdinands Scham, einen bedeutenden Menschen offen leiden zu sehen, war längst geschmolzen. Was ging ihn das alles an? Er wurde kalt. Er begann sich zu langweilen. Basil aber ließ seine Hand noch immer nicht los:
»Darf ich mir das von einem Aschermann gefallen lassen? ... Haben Sie sein Benehmen bemerkt? ... Wer ist Aschermann und wer bin ich? ... Er ist ein Schieber, den man leider nicht eingesperrt hat ... Und wer bin ich?«
Plötzlich drehte er den Spieß der Anklage um und warf sich wieder, aufheulend, hin:
»Ein Schwein bin ich!! ...O Gott, ich bin ein ekelhaftes Schwein! ... Nur ich selber hab mir mein Leben versaut ... Fünfundfünfzig Jahre ... Du Schwein, du rettungsloses Schwein!! ...«
Er drosch mit den Fäusten aufs Sofakissen. Dadurch wurde dieser Ausdruck der Selbsterkenntnis nur noch übertriebener und unwahrer. Ferdinand sah Basil, ohne es bewußt zu tun, gelassen höflich an. Das brachte ihn zu sich. Um ins Gleichgewicht zu kommen, rannte er noch einige Minuten lang im Zimmer umher. Dabei fauchte er leise: »Ich danke Ihnen«, und wischte sich die Stirne. Ferdinand nahm an, er werde jetzt das Haus verlassen. Aber schon eine Viertelstunde später sprach er den Wunsch aus, wieder zu der Gesellschaft zurückzukehren.
Auf dem Boden lagen die Fetzen des ›Aufruhrs in Gott‹ umhergestreut. Wieder einmal hatte sich die allmächtige Gesetzmäßigkeit des Schicksals bewährt, wie es in Basils Sternen stand. Auch diese Zeitschrift war schon dem Tode verfallen, ehe sie noch lebte. Sie rückte in das Museum der Fehlgeburten und frühverstorbenen Kinder ein, denen ihr Vater so lebhafte und großartige Namen geschenkt hatte. Er täuschte sich nicht über die Zukunft. Aschermann und Hedda hatten ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß er erledigt war. Vielleicht würde noch die nächste Nummer erscheinen, und dann trat Herr Weiß oder ein anderer an seine Stelle. Nun stand er wiederum am Anfang und mußte sich zum hundertsten Mal auf den Weg machen, einen Idealisten zu finden, der die Gründung verwirklichen würde, die vielleicht jetzt schon heimlich in seinem Geiste keimte. Ach nein, in seinem Geiste keimte jetzt nichts andres als Ekel, Verfall und der Wunsch, im Bette zu liegen. Aber diesen Wunsch auszuführen, war er zu müde, zu schwach. Er fürchtete den langen Heimweg, er fürchtete die finstere Haustreppe, er fürchtete sein armseliges Mietzimmer, in dem es nach schlechtem Küchendunst roch. Leichter fiel es ihm noch, sich zu erniedrigen und mit gleichgültiger Miene in Aschermanns feindseligen Salon hinabzusteigen. Alles Leben in diesen Tagen – Ferdinand wußte das sehr genau – war Einsamkeitsangst und Selbstflucht.
Auch die anderen lagen oder saßen todmüde und ausgepumpt im chinesischen Salon umher. Es fehlte ihnen die Kraft, auseinanderzugehn. Wollte jemand sich empfehlen, winkte ihn Hedda zurück, in deren Schoß Weiß und Stechler ihre Köpfe gebettet hatten. Wawra schlief auf dem Klaviersessel. Eines der Bürgermädchen genoß auf dem Diwan, Schlummer vortäuschend, die dichte Nähe zweier Männerkörper. Die Likörflaschen standen geleert. Die matten Gespräche kamen nicht weit. Nur Krasny war von der allgemeinen Lähmung nicht berührt und trug mit langen Schritten sein häßliches Gerippe hin und her durch den Raum. Die unter der Brust abgeknickten Hände fächerten auf und nieder wie bei einem Porzellanchinesen. Der verwahrloste Mund kaute an einem Selbstgespräch.
