Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel.
Der Ruf nach Blut

Ferdinand, der wie gewöhnlich erst gegen Morgen ins Bett gekommen war, schlief. Donnerndes Klopfen an seiner Zimmertür. Er taumelte aus letzten lastenden Träumen auf. Eben war er noch auf einem der grundlosen Karrenwege in Ostgalizien marschiert. Wenn man die Füße mühsam aus dem Dreck zog, so gluckste es. Wer war das nackte Weib vor ihm in der Einsamkeit, das sich mit wiegenden Hüften vorwärts arbeitete? Marinka? Nein! Es war Angelika. Er rief ihr zu, sie möge stehenbleiben und ihn erwarten. Warum nicht? Angelika schien seine Stimme ebensowenig zu hören wie er selbst. Gleichmäßig stapfte sie weiter. Ihre Hüften waren breit gewölbt, ihre Schultern und der Nacken aber schmal wie bei einem Schulmädchen. Leider trug sie, was durchaus nicht zu ihr paßte, ein Kind im Arm. Ferdinand sah mit Schaudergefühlen dieses gelbbraune Ding, diesen bucklig rachitischen Gnom im Arm des schönen Weibes. Um den wackelnden Kopf der Kreatur surrten dicke müde Fliegenschwärme. Es war doch nicht Angelikas Kind, sondern das Geschöpf Gebharts und Lisas, das Kind Namenlos. Am Weg, wo der Bach lief, lag eine Sagemühle. Dort war zurzeit das Bataillonskommando untergebracht. Prechtl stand wartend davor. Es war ja selbstverständlich, daß Ferdinand nicht weiterging, obgleich ihm dadurch Angelika entwischte. Sie bog bei der Mühle ein ...

Neuerlicher Donner. Gefreiter Wimpel stand im Zimmer:

»Genosse, ziehen Sie sich schnell an! Der Genosse Weiß schickt mich zu Ihnen. Wir werden das Militärkommando besetzen. Man muß endlich dieses reaktionäre Wespennest ausnehmen.«

Als sie zwanzig Minuten später in die Liebiggasse traten, schien eher eine festliche Parade im Anzuge zu sein als ein revolutionäres Ereignis. Eine dichte Menge von Gaffern wogte auf und ab, lachend, witzelnd, ja fast strahlend, als müsse jeden Augenblick der erhoffte Beckendonner einer Militärmusik losbrechen.

In breit entwickelter Front starrten zwei Kompagnien der Roten Wehr auf das Gebäude des militärischen Stadtkommandos von Wien. Es war ein verhaßtes Haus, das vier Jahre hindurch eine wahre Schreckensherrschaft gegen alle Fahnenflüchtigen, Drückeberger, Urlaubsverlängerer, Spitalsratten, Simulanten und anderweitige Kriegsverhinderer ins Werk gesetzt hatte. Hinter diesen (heute so harmlos-feige blickenden) Fenstern waren die für solche Zwecke eigens »verwendbaren« Offiziere zu Hause, von denen all jene »Streifungen«, »Razzias«, »Nachmusterungen«, »fallweise Kommissionen« allezeit ausgeheckt wurden, die der ständigen Menschenjagd oblagen und in Kaschemmen, Kellern, Bodenräumen, ja selbst auf Abtritten das schlaue Wild aufzustöbern wußten, das dem Heldentod ein Schnippchen zu schlagen gedachte.

Angesichts der verlockenden Heimzahlung glühte die Rote Wehr vor Tatenlust. Scharf ausgerichtet, als befinde man sich auf einem Kasernhof des Jahres 1914, verharrten die Reihen.

Weiß, höchstselbst Leiter dieser Expedition, hatte ein Gefolge um sich versammelt wie ein Feldherr bei Friedensmanövern. Seine Ordonnanzen waren in requirierten Automobilen den ganzen Morgen durch die Stadt gefahren, um keinen Bekannten zu übergehen, auf dessen Zeugenschaft er Wert legte. Auch Hedda war gekommen, und Weiß schilderte ihr – doch so, daß die andern davon Kenntnis nehmen konnten – seinen Schlachtplan. Kaum aber wurde er Wimpels und Ferdinands ansichtig, rief er:

»Wimpel! Habtacht und Signal!«

Der Gefreite stürzte zu den Kompagnieoffizieren. Gleich darauf erscholl ein scharfes Kommando, und der Hornruf »Sturm« schmetterte durch die Lüfte.

Die kriegerische Unternehmung vollzog sich stramm und befriedigte den Stolz des Befehlshabers. Ein Maschinengewehr wurde auf die Fenster der Kommandantur gerichtet, ein anderes auf dem Hof des Hauses in Stellung gebracht. Posten besetzten mit gefälltem Bajonett im Laufschritt das Haupttor sowie alle Eingänge, Treppen, Telephonzellen, Archiv- und Kassenräume.

Wimpel, der Adjutant, trat mit alt-vorschriftsmäßigem Ruck vor den Oberkommandierenden hin:

»Genosse Weiß, ich melde ge... ich melde, daß der Befehl des revolutionären Militärkomitees durchgeführt ist.«

Weiß fiel nicht aus dem Stil, griff an die Kappe und erhob eine helle Stimme:

»Danke!«

Dann setzte er sich mit seiner Suite in Bewegung, die zum größten Teil aus den Insassen des Säulensaals bestand und durch eine erkleckliche Anzahl von Passanten und Müßiggängern vermehrt wurde. Im ersten Stockwerk auf einem langen Gang warteten die Offiziere des Hauses in einem verdatterten Haufen. Allen voran ein General mit seinem Stabschef. Der alte Herr stand höflich, mit knickigen Beinen da. Die roten Lampassen auf den Hosen warfen eingeschüchterte Falten. So freundlich also sahen die zürnenden Gottheiten in der Nähe aus, vor denen sich eine Welt mit Heulen und Zähneklappern erniedrigt hatte, so liebenswürdig schüchtern sahen sie in der Stunde aus, da von ihnen die Macht wich. Waren nicht unter dieser Gruppe Helden der Angriffsbefehle, Lieferanten der Massengräber, Schwelger in Menschenmaterial, denen kein Todesurteil jemals die Verdauung gestört hatte? Nein, unmöglich! Hier standen ein paar kleine, entzauberte Spießbürger, schwere Zukunftsangst und -sorge in den Blicken. Sie glichen auffällig jenen Häuflein Verzweifelter, die allüberall todesfürchtig vor den Militärarzt traten, um schreckensblaß das Urteil »tauglich« entgegenzunehmen. Nur die Macht hatte sich umgedreht, nicht der Mensch. Die fahlen Angstgesichter dieser Weltherren von gestern waren ein großes Sinnbild für die Gleichheit der Menschenseelen in der gleichen Situation. Arme Spießer, dachte Ferdinand, ohne sich einer ironischen Empfindung erwehren zu können.

Weiß schlenderte auf die Gruppe zu:

»Herr General! Das ehemalige Militärkommando von Wien ist in Händen der Roten Wehrmacht. Ich lege den Herren nichts in den Weg, sich nach Übergabe des Dienstes zu entfernen.«

Der General, der totenbleich geworden war, schluckte mehrmals. Vor ihm stand Weiß, ein Reserveoffizier, irgendein verächtliches Subjekt, irgendein unsichtbares Nichts, durch das er noch vor wenigen Wochen mit kalten Augen hindurchgeblickt hätte wie durch Luft, er, der Gott. Dieses Nichts zündete sich jetzt in seiner Gegenwart die Zigarette an, ein waghalsiger Frevel, für den er noch vor einem halben Jahr unverzüglich an die Front befördert worden wäre. Was aber tat der entgötterte Gott nun?

Er versuchte, wie angesichts eines Vorgesetzten, Stellung zu nehmen, was er allerdings nicht ganz ausführte. Dann stammelte er erschüttert, doch mit zuvorkommendem Tonfall:

»Bitte sehr! Ich stelle mich auf den Boden der Tatsachen ...«

Es hätte ihn nicht mehr gekostet, wenn er gesagt hätte: Ich muß der Gewalt weichen. Aber er ließ das bleiben. Vielleicht fiel ihm der würdevollere Satz nicht ein, vielleicht auch hatte er den Mut nicht, ein gegenrevolutionäres Geständnis abzulegen. Die klirrenden Herren waren auf einmal zu armen Mitmenschen geworden, denen das Schicksal ihrer Familien die Seele beschwerte. Rasch und schweigsam suchten sie die Treppe. In keinem Blick zeigte sich der geringste Widerstand, ja auch nur ein Funke der Wut. Auf manchen Mienen lag bestenfalls eine tückische Verlegenheit und saure Neugier. Einzig ein alter Stabsoffizier machte das bekümmerte Gesicht eines Menschen, der in seiner Arbeit, die er für wichtig hält, gestört worden ist. Er ging in sein Zimmer und nahm, ohne daß ihn jemand daran hinderte, einen großen Stoß Akten unter den Arm. Dann schritt er ruhig durch die Zuschauergruppe und schaute nicht nach links noch nach rechts.

Beim Anblick dieses alten Mannes empfand Ferdinand ein mit Mitleid gemischtes Unbehagen. Es war wohl eine avitische Regung. Vielleicht dachte etwas in ihm an seinen Vater, der heute, lebte er noch, in eine gleich schmähliche Lage hätte kommen können.

Nachdem alles vorbei war, ging Ferdinand mit Weiß unten im Hof auf und ab. Ronald wollte die Wirkung seines Handstreichs erforschen:

»Es hat alles glänzend geklappt? Wie? Was!?«

»Arme Spießer«, sagte Ferdinand, »es ist gut, daß sie endlich begraben werden ...«

Seine Gedanken waren noch immer bei den Offizieren. Weiß gestand:

»Dabei ist diese ganze Besetzungsmaßnahme hier nur ein Truc, ein Ablenkungsmanöver. Sand in die Augen. Weißt du, was Elkan beantragt hat? Der Mensch wird immer schrecklicher. Er wollte, daß wir nach Schönbrunn marschieren und den Kaiser gefangennehmen. Möglicherweise hat er politisch recht. Es wäre eine große Sache. Dadurch würden wir in jeder Weise die Lage beherrschen. Aber ich ... ich hab's einfach nicht können. Was? Nein! Keine Spur von Angst. Es war kein Schuß gefallen. Schönbrunn wird von ein paar halbwüchsigen Rotzbuben aus der Militärakademie bewacht. Aber ich hab's einfach nicht können. Sentimental, wie? Meinetwegen! Der junge Mann tut mir leid. Er hat ein gutes Herz und war immer ein Kriegsgegner und Operettenfreund ... Ronald Weiß nimmt den letzten Habsburger gefangen. Ein geschmackloser Titelkopf. Man ist leider schwer belastet. Mitten in der Revolution stoßt einem Lampls Lesebuch für die Unterklassen auf ... Kaiser Max auf der Martinswand und so weiter ...«

   

Als Ferdinand mittags in sein Zimmer heimkehrte, empfing ihn eine unerwartete Erscheinung. Gebhart saß auf seinem Bett. Er war, was nur unter gewissen Umständen geschah, säuberlich angezogen, frisch rasiert, und hatte sein graublondes Wirrhaar seitlich gescheitelt. In dem überalterten Gehrock, der den strengen Philisterschnitt enger Provinzstädte aufwies, machte er die Figur eines dürftigen Kandidaten, der auf einer vorschriftssteifen Besuchsrunde bei den Familien seiner Professoren begriffen ist.

Ferdinand kannte schon den Grund, weswegen Gebhart von Zeit zu Zeit solche bürgerliche Säuberungen und Kleiderwechsel vornahm. Der Grund war seine Mutter, die alle vierzehn Tage etwa aus der kleinen Universitätsstadt, wo der alte hochberühmte Gebhart jahrzehntelang gewirkt hatte, nach Wien kam. Wenn die Hofrätin am Arm ihres Sohnes den Säulensaal betrat, so gehörte dies zu den unglaubwürdigen Erfindungen des Lebens, die selbst dieser unbedenkliche Autor nur in durchgerüttelten Zeiten zu bieten wagt. Mit verständnislosen Augen hörte die alte Frau den Gesprächen zu, vor deren Gift sie sich verschloß. Mein Gott, dachte sie vielleicht, als Professorenfrau habe ich ja auch wissenschaftliche Unterredungen anhören müssen, in die ein einfacher Mensch nicht eindringen kann. Um ihren prüden Mund zuckte freilich manchmal die Mühe des Nicht-verstehen-Wollens, besonders wenn ihr Blick über die trist gewandete und zerzauste Krähenschar hinglitt, oder wenn Gottfried Krasny dem Tische nahte.

Gebhard selbst bewerkstelligte in der Gegenwart seiner Mutter den Kokaingenuß nur heimlich und übte ihr gegenüber mit komischem Vorbedacht eine Galanterie aus, die ebenso sinnlos wie rührend war.

Wie jeder echte Dogmatiker hatte er sein Leben auf dem rücksichtslosen Gehorsam aufgebaut, den er seiner Gesinnung schuldig war. Vater, so hieß der Erzfeind, das hassenswerte Glied in der Kette, das von Geschlecht zu Geschlecht die qualmige Fackel der erbsündigenden Vergewaltigung weiterreichte. Sein Vater zumal, ein verschärfter Fall, der die unerbittliche Autorität des patriarchalischen Rechtes nicht nur im Leben vertrat, sondern auch in seinem Lehramt staatlich dazu bestellt war, sie als Wissenschaft zu unterbauen und zu panzern. Gebhart, der Sohn, hatte allerdings die qualmende Fackel gelöscht, aber die Macht des Rechtslehrers über ihn war bis zu dessen Tode so unbesiegbar stark gewesen, daß er feige vor jeder Unterredung auskniff, die der Alte forderte. Die Mutter hingegen, sie war wie alle Mütter, wie alle Frauen ein Opfer der widernatürlichen Vater-Diktatur. Eben darum, weil sie ein Opfer war, durfte Gebhart die »Beziehung« zu ihr nicht lösen, wenn es sich auch immer wieder herausstellte, daß sie miteinander kaum etwas zu sprechen hatten. Nach solchen leeren und verlegenen Zusammenkünften bat er sie doch stets um baldiges Wiederkommen, schrieb Briefe und erwies ihr alle möglichen Aufmerksamkeiten. Eine dieser Aufmerksamkeiten war die Säuberung, der er sich vor einem angekündigten Besuch jedesmal unterwarf; er ging ins Zentralbad, ein Übriges, das er für die anderen Opfer der männlichen Vergewaltigung nicht leistete. Darin lag aber auch jenseits aller verstiegenen Gesinnung der Ehrgeiz eines in der Fremde lebenden Jungen, gepflegt und wohlbehalten unter die prüfenden Augen von Mama zu treten.