Basil riß die hohe Glastür auf, die in den Garten führte. Mit dieser scharfen Gebärde wollte er nicht nur frische Luft einlassen, sondern Hedda samt dem übrigen Gesindel sinnbildlich zu verstehen geben, daß er sie mißduftend finde und verachte.
Draußen wurde es schon Tag. Auf überirdischem Goldgrund atmend, starrte das noch unverfärbte Laubgewirre des Frühherbstes streng und engelsrein in den verkaterten Salon, der sich des künstlichen Lichtes zu schämen begann. Da sagte Basil, der steif in einer Ecke ragte:
»Krasny! Sprechen Sie ein paar Gedichte!«
Der Aufgerufene zögerte keinen Augenblick und trat mit einem Schritt in das Türbild, dessen goldener Grund immer stärker blendete. Die Augen sahen kein Gesicht, ja, nicht einmal eine Gestalt, sondern nur eine schmale hohe Schattenfläche, die regungslos stand, während dahinter die stumme Tausendstimmigkeit der Laubwand ein unbegreifliches Musikstück zarter Bewegungen aufführte. Dieser dünne Schatten auf der Zwischenschwelle zweier scharfgeschiedener Welten bekam aber eine Stimme, die stärker war als er selbst, eine gaumige, schwerflüssige Stimme, die gegen die Fesseln heimtückischer Sprachfehler ankämpfen mußte und sich Laut um Laut einzeln abrang. Durch diesen Kampf jedoch gewannen die ausgestoßenen Silben eine vielfache Bedeutung, die mehr umfaßte als ihren Klang und ihren Sinn. Das Gefäß jedes Wortes war überfüllt von dem, was es verschwieg.
Langsam arbeitete sich das Wort aus dem goldig grünen Ausschnitt ins Kellerlicht des Zimmers:
»Der Indivi-vi-dualist«, sagte Krasny.
Und ohne Schönklang, ohne Melodie, Satz für Satz emporgepumpt aus dem inneren Schweigen, folgte das Gedicht:
»Ein Weib zu suchen! Wozu?
Das Geschäft
Besorgen noch immer hundert und aberhundert.
Sterben! Warum? Die Arbeit
Wird heute von tausend gesunden Männern getan.
Was kann ich Besonderes tun?
Ohne Sorge sein.«
In den letzten drei Worten hatte die Stimme ihre Ketten zerbrochen. »Ohne Sorge sein«, das tänzelte beinahe von der grellen Bühne in den Raum. Ferdinands Kehle verengte sich, so sehr begriff er den Vogelruf dieses Verses. Immer wieder war er ja selbst durchgebrannt, um leicht zu werden, um ohne Sorge zu sein. Nun aber herrschte die Stimme die Versammlung an:
Die müden Gesichter waren mit halbgeschlossenen Augen dem Zwielicht zugekehrt. Es sah aus, als ob sie einer gerechten Strafe entgegenwarteten. Mochte auch ein und der andre den Versen nicht zugänglich sein, die rauh zufahrende Stimme hatte Macht über ihn:
»Starker, goldner Wein! Du bist
Wie das Glück im Spiel.
Ewig gleich aus deinem Innern, ob
Wir wild werden, toll werden, bös werden,
Strahlt die Verlockung.
Du und ein fragendes Kind! Ihr weckt
Das arge Wissen in uns, doch ihr
Gebt auch Vergessen.
Du bist die Lust zu gestehn, bist
Die Lust zu verhehlen, dein
Ist Klarheit und Heimlichkeit.
Ewig gleich aus deinem Innern, ob
Wir traurig sind, ob wir froh sind,
Strahlt die Verlockung.
Und du bist wie die großen Geister.
Du machst uns stolz, bis wir
Hintaumeln, machst uns stark, bis du
Uns umwirfst.
Freund, Verführer und Herr!«
»Und Herr!« Das sauste wie ein Hieb. Der Sprecher stand noch immer im Rahmen. Seine Züge wurden jetzt sichtbar. Noch fiel kein Wort. Niemand aber verstand, warum er sich gerade durch dieses sausende »Und Herr« in Krasnys Weinlied unsicher und getroffen fühlte.