Gar oft kamen die reizenden Züge seines Urwesens an Gebhart, dem Anarchisten, zum Vorschein. So tritt unter einem abgebröckelten Farbplättchen das edle Werk eines alten Meisters plötzlich zutage, das sich lange hinter grellen Übermalungen verborgen hielt.

»Ist deine Mutter wieder in Wien?« erkundigte sich Ferdinand.

Gebhart ging auf die Frage gar nicht ein, sondern starrte auf den schwindsüchtigen Novembertag, der im Fensterbild welkte. Er hatte den sentimental verendenden Blick in den Augen wie alle Drogen-Genießer, die mehrere Stunden lang ihr Mittel entbehren müssen. Endlich bekannte er:

»Ich komme zu dir, weil ich ein Asyl vor der Polizei brauche. Sie werden mich bei dir nicht suchen.«

Ferdinand zuckte die Achseln:

»Polizei? Die gibt es ja gar nicht mehr. Ich glaub, sie verhaftet heut eher einen reaktionären Minister als einen Revolutionär ...«

Gebhart wandte den toten Blick noch immer vom Fenster nicht fort:

»Nein! Das ist etwas anderes. Hat mit Revolution nicht das geringste zu tun. Ich ... nämlich ... das heißt Angelika hat sich vergiftet. Heute früh ...«

Während Gebhart in ruhigen Worten von der Tragödie berichtete – (Ferdinand glaubte manchmal in ein fiebrisches Lügennetz verwickelt zu werden) –, änderte er seine gleichmütig erloschene Miene nicht und gab auch kein Zeichen seiner inneren Teilnahme zu erkennen. Gestern habe er, so lautete sein Bericht, die ganze Nacht mit Angelika allein zugebracht, und zwar zu dem besonderen Zwecke, um mittels Analyse festzustellen, ob dieses arme Wesen gerettet werden könne. Leider sei das Resultat der gemeinsamen Arbeit höchst traurig ausgefallen. Gegen Morgen hätten er und seine Patientin erkennen müssen, daß es kein Mittel auf der Welt gebe, ihr zu helfen, denn sie sei in ihrem Triebleben völlig gebrochen, völlig beziehungslos, mehr noch, zu keiner Beziehung fähig, von jeglichem wahren Lebensglück ausgeschlossen und zu einer ewig-kalten Einsamkeit samt ihren hysterischen Folgen verurteilt.

Verschärfend komme noch ein körperliches Leiden hinzu, das, wie ein Kollege festgestellt habe, ebenfalls unheilbar sei. Die Ursachen jener Triebvernichtung, jener schmerzhaften Liebesunfähigkeit lägen auf der Hand. Ihr eigener Vater, ein Waldarbeiter, habe Angelika mit zwölf Jahren vergewaltigt, und ihre erste Schwangerschaft sei in ihr vierzehntes Jahr gefallen.

Nach Erkenntnis des unabänderlichen Schicksals habe Angelika – es mochte schon sieben Uhr gewesen sein – ein Rezept für schnellwirkendes Gift von ihm verlangt. Er sei daraufhin gewissenhaft mit sich selber zu Rate gegangen. An dieser Stelle seines Berichtes begann Gebhart sich auffallend zu beleben:

»Du weißt, daß nicht nur ich, sondern auch bürgerliche Ärzte auf dem ungesetzlichen, aber berechtigten Standpunkt stehen, daß man das Leiden von Unheilbar-Kranken abkürzen soll. In hundert Fällen handelt man auch demgemäß, in den letzten Stadien des Karzinoms zum Beispiel. Aber warum nur dann? Ich gehe weiter und sage, man darf keinem Menschen auf der Welt das Recht auf seinen Freitod rauben oder beschränken. Und im Fall der armen Angelika, wo der Freitod der einzige und wohlbegründete Ausweg ist? Ich hab also eine sehr große Menge von Veronal verschrieben. Meine Unterschrift steht leserlich auf drei Rezepten ... Um zwölf Uhr wurde sie auf die Klinik gebracht. Jetzt dürfte mich die Polizei suchen. Deshalb bin ich zu dir gekommen ...«

Ferdinand, der mit dem Rücken gegen das Fenster stand, trat weg, um dem kalten Luftzug auszuweichen, der durch die Fugen drang:

»Lebt sie noch?« forschte er.

Mit der schuldunbewußtesten Naivität entgegnete Gebhart:

»Ich weiß es nicht genau. Es ist aber höchstwahrscheinlich, daß sie lebt. Sie werden ihr den Magen ausgepumpt haben ...«

Ferdinand vertiefte sich eine Weile lang leidenschaftlich in dieses edle Gesicht, das keinen Wahnsinn, keine Ungereimtheit, keine Reue, keine Angst spiegelte, sondern nur die unbewegte Überzeugung von der rechtmäßigen Menschlichkeit solcher Tat. Dem Einfluß dieser glaubensstarken Züge erliegend, wandelte auch ihn einen Augenblick lang der Gedanke an, es sei hier nichts Unerhörtes geschehen, sondern eine Selbstverständlichkeit. Der sonderbare Morgentraum – Angelika mit dem verkrüppelten Kind – war gänzlich zerronnen. Er tauchte jetzt nicht auf.

Ferdinand rief die Wirtin und bat sie, für die Nacht auch den Diwan aufzubetten. Der Herr werde hier schlafen. Dann aber schaute er, so schnell wie möglich aus dem Zimmer fortzukommen. Doch schon auf der Treppe bestürzte ihn Engländers, des Wahnsinnigen, Erkenntnis, einer der letzten Sätze, die sein bester, sein einziger Freund zu ihm gesprochen hatte, ehe er in die Nacht fortgestürmt war:

»Nicht meine Achse, sondern eure Achse ist verschoben, die Achse der ganzen Welt!«

Vielleicht war in der Erinnerung an Engländer und an diese Worte der Schlüssel für Ferdinands Verhalten während der bewegten Sitzung des Revolutionären Militärkomitees zu suchen, das seit gestern schon ohne wesentliche Unterbrechung in der Roten Kaserne tagte.

Bei seinem Eintritt in die ehemalige Regimentskanzlei durchschnitt gerade Elkans Stimme die frühdämmrig dickgerauchte Luft:

»Was ich Ihnen vorausgesagt habe, geht pünktlich in Erfüllung. Wir lassen uns jede Karte glatt aus der Hand schlagen. Hier habe ich eine Meldung: Gestern ist die fünfundzwanzigste Infanteriedivision geschlossen in Wien eingetroffen. Der revolutionäre Bahnhofsdienst hat ruhig zugesehn, wie die Truppen unter Führung ihres Feldmarschalleutnants ohne Muck in die Kasernen eingerückt sind. So begünstigt man das Entstehen weißer Garden. Ferner: Das Ersatzbataillon des Regiments Nr. 49 steht vollkommen zuverlässig hinter den Sozialdemokraten, die fieberhaft an der Aufstellung einer eigenen Wehrmacht arbeiten. Wenn wir die Gelegenheit des zwölften Novembers nicht ergreifen, gebe ich die Sache in Wien verloren. Eine Schmach, wenn man an Bayern und Ungarn denkt!«

Zustimmende Rufe erhoben sich. Elkan saß, wie er es liebte, mit übergeschlagenen Beinen mitten in der Kanzlei. Er nahm gleichsam ein theatralisches Führerzentrum ein, von dem aus er ätzende Kritik übte und Befehle erließ. Seine selbstgefällig harte Sprechweise liebte eitel die Verwendung von mathematisch-strategischen Gleichnissen. Es muß, wenn die Erfahrung nicht trügt, ein heimliches Gesetz geben, demzufolge jeder kleine Mann, welchem eine Machtrolle zufällt, von einer Wahnvorstellung ergriffen wird, die man am besten mit dem Namen »Napoleon« treffen kann. Napoleon, das ist das Nichts, aus dem eine Allmacht wird. Die ebenso unerschöpfliche wie abgedroschene Bonaparteverehrung hat ihre Ursache nicht in der Größe des Helden, sondern in seinem Aufstieg. Darum vereinigt sie die widersprechendsten Menschensorten, sofern sie nur den Erfolg anbeten. Es gibt eine imitatio Napoleonis auf allen machtverheißenden Lebensgebieten, und manch ein Industrieritter, Börseaner, Theaterdirektor oder Orchesterdirigent folgt getreulich diesem Gotte nach, für dessen Wiedergeburt er gehalten werden möchte.

Auch Elkan spielte sich jetzt nicht wenig auf:

»Halten wir eines fest«, belehrte er die Anwesenden, »der Aufstand, der Straßenkampf unterliegt ganz anderen Prinzipien als der reguläre Krieg. Im Kriege geht das Streben der Führung dahin, das X, die Unbekannte, so gut wie möglich zu errechnen und auszuschalten. Die Taktik des Aufstandes aber verlangt geradezu, daß man diese Unbekannte, dieses X, herausfordere. Die Rechnung der Revolution hängt von dem einzigartigen, unberechenbaren, überraschenden Moment ab, der immer eintritt. Das ist keine Mystik, Genossen, wie Sie mir jetzt vorwerfen werden, sondern eine feinere mathematische Überlegung. Als wir in Petrograd die Duma auseinanderjagten, geschah das so. Es kamen viele, viele Leute, Arbeiter und Soldaten. Die Galerie war gesteckt voll wie noch nie. Die Abgeordneten sahen sich ganz stolz an und sagten: Na, die Sitzung ist heut aber voll! Das ist ein Interesse! Dann, als sie im besten Geschwätz waren, rief einer oben: Schluß! Das hat genügt. Wer wird aber in Wien Schluß rufen? ...«

Der Herr im zerknitterten Cutaway versuchte dem Russen das Wesen der Wiener Volksseele zu erklären, die jedem Pathos abgeneigt sei. Nun aber verurteilte auch Weiß das gleichgültige Verhalten der Stadt, was Ferdinand nach den Eröffnungen, die ihm Ronald bei seinem vormittäglichen Handstreich gemacht hatte, verwunderlich fand. Der Oberbefehlshaber der Roten Wehr sah übrigens sehr verstört und blaß aus. Gegen sein inneres Gefühl geriet er plötzlich in die schärfere Tonart. Der Grund war nichts anderes als Angst und Zorn, hinter einem Hergelaufenen wie Elkan an Feuer- und Stürmermut zurückstehen zu sollen.

Elkans Hochmut war freilich nicht zu kappen. Sein ganzes Wesen schien mit der verbissensten Willensenergie geladen zu sein, durch jedes Wort einen neuen Überlegenheitsrang zu erklimmen. Er hatte überdies eine verletzende Art, die Argumente der anderen gar nicht anzuhören, sondern während sie sprachen, sich Notizen zu machen oder Aufträge zu erteilen, die nicht zur Sache gehörten. Ferdinand spürte angesichts dieses Menschen eine langsame Wut in sich aufsteigen, die giftig schmeckte. Elkan unterbrach die Debatte und kehrte, ohne Zustimmung oder Einwürfe zu beachten, zu seinem belehrenden Vortrag zurück:

»Nur wenn sich die Masse im Zustand einer ungeheuren Erregung befindet, kann die Revolution konzipiert werden. Diese Erregung kaltblütig hervorzurufen, das ist unsere Aufgabe. In dieser Hinsicht muß ein Beschluß gefaßt werden. Es ist bisher viel zu unblutig zugegangen.«

»Sehr richtig«, bestätigte eine nicht unmelodiöse Stimme, der sich Ferdinand blitzschnell zuwandte.

Die Dämmerung war weit vorgeschritten, und niemand schaltete das Licht ein. Vielleicht wäre die Mühe überflüssig gewesen, weil zu dieser Stunde wohl die Elektrizitätswerke streikten. Das dicke Zwielicht des Novembers hatte alle Gesichter mit einem grauschwarzen Dunst eingeschäumt, so daß man sie nur schwer auseinanderhalten konnte. Das Bild dieser Sitzung unterschied sich bedeutsam von jenen, die Ferdinand bisher kennengelernt hatte. Es waren viele neue Menschen anwesend, ernste und sorgengefurchte Gesichter darunter, keine Wortplänkler mehr, sondern Leute, denen die Dinge, wie es schien, sehr zu Herzen gingen. Eines dieser Gesichter leuchtete heraus, weil sein schneeweißer Haarkranz und sein apostolischer Schimmer den schmutzigen Vorhang der Stunde durchdrang. Es war dasselbe Gesicht, das jenes »Sehr richtig« gesagt hatte. Da der alte Mann sah, daß er mit seinem Zwischenruf die allgemeine Aufmerksamkeit hervorgerufen hatte, erhob er sich zögernd von seinem Sitz und machte eine ängstliche Schüler-Verbeugung.

»Meine Herren«, begann er, verbesserte sich aber sogleich: »Genossen! Kameraden! Erlauben Sie, daß ich ein Wort mitspreche ... doch ... zuerst ...«

Er wurde sichtlich verlegen:

»Sie werden mich nicht kennen ... aber ich bin weitaus der Älteste unter Ihnen und wohl auch der älteste Revolutionär am Platz ... Ich feiere heut meinen siebzigsten Geburtstag, ob Sie mir's glauben oder nicht ... Kameraden, Genossen, jawohl, ich bin in dem großen Jahre 1848 geboren. Seitdem habe ich gestrebt und gestrebt, bis zu diesem Tage der Erfüllung ...«

Er schneuzte sich laut und ergriffen:

»Wissen Sie, wie das ist, meine He... Kameraden? Ich blicke auf große Erinnerungen zurück. Schon während der Kommune im Jahre 71 war ich in Paris. Wie habe ich mich immer danach gesehnt, daß auch mein Vaterland« (er sagte: Vaterland) »der Befreiung teilhaftig werde, die Europas Lichtstadt damals genoß. Seit jener Zeit, das kann ich mit Stolz sagen, habe ich keine aufständische Bewegung, keine Straßendemonstration, keinen Kampf gegen die Polizei versäumt, der in Wien und Umgebung stattfand. Ich bin in meinem Leben siebenundzwanzigmal wegen Widersetzlichkeit verhaftet und dreiundzwanzigmal festgestellt worden. Viermal habe ich schwere Hiebe mit dem flachen Säbel davongetragen, wenn die Polizei vom Leder zog, und einmal bin ich sogar unter die Hufe der Kavallerie geraten, als sie die Straßen säuberte ... Sie sind alle jung und können sich an die Ereignisse während der Regierung Badenis gewiß nicht mehr erinnern. Aber die Wahlrechtsdemonstrationen des Jahres 1905 werden vielleicht auch noch Ihnen gegenwärtig sein. Immer war der alte Nowak voran im ersten Glied ... Ich bin nämlich der Nowak.«

Er verbeugte sich, bescheiden lächelnd wie ein Mann, der einen nicht gänzlich glanzlosen Namen sein nennt. Bis auf Elkan, der lebhaft auf einen deutschen Matrosen einsprach, folgten alle gebannt den Worten Nowaks, obgleich sie jetzt in ein abseitiges und eitel privates Gebiet abbogen:

»Von meiner kleinen Sammlung geschichtlicher Stiche, revolutionäre Ereignisse darstellend, werden einige der Herren vielleicht schon gehört haben. Sie ist in ihrer Art wirklich einzig dastehend. Ich bitte höflichst um Ihren werten Besuch, wenn ich auch als armer Junggeselle mit nichts sonst aufwarten kann. Vor vierzig Jahren schon – das müssen Sie wissen – hat mir mein Vater eine gutgehende Spiegelglaserzeugung vererbt. Ich aber hab dieses Erbe nicht angetreten, weil ich kein Unternehmer sein wollte. So bin ich denn Sollizitator geworden. Meine kleinen Ersparnisse wende ich für die Ergänzung meiner Bücher und Stiche auf. Jawohl, es wird mir eine Ehre sein, meine Herren ... Wie Sie mich hier sehn, mach ich auch heute noch Dienst. In der Kanzlei von Doktor Ludwig Jellinek. Sie werden den Namen kennen. Eine hochrenommierte Kanzlei, Hof- und Gerichtsadvokat ...«

Der alte Mann hatte den Faden verloren und begann Unverständliches zu stammeln. Dennoch unterbrach ihn niemand. Das weißleuchtende Haupt übte eine bannende Wirkung.

Unter den unzähligen Spielarten der geistigen Natur durfte auch diese Absonderlichkeit nicht fehlen: Der Ästhet der Revolution. Nowak versenkte sich nicht in die großen Inhalte der Befreiung, sondern berauschte sich einzig und allein an ihrer Geste. Wahrlich, er hatte nicht gelogen. Sein Name als notorischer Ruhestörer war polizeibekannt. Doch nicht die Forderungen des allgemeinen Wahlrechtes oder des Achtstundentages hatten ihn jeweils auf die Beine gebracht. Nein, wenn sich die Massen auf der Straße zusammenrotteten und ihr todbringendes Sturmgeheul zum Himmel schäumte, wenn harte Fäuste das Pflaster aufrissen und die Fensterscheiben einer ganzen Häuserzeile zur Erde klirrten, wenn der tobende Keil eine dreifache Kette von Polizisten durchstieß, dann durchglühte eine besinnungslose Wonne Nowaks Brust. Es war die absolute Wonne des Aufruhrs, wie es einst, ehe die Mordmaschinen sich allzu sehr vervollkommnet hatten, eine absolute Wonne des Krieges gab. Was die Bildersammlung des Alten betrifft, von der er immer wieder erzählte, so war sie künstlerisch vollkommen wertlos. Für ihn umschloß sie aber die Erinnerungstrümmer seines höchsten Lebensrausches. Weiß, der für derartige Sonderlinge stets ein großes Interesse zeigte, kannte Nowaks Schatz. Er schilderte später einmal lachend die armseligen und phantastisch gepflasterten Wände, wo neben zeitgenössischen Stichen der Französischen Revolution vergilbte Ausschnitte aus illustrierten Zeitungen hingen, wenn auf ihnen nur ein Zug von Streikenden oder ein Straßenkampf abgebildet war.

Jetzt aber, im Angesicht grenzenlos verlockender Sturmtage, faltete der siebzigjährige Sollizitator der Rechtsanwaltskanzlei Doktor Jellineks seine Hände wie ein kleines Kind und bettelte:

»Meine Herren! Wir müssen auf die Straße! Tun Sie mir den Gefallen!«

Hier zerschnitt Elkan das Zwischenspiel. Er drängte den Matrosen in den Vordergrund:

»Genossen! Ich stelle euch hier den Genossen Gruppe von der deutschen Kriegsmarine in Kiel vor. Er hat euch ein Wort zu sagen.«

Gruppe war ein schwerer Mann mit einem hellen und braven Gesicht. Er glich eher einem jüngeren Hausvater oder Kaufmann, der in einer ziegelroten norddeutschen Kleinstadt Zigarren verkauft, als einem aufrührerischen Seesoldaten. Wenn seine Rede auch von sichtlich eingelernter und abgeleierter Art war, so staunte Ferdinand doch, wie lebensecht und wahrhaftig die kurzangebundene Stimme des Mannes klang. Nicht einmal die reichlich gebrauchte Mitvergangenheit, die für das Ohr des Österreichers immer eine geschraubte Komik hat, konnte ihr die Echtheit rauben:

»Ich bringe dem Wiener Proletariat«, begann er, »den Gruß der Kieler Matrosenrevolution. Der Soldatenrat der deutschen Kriegsflotte entsandte mich hierher. Auch über Wien muß die rote Flagge wehen, denn Wien wird zum großen Vaterland des befreiten deutschen Proletariats gehören ...«

Ganz anders als Elkan sprach Gruppe das Wort »Proletariat« aus. Er gehörte dazu. Von dieser Rechtmäßigkeit strömte kraftvolle Ruhe aus, die zu der ewigen Erregtheit von Elkan oder Weiß im scharfen Gegensatz stand. Ferdinand selbst hatte es immer vermieden, vom Proletariat zu reden. Es wäre ihm wie eine ungehörige Anmaßung und Zudringlichkeit vorgekommen. Gruppe durfte es. Er schilderte jetzt im einzelnen kurz, im ganzen weitschweifig das Leiden der Seesoldaten während des Krieges und die Entstehung der Revolte. »Bergwerk« nannte er den Bauch der Linienschiffe, wo er und die anderen Galeerensklaven vier Jahre lang in luftloser eisengrauer Hitze geschmachtet hatten. Er flocht in seine Erzählung allerlei Namen, die hierzulande ganz unbekannt waren und deren Charakter er nicht näher bezeichnete:

»Hipper gab den Befehl zur Ausfahrt nach Schillingreede ... Das war unser Zeichen ... Die Heizer von der Kurfürstklasse rissen das Feuer aus den Kesseln ... Podolskie und Torpedoheizer Artelt griffen durch ... Auch das dritte Geschwader hißte rot ... Brandts Urlaubsverweigerung machte die Sache glatt ... Die Wik schloß sich an ... Da schickte uns die S. P. D. Gustav Noske ... Das ist jetzt die Gefahr ...«

Als Elkan sah, daß Gruppes kurze Sätze von Ereignissen, die hier niemand kannte, die Versammlung ermüdeten, riß er das Wort an sich. Ferdinand hätte dem Deutschen gerne noch zugehört, aber Elkan rief:

»Genossen! Ich stelle folgenden Antrag: Am zwölften November, in der Stunde des Massenaufmarsches, wenn die Parteien die Errichtung der demokratischen Republik beschließen, dringt die Rote Wehr ins Parlament ein, jagt die Nationalversammlung auseinander, nimmt die Regierung gefangen und verkündet die Diktatur des Proletariats! Ich bitte diesen Antrag ohne Debatte anzunehmen.«

Weiß erschrak und suchte einen Hafen zu erreichen:

»Selbstverständlich stimme ich für jede initiative Tat. Ich bin ja kein Politiker, sondern ein Soldat der Revolution, Genossen! Aber gerade als Soldat trag ich die Verantwortung dafür, daß die Kräfteverteilung richtig bemessen wird und daß keine zwecklosen Opfer fallen. Es sind noch drei Tage bis zum zwölften November. Die Frage, welche Macht auf der Gegenseite steht, muß zuerst gewissenhaft untersucht werden. Ich denke dabei nicht nur an Truppen wie die Neunundvierziger, die den Sozialdemokraten zweifellos ergeben sind, sondern auch an die Offiziersdetachements, an die Militärschulen, an die Leibgarden, an alle jene Kräfte, die der Reaktion sofort zur Verfügung stehn werden, wenn unser Putsch mißlingt. Ich darf weder die Rote Wehr noch die Revolution für ein ungesichertes Unternehmen aufs Spiel setzen.«

Elkan gehörte zu jenen Menschen, die jeder Widerspruch um die Besinnung bringt, selbst wenn er ihnen einleuchtet.

»Ich weise«, schrie er, »die Vorbehalte des Genossen zurück. Sie sind nur ein Rückzugsmanöver. Er versteckt sich hinter dem ›Soldaten der Revolution‹. Alte Sache! Kennen wir! Die Frage muß gar nicht erst untersucht werden. Wir haben einen riesigen Vorsprung, den uns niemand abkaufen kann, auch die Sozialdemokraten mit ihren Neunundvierzigern nicht. Am zwölften November wird uns kein Mensch entgegentreten, außer vielleicht die Parlamentswache, also Garderobenweiber und Logenschließer ...«

Eine Karbidlampe wurde auf den Kanzleitisch gestellt. Die dumpfen und starren Gesichter in ihrer Nähe schienen gewonnen zu sein. Andre Gestalten redeten in einer Saalecke auf Weiß ein, der wild mit den Händen fuchtelte. Auch das Licht brachte keine Ordnung in das schattenhafte Bild. Elkan fragte suggestiv:

»Wieviel Maschinengewehre haben wir?«

Wimpel meldete:

»Sechs mit voller Bedienung und Munition.«

Ein Zuversichtlicher schwärmte:

»Wir können auch zehn und zwölf haben. Im Arsenal bekommen wir alles, selbst Geschütze, wenn es nötig ist.«

»Was sagen Sie dazu, Genosse?« wandte sich Elkan an Weiß.

Der Journalist erwiderte den Hieb:

»Das sind für Sie Neuigkeiten, nicht für mich! Es geht aber weniger um Maschinengewehre und Geschütze als um die Macht, die sich auf sie stützt. Am Nachmittag kann vielleicht der Feuerüberfall aufs Parlament gelingen. Was geschieht aber am Abend, wenn eine Division uns belagert? Unsere Armee besteht aus fünf, höchstens sechs Kompagnien, dies zu bedenken ist meine Pflicht. Trotzdem aber erkläre ich, daß ich den Antrag Elkan für meine Person noch nicht ablehne. Ich muß nur alle Möglichkeiten genau prüfen und werde morgen Stellung dazu nehmen. Überschätzen Sie aber bitte unsere militärische Lage nicht!«

»Ich stoße hier immer auf den gleichen Irrtum«, sagte Elkan mit der Miene eines überanstrengten Lehrers. »Die Genossen glauben, daß ihnen die Diktatur kampflos und unblutig in die Hände fallen werde. Ausgeschlossen! Auch den Smolny und das Winterpalais haben wir erst nach verlustreichen Kämpfen erobert ...«

»Und wir haben«, prahlte Weiß, »das Militärkommando heute ohne Blutvergießen besetzt.«

Elkan kniff die Augen ein:

»Das war eine Ihrer besten Komödien, Genosse Weiß.«

Während dieses Wortgefechts hatte sich der alte Nowak zu dem Karbidlicht gesetzt, das eine grelle Gipsmaske über sein Gesicht stülpte. Dennoch war das verklärte Blau seiner Apostelaugen gut zu erkennen. Es gibt einfältige Menschen, denen oft ein Zug verbohrt-begeisterten Gelehrtentums anhaftet. Einer von diesen Leuten schien Nowak zu sein. Er erhob bescheiden seine angenehme Stimme, leise, als schäme er sich, einen Herzenswunsch preiszugeben:

»Meine Herren Genossen, halten Sie Frieden! Wenn man so lange gewartet hat wie ich, sieht sich das Ganze anders an. Maschinengewehre und Geschütze sind natürlich das Allerwichtigste. Man kann im Volksgarten sehr gut Stellungen ausheben, ich bitte ... Rücken Sie nur aus! Am zwölften oder schon früher. Ich werde im heißesten Kampfgewühle stehn, darauf können Sie sich verlassen. Die rote Fahne hoch! Jawohl ... also ... meine Herren ... ich bitte ...«

Und er säuselte mit einem fast schmerzhaft seligen Lächeln:

»Blut will ich sehn ...«

Am neunten November 1918, einige Tage nach Abschluß des Weltkrieges, sprach der siebzigjährige Johann Nowak, ein lediger Kanzlist, über den sich in ruhigen Zeiten sein Brotgeber niemals beklagen konnte, leise und mit dem deutlichen Ausdruck träumerischer Wollust die Worte:

»Blut will ich sehn ...«

Elkan sah den Alten starr an:

»Der Mann hat recht«, sagte er, »so traurig es ist, ohne Blut läßt sich nichts erreichen.«

»Warum?«

Das war Ferdinands Stimme. Er wunderte sich selbst darüber, daß seine Wut überfloß und zu einem Worte wurde.

Um den Ausbruch eines so zurückhaltenden und schweigsamen Wesens zu verstehn, muß man tiefer in die Innerlichkeit dieses Augenblicks eindringen. Vor allem: Der Ruf nach Blut gab nur ein Stichwort ab. Weit entfernt war Ferdinand von irgendwelchen humanen Gedanken. Er selbst hätte jetzt einen Menschen in diesem Raum töten können. Der Mensch war Elkan. Ein Fremder hatte sich zum Führer aufgeworfen. Was ging Elkan Wien an, was das Proletariat? Weiß und er, beide Österreicher, beide Kriegsoffiziere, fühlten sich unbehaglich in der Rolle, die ihnen das Schicksal zugeteilt hatte. Elkan nicht! Aber hinter dieser schwer faßbaren Unverfrorenheit lag im Wesen des Russen noch eine verborgenere Schicht, die Ferdinands Haß grenzenlos aufwühlte: Elkans Hochmut und seine Ichbesessenheit. Sicher glaubte auch er an die Revolution. Aber sein Glaube konnte mit dem Glauben Ferdinands nichts gemein haben, um den er in schlaflosen Nächten schmerzhaft kämpfte. Elkan war der schwarze Brennpunkt einer ziellosen Wiedervergeltung, die weder mit dem Kriege noch mit dem Proletariat zusammenhing. Aus dieser Unabhängigkeit gerade strömte seine Hoffart, die sich unerträglich in jedem Worte überhob. Nur ein besinnungsloser Rächer konnte seiner todbringenden Sache so gewiß sein. Ferdinand spürte den Erzfeind in allen Nervenenden:

»Warum?« wiederholte er noch einmal.

Elkans Augen schienen ihn noch gar nicht bemerkt zu haben. Er entgegnete ruhig, ohne sich nach dem Frager hinzuwenden:

»Damit die nötige Erregung in die Masse getragen wird ...«

»Und wozu soll das geschehn?«

Elkan, der das Pulver roch, fuhr herum:

»Wozu? Damit am zwölften November die Arbeiter zu uns übergehn!«

Ferdinand überlegte gar nicht, was er sagte. Er war nur von dem kochenden Wunsch besessen, Elkan zu reizen.

»Warum sollen denn eigentlich die Arbeiter zu Ihnen übergehn?«

Elkan wiegte sich gelassen in den Hüften:

»Der Genosse will mit mir ein Examen anstellen, wie?«

»Ich will wissen, warum Blut fließen soll«, brüllte Ferdinand auf und machte Miene, sich auf Elkan zu stürzen, »ich will wissen, warum ...«

Gruppe hielt den Rasenden fest.

»Der wildgewordene Kleinbürger«, höhnte Elkan, als stelle er eine ärztliche Diagnose.

Ferdinand beruhigte sich langsam und schüttelte die Arme ab, die ihn hielten. Seine Stimme hatte unwiderstehliche Kraft und erzeugte rings die lautloseste Stille:

»Die Revolution soll die bestialische Schlächterei beenden ... So hab ich sie aufgefaßt ... Ich denk nicht gern an den Krieg und an all das, was man dort erlebt hat ... Aber ich dulde es nicht, daß alte Idioten und feige ahnungslose Hunde von Blut reden ... Ahnungslose Schufte, die keine Granate von einem Schrapnell unterscheiden können, haben nicht von Blut zu reden!! Ich dulde es nicht!!«

Und ehe noch ein Atemzug die Stille unterbrochen hatte, stürzte er aus der Kanzlei und schmiß die Tür hinter sich zu.

In Ronalds Dienstzimmer lag er dann auf dem Strohsack. Wie dicker Nebel wölbte sich der Kasernengeruch über ihn, jener durchdringende Geruch von warmer Brotschmolle, von kaltem Pfeifenrauch, Schweiß, Lederzeug, Schmieröl und Wasserdunst, den er schon seit der Kindheit kannte. Das gewaltige Klopfen seines Herzens kam ihm von allen Seiten entgegen. Ihm war es, als sei er der Mittelpunkt eines ausgedehnten Bauplatzes, wo viele Zimmerleute und Steinmetzen im unerbittlichen Takte hämmern.

Nach einer Viertelstunde erschien Weiß grimmig und niedergeschlagen:

»Dein Benehmen war trottelhaft unpolitisch. Hast du denn meine dilatorischen Absichten nicht bemerkt? Jetzt ist alles verpatzt. Elkan hat dich zum Gegenrevolutionär verdonnert und geschworen, daß man mit dir in Rußland kurzen Prozeß machen würde. Du kannst dir selber ausrechnen, daß sie dich aus dem Militärkomitee gestrichen haben ...«

»Das ist mir äußerst angenehm.«

»Mir aber ist dafür äußerst unangenehm, daß Elkans Antrag angenommen wurde ...«

»Dann mußt du deine Demission als Kommandant der Roten Wehr geben!«

»Danke sehr! Aber meine Verantwortung vor der Geschichte?«

Auf einmal war aus der »Geschichte«, an die er so viel Spott verschwendet hatte, eine höchst wirkliche und feierliche Dame geworden:

»Es bietet sich vielleicht die letzte Gelegenheit, ein großes Ziel zu erreichen. Ist es da nicht meine Pflicht, alle bürgerlichen Hemmungen in mir zu überwinden? Hast du eine Ahnung? Du bist halt doch nur ein glücklicher Outsider. In deiner Haut möcht ich stecken. Aber ich, ich, auf dem alles liegt? Wie zwischen zwei Mühlsteinen werd ich zerrieben.«

Er legte seine Hand auf eine Fensterscheibe. Aber da in dieser Kaserne alles verwüstet und zerbrochen war, klirrte ein Stück des gesprungenen Glases nieder. Weiß sah erschrocken drein. Eine öde Erschlaffung löste Ferdinands Glieder:

»Tu, was du willst! Alles ist gleich schrecklich.«

Weiß knipste eine kleine Taschenlaterne an und raschelte mit einem Stück Papier:

»Zu allen andern Schikanen hab ich heut noch einen Brief bekommen ...«

Und er vollendete unwillig:

»Einen Brief von meiner Alten!«

Hier muß rasch eingeschaltet werden, daß Ronald Weiß im vorigen Jahr seinen Vater verloren hatte, der an der Angst und dem Gram zugrunde gegangen war, seinen zweitältesten Sohn in Todesgefahr zu wissen, nachdem der älteste sein Leben in Serbien gelassen hatte. Ronald sprach niemals von seiner Familie. Aber Ferdinand wußte noch von der Freiwilligenschule her, daß er mit wehleidig tiefer Liebe an ihr hing. Das sei bei Juden immer so, behaupteten die Leute. Im Fall Engländer allerdings schlug die Liebe in ihr Gegenteil um. Weiß hatte einmal, was ihn offenbar Selbstverleugnung kosten mußte, im Säulensaal die Ansicht ausgesprochen, daß ein Buch, in dem das Wort »Mutter« in sentimentaler Betonung vorkomme, schon deswegen Kitsch sei. Dieses Wort habe keine Berechtigung mehr, seitdem es die Kriegsschmierer allen sterbenden Soldaten in den Mund legten. Ferdinand lernte damals an Weiß die besondere Eigenschaft kennen, durch welche sich die Literaten von den übrigen Menschen unterscheiden. Sie schöpfen ihre Anschauungen nicht etwa aus ihrem Sein und ihren Erlebnissen, sondern aus einem überfeinerten Gefühl für die Abgenütztheit der Worte. Die Entstehung neuer Begriffe scheint keine tiefere Ursache zu haben als die Angst, sich durch Verwendung von abgebrauchten Begriffen zu kompromittieren. Ihrem eigenen Gefühlswesen zu widersprechen hielten Leute wie Weiß für eine geringere Schande als das Steckenbleiben in einem gestrigen Tonfall.

Ronalds Taschenlaterne erhellte noch immer einen kreisrunden Fleck des Briefes.

Ferdinand las:

»Du sollst, mein liebes Kind, ein Führer sein, aber kein Anführer.«

Weiß konnte trotz seiner inneren Zerrissenheit den Sohnesstolz nicht ganz unterdrücken:

»Hat die Alte das nicht gut formuliert? Wie? Was?«

   

Es ging schon auf elf Uhr nachts. Dennoch war Ferdinands Wirtin – eine gute Seele sonst – nicht schlafen gegangen. Sie paßte frierend und furchtgeschüttelt ihren Mieter vor der Haustür ab. Kaum vermochte er dem aufgeregten Bericht folgendes zu entnehmen.

Am Nachmittag war Gebhart fortgegangen, nachdem er der Hausfrau erklärt hatte, er sei unruhig und könne länger nicht allein bleiben.

»Ich hab aufgeatmet«, stöhnte sie, »denn mir ist vor dem Herrn Doktor schon angst und bang gewesen.«

Zu ihrem Entsetzen aber kehrte Gebhart nach zwei Stunden wieder, und zwar nicht allein, sondern mit einem andern Herrn:

»Herr, das kann man ja gar nicht sagen! Oh, Herr Leutnant, es ist sicher ein Mörder, dieser Herr ...« Doktor Gebhart habe von ihr verlangt, erzählte sie zähneklappernd weiter, daß sie den neuen Herrn anstatt seiner im Zimmer des Herrn Leutnant beherberge. Er selber müsse noch heute abend fortfahren. Sie weinte:

»Ich hab nicht gewagt, nein zu sagen, ich hab nicht gewagt, um Hilfe zu rufen. Und jetzt liegt der schreckliche Mensch drinnen auf dem Sofa, und ich steh heraußen und weiß nicht, was ich tun soll. Nur Ihretwegen, Herr Leutnant, hab ich nicht die Polizei geholt.«

Der Mann, der auf Ferdinands Diwan lag, entsprach keineswegs dieser furchterfüllten Schilderung. Es war ein sommersprossiger Bursche mit einem eckigen Gesicht, dem man viele Entbehrungen ansah. Da er sich nach Art der Soldaten völlig in die Decke eingewickelt hatte, konnte Ferdinand nicht erkennen, was für einen Anzug er trug. Keines seiner Kleidungsstücke, außer den kotig-riesigen Militärstiefeln, die auf dem Boden standen, war zu sehn.

In geläufigem Deutsch, jedoch mit ganz fremdartiger Aussprache, sagte er:

»Ich bin Riardet.«

Das klang so, als halte er es für mehr als selbstverständlich, daß Ferdinand wisse, wer Riardet sei. Und mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie sie unter Verschwörern eben herrscht, stellte er fest:

»Kamerad, ich werde in den nächsten Tagen höchstwahrscheinlich bei Ihnen wohnen ...«

Ferdinand fand nicht die geringste Handhabe, sich gegen den Entschluß Riardets zur Wehr zu setzen. Dieser seinerseits erwartete gar nicht eine förmliche Aufforderung, das Quartier, in das er sich selber eingeladen hatte, auch wirklich zu beziehen. Die »Illegalen« bildeten untereinander eine Brüderschaft. Es war einfach undenkbar, daß ein Revolutionär dem andern die Zuflucht verweigere. Während sich Ferdinand nun auch halbangekleidet zu Bett legte, gab Riardet Auskunft:

»Ich komme von Böhmen herunter ... Aus dem Gefangenenlager von Erfurt bin ich schon zwei Monate fort ... Am Chemin des Dames war ich zu den Deutschen übergegangen ... Das ist aber schon lange her ... Zu Hause haben sie mich und andere Kameraden noch während des ersten Winters aus dem Gefängnis geholt und in die Gräben gesteckt ... Es ist ganz gut abgelaufen  ... Jetzt werde ich vielleicht nach Rußland gehn ... Gebhart kenne ich sehr gut ... Wir waren vor dem Krieg in der Schweiz beisammen ...«

Ferdinand, der von diesem Tage bis an die Grenzen seiner Fassungskraft übersättigt war, hatte keine Lust, den Abenteuern Riardets zu lauschen. Er schwieg so anhaltend, bis auch dem anderen die Erzählungslust versickerte.

»Darf ich auslöschen?« fragte er schließlich, ohne eine Antwort abzuwarten. Kaum aber war es dunkel, erfaßte ihn Verzweiflung, daß er sich der Finsternis ausgeliefert hatte, innerhalb derer die körperliche Gemeinschaft mit seinem Schlafgenossen dick anschwoll. Ja, der starke Atem Riardets, sein Sich-Strecken, Recken, Umherwerfen nahm egoistisch von der ganzen Nacht Besitz und ließ für Ferdinand nur ein kleines beklemmendes Loch übrig, in dem sich ein erwachsener Mensch kaum einrichten konnte. Der raumfressende Schlaf dieses aus einem deutschen Gefangenenlager entflohenen Franzosen hatte ins Zimmer das erdrückende Bewußtsein von Dauermarsch und Verfolgung eingeschleppt. Ferdinand lag steif auf dem Rücken und rührte sich nicht, da er auf dem Fleck, den sein Körper bedeckte, nur mehr geduldet war. Irgendwo standen Riardets gewaltig schwere Kriegerstiefel, an denen ganze Straßen und Äcker klebten. Verfilztes altes Uniformtuch voll Stacheldrahtrissen, Blutflecken, Schweiß und Läusen arbeitete sich stetig durch die Dunkelheit vor. In der Ecke lauerte vielleicht eine Handgranate. Die ganze Nacht roch schon erdig, sumpfig und gefährlich.

Ferdinand versuchte jede Schlafanwandlung abzuwehren. Er mußte wach bleiben, um alle Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Dann aber konnte er nichts mehr dagegen tun, daß er auf einem grundlosen Karrenwege in steppenhafter Gegend vorwärtsstapfte. Es war genau dieselbe galizische Straße seines Morgentraums, aus dem ihn heute früh Wimpels Stimme gerissen hatte. Die beiden Brückenpfeiler dieses Tages ruhten also im gleichen Erdreich. Ist das hier Pluhow, Konjuchi, Hodow, fragte sich Ferdinand, oder ist es Kolkow? Er blickte unruhig nach allen Seiten, um ein Dorf mit ruthenischen Bauernhütten zu entdecken. In der Ferne zeigte sich plötzlich ein Hügel mit einer Kirche. Das ist nicht Kolkow, stellte er befriedigt fest. Prechtl werde ich nicht sehn müssen. Um sein Ziel, die Kirche, zu erreichen, mußte er vorerst durch einen kleinen Wald. Er überlegte: Das Betreten des Waldes ist verboten, denn dort hat mein Feind sein Maschinengewehr aufgestellt. Dieser Feind war Steidler oder Elkan oder auch Riardet, vielleicht aber alle drei in einer Person. Den Beweis für die dreifach personelle Personaleinheit lernt man zwar im Seminar, ich aber hab ihn vergessen, erkannte Ferdinand schuldbewußt. Den Feind selber konnte er nicht erblicken. Doch er sah deutlich den Patronengürtel des Maschinengewehrs am Waldrand, und jetzt, während er gegen seinen Willen weitergehen mußte, jetzt blitzte es dort auf ...

»Halt! Nicht rühren!« schrie Ferdinand und fuhr mit beiden Beinen aus dem Bett.

Zugleich war auch Riardet aufgesprungen, hielt seine Hände hoch und keuchte:

»Nicht schießen ... Nicht schießen ...«

Durch die Tür jedoch drang mit einem mageren Lichtschein das Aufheulen einer Frauenstimme:

»Marandjosef ... Ich hab soviel Angst ausgestanden ...«

Also wimmerte die Wirtin, die von Schreckvorstellungen besessen ins Zimmer ihres Mieters getreten war und die Schläfer mit ihrer Kerze aus bösen Träumen gerissen hatte.

Fassungslos, schweißübergossen, starrten sich die drei Menschenkinder und Zeitgenossen an, ein irrsinniges Trifolium der Angst, welche weit eher die Mutter aller Dinge ist als der Kampf ihr Vater. Nach einigen Verlegenheitsworten kroch jeder, leidlich entspannt, in sein erwärmtes Gehäuse.

Ehe Ferdinand am Morgen aufstand, hatte sich Riardet, der kühne Anarchist, schon entfernt. Die goldene Uhr fehlte. Sie war das einzige Erbstück, das der Sohn des Obersten von seinem Vater besaß. Er vermutete, daß Gebharts Jugendfreund aus der Schweiz sich keineswegs eines Diebstahls bewußt war, sondern in der Not das Prinzip der »gegenseitigen Hilfe« eigenmächtig in Anspruch genommen hatte. Trotz dieser aufklärenden Annahme litt aber Ferdinand unter dem Verluste der Uhr schwer. Eines der wenigen Dinge, an denen er wirklich hing. Das Monogramm des Vaters war in den Deckel eingraviert. In seiner Kindheit hatte ein zartes verborgenes Spielwerk dieser Uhr ihm oft ins Ohr geläutet.

»Da läßt sich halt nichts machen«, sagte Ferdinand nach mehrmals vergeblichem Suchen. Dann steckte er die Brieftasche ein.

Der Rest seines Geldes war unberührt geblieben.


 << zurück weiter >